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Neudenken:
Grenzen der Erkenntnis
1 Keiner kann zum Erleben der Wirklichkeit [a] gelangen, der nicht bewusst an die Grenzen der Erkenntnis des gegenwärtigen Bewusstseins herangetreten ist. In diesem Bewusstsein finden wir uns losgerissen von der Welt. Jedes Streben nach Erkenntnis ist ein Zeugnis dafür, dass wir uns nicht in einer wahren Wirklichkeit befinden; daher der Antrieb, zur wahren Wirklichkeit, von der wir losgerissen sind, zu gelangen. Die Grenze unserer Erkenntnis ist also zugleich die Schwelle der wahren Wirklichkeit, und das kann nur die Schwelle der geistigen Welt sein. In diesem Sinne heisst es im dritten Leitsatz [b]: „Würden diese [Menschen] aufmerksam darauf sein, wie sie sich dieser Grenzen bewusst werden, so würden sie auch in diesem Bewusstsein die Fähigkeiten entdecken, die Grenzen zu überschreiten.”
2 Wir wollen einmal den Versuch unternehmen, schrittweise an diese Grenze heranzutreten. Das kann so geschehen, dass wir uns schrittweise aus unserem gewöhnlichen Bewusstsein zurückziehen. Dies ist im Grunde in irgend einer Form, zumeist völlig unbewusst, bei jeder Erkenntnis der Fall; es ist der Weg der Abstraktion, aber hier gilt es, diesen Weg nicht theoretisch, sondern praktisch zu gehen. Am weitesten Umfang unseres Bewusstseins, aus dem uns das Material für die gewöhnliche Wissenschaft zufliesst, ist die Welt der Sinneswahrnehmung [c]. Wenn wir uns von ihr zurückziehen, das heisst die Sinne vor der Wahrnehmung verschliessen, dann ist diese Welt dadurch noch nicht aus unserem Bewusstsein gelöscht, denn es bleiben uns die inneren Eindrücke, Bilder, Erinnerungen, zusammengefasst: die Vorstellungen der Sinneswelt. Der nächste Schritt besteht darin, dass wir uns auch von der Welt der Vorstellungen zurückziehen, das heisst den [äusseren] Bildern den Zugang zu unserem Bewusstsein verschliessen. Dies ist schon schwerer. Aber auch wenn dieses gelingt, ist die Aussenwelt noch nicht völlig getilgt, denn es bleiben dann immer noch Beziehungen zwischen den Vorstellungen. Man kann diese Beziehungen als Begriffe [d] bezeichnen; sie bilden ebenfalls eine in sich zusammenhängende Welt. Wenn wir auch die Begriffe fallen lassen, dann bleiben noch ebensolche Zusammenhänge der Begriffe, die nun nichts mehr von der Aussenwelt enthalten. Das ist das reine Denken, von dem die „Philosophie der Freiheit” von Rudolf Steiner spricht.[e] Auch das reine Denken zieht sich zuletzt auf einen Punkt zurück, wo nur noch die Möglichkeit oder Fähigkeit des Denkens ist. Es bleibt ein Punkt, wie ein Nichts: Das aber ist das sogenannte absolute „Ich” des klassischen Weltanschauungs-Idealismus [f]. Es ist nicht schwer zu durchschauen, dass von dieser Grenze des Bewusstseins her alle unsere gewöhnliche Erkenntnis ihren Ursprung nimmt.
3 Wenn wir diesen Gang zu der Grenze unseres gewöhnlichen Bewusstseins, der hier nur theoretisch als Abstraktion gezeigt ist, in Wirklichkeit vollziehen, dann pflegen wir einzuschlafen¹, deswegen erleben wir auch die Grenze nicht richtig. Nun ergibt sich aber, dass der Mensch im täglichen Einschlafen die Grenzen der Erkenntnis tatsächlich überschreitet, aber das Bewusstsein verliert. Eine Wissenschaft, [...] die es nur mit Wahrnehmung, Vorstellung und Begriff zu tun hat, steht gleichsam schlafend an den Grenzen der Erkenntnis. Die andere Seite ist aber die, dass, wenn wir uns etwa, um der „äusseren” Wissenschaft zu entfliehen, ins „Ich” versenken wollen, wir ins Nichts geraten würden.
4 Wir sehen, dass etwas ganz anderes geschehen muss [...]: Indem wir darauf aufmerksam werden, wie wir uns dieser Grenze bewusst werden, entdecken wir auch in diesem Bewusstsein die Fähigkeit, die Grenzen zu überschreiten. Wir können nämlich den geschilderten Gang zu den Grenzen der Erkenntnis als Seelenübung unternehmen, entsprechend den Ratschlägen, wie sie Rudolf Steiner an unzähligen Stellen² veröffentlicht hat, z. B. in seinem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?”[g] Dabei handelt es sich aber nicht um ein einmaliges Erfassen, sondern um ein geduldiges Wiederholen³. Es ist das Stehen an der Grenze der Erkenntnis und des Bewusstseins nichts anderes als der Zustand der Meditation [h], die Herstellung der inneren Stille, aber ohne das Einschlafen: die Schwelle der geistigen Welt.
S.18ff
Anmerkungen:
¹ 39/8. ² 1/12; 39/9. ³ 39/6.
S.22
Carl Unger
aus «Aus der Sprache der Bewusstseinsseele»
Unsere Anmerkungen
a] nicht mit Realität zu verwechseln (vgl. »TzN Jän.2004«: Anm.b u. R.Steiner zu Sinneserfahrung u. Denken sowie zum Gehirn als Spiegel)
b] siehe R.Steiner: «Anthroposophische Leitsätze»
c] vgl. Mbl.17a
d] siehe Stichwort Begriff
e] «Philosophie der Freiheit»; S.142
f] vgl. R.Steiner zum Idealismus
g] siehe R.Steiner: «Wie erlangt man ...»
h] siehe Mbl-B.33
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202202.htm