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Merkblatt-
Beilage 1a:
Der heilige Gallus und der Bär
Nach Walahfrid Strabo: de vita Galli, caput XI
S.GALL' PANE PORRIGIT VRSO¹
Elfenbeintafel des Tuotilo um 900 © GNU
Die erste Mahlzeit in der Einsamkeit! Wie anders hatte sie geschmeckt als die Speisen im Kastell am See, obwohl Willimar, der priesterliche Freund, sie ihm gereicht hatte. Lange war es her, daß Gallus Abschied von ihm genommen hatte, um mit Hiltibod in die Wildnis zu gehen, lange, obschon nur ein Tag vergangen war.
Der verlassene Ire war froh, daß der Diakon ihn begleitet hatte, kannte der doch das wilde Waldland, das sich vom Gestade zu den steilen Bergen hin erstreckte. Jetzt schlief der Arme fest. Der Weg war anstrengend gewesen für seine des weiten Wanderns ungewohnten Füße, und furcht-
sam hatte er immer wieder nach Wölfen, Luchsen, Schlangen gespäht, von denen dieses Gebiet bevölkert war - Graues konnte plötzlich heulend aus dem Dickicht brechen, Gelbes auf starken Ästen lauern, Dunkles reglos auf dem Boden liegen und todbringend giftig zubeißen, wenn man unvermutet darauf trat. Hier lag der Levit nun auf der Seite, den schweren Kopf in den Arm gebettet, und atmete in steten Zügen. Träumte er von der kleinen Gemeinde, von der sie hergezogen waren? Von Brot, Salz und Wein?
Gallus lächelte leise. Auch er war müde, doch schlafen mochte er nicht. Endlich, endlich in der Einsamkeit! Sein ganzes Leben bis heute, es schien abgelegt; wie eine einzige, vielfältige Vorbereitung auf diesen Augenblick kam es ihm vor. Vor acht Tagen noch war er verzweifelt gewesen: Columban, der geliebte Abt und Freund, war zusammen mit den übrigen Brüdern ins Reich der Langobarden aufgebrochen. Und er, Gallun, hatte sich außerstande gesehen mitzureisen - ein heftiges Fieber hatte ihn zu Boden geworfen. Streng war die Trennung gewesen; seitdem war ihm, dem in Erin Geweihten, verboten, die Messe zu lesen. Messe feiern als Tun inniger Gemeinschaft, er durfte es nicht mehr!
Gallus seufzte. Zum Priesterfreund ins Kastell war er danach, so gut es eben gegangen war, hinübergerudert, nicht ohne die Fischernetze mitzunehmen. Er liebte die Menschen dieser Gegend, einfache Leute mit mühseligem Tagwerk. Längst waren keine Römer mehr hier; die Alamannen hatten sie alle verdrängt, lange bevor er mit den Brüdern auf des Abtes Geheiß hergezogen war. Schemenhaft lag das alles hinter ihm. Nur das Bild des allein seiner Sendung lebenden Mannes brannte ihm im Herzen. Columba, von Iona² gesegnete Taube, wo magst du weilen ohne den Hahn?³ Sacht erhob sich Gallus. In der Glut vor ihm brieten noch ein paar Fische, die sie im nahen Tobel zu ihrer ersten Mahlzeit gefangen hatten. Wenige Schritte entfernt nur steckte kümmerlich das Kreuz aus Haselruten im Waldboden; daran hing die mitgebrachte Reliquienkapsel, Erinnerungen an Mauritius, den Heerführer, Desiderius, den Kirchenhirten, und Maria, die Mutter. Das sollte von nun an sein Gebetsplatz sein. Er ging hin, stelle sich davor und breitete die Arme aus.⁴ Voll Dankbarkeit und Ruhe begann er zu beten, und bald waren Schlafender, Glut und Fische vergessen.
Auf einmal war Hiltibod hellwach. Wie lange hatte er geschlafen? Er rührte sich nicht, um den ehrwürdigen Vater nicht beim Gebet zu stören. Versunken stand der Mönch in seinem hellen Gewand vor dem Haselkreuz, das er gleich bei seiner Ankunft aufgerichtet hatte. Wie mochte er es denn nur ertragen, so lange reglos mit ausgebreiteten Armen dazustehen? Der Levit blinzelte in die Glut mit den duftenden Fischen. Was hatte ihn eigentlich so aus dem Schlaf gerissen? Da hörte er es wieder: ein furchterregendes Brummen. Und gleich darauf sah er einen großen, braunen Bären zwischen den Bäumen auf sich zu trotten. Das Tier hatte es nicht eilig. Behäbig betrat es die kleine Lichtung, auf der die beiden Gottesleute ihr erstes Lager errichtet hatten. Die Schnauze witterte zur Feuerstelle. Kaum zu atmen wagte Hiltibod. Das mächtige Tier tappte zur glimmenden Holzkohle und fing ruhig an, das Übriggebliebene zu fressen. Um Gottes willen, warum unternahm der liebe Vater nichts? Und doch hätte der Diakon ihn nicht einmal dann aus dem Gebet gerufen, wenn das Ungetüm seine Nase geleckt hätte. Unterdessen hatte es bereits den ersten Fisch verzehrt und machte sich unbeschwert scharrend an den zweiten.
Da wandte sich Gallus um. Er senkte die Arme ein wenig und blickte den Bären offen an. Die weiße, hagere Gestalt vor solch brauner Masse kam Hiltibod beinahe durchscheinend vor. Was würde nun geschehen? Plötzlich erklang die Stimme des Iren, und dem Alamannen schwand jegliche Furcht. „Wildtier”, redete Gallus den Pelzbruder an, „im Namen unseres Herrn Jesus Christus befehle ich dir: nimm Holz und bring es zum Feuer!” Sogleich machte der Bär kehrt ins Gehölz und brachte einen gewaltigen Prügel herbei, den er ins Feuer legte. Der Mann Gottes lobte ihn und reichte ihm zum Dank ein Stück von dem Brot, das die Iren stets mitführten, um jederzeit Bedürftige speisen zu können. Danach gebot er ihm: „Im Namen meines Herrn Jesus Christus, weiche aus diesem Tal! Es seien dir die Berge und Höhen überlassen, hier aber schade fürderhin weder dem Vieh noch den Menschen!”
Voll Staunen sah Hiltibod, daß das Tier behutsam den kleinen Brotlaib⁵ ins Maul nahm, wie demütig vor dem Mönch nickend, und bald darauf im Wald verschwand. Auf sprang der Diakon und warf sich auf die Knie, wobei er ausrief: „Jetzt weiß ich, daß der Herr mit dir ist, wenn dir gar die Tiere der Wildnis gehorchen!”
Gallus aber blickte den Bruder, der ihm so tapfer bis hierher gefolgt war, wehmütig lächelnd an und erwiderte: „Hüte dich, dies irgendeinem zu sagen, bevor du die Glorie Gottes schauen wirst!” Und er segnete ihn.
 
cm.jansa
erstmals veröffentlicht in "Info3" Nr.6/1991
Anmerkungen
1) Text auf der berühmten Elfenbeinschnitzerei des Tuotilo von St.Gallen um 890
2) „Taube” (vgl. Mbl-B.43) kann auch als druidischer Weihname begriffen werden; dann wäre „Hahn” der bardische.
3) columba, die reinweisse Taube (ἡ περιστερά) im Gegensatz zu palumba (vgl. Mbl-B.3a), gilt als Attribut des Ἥλιος (Hélios ~ Sonnengott; vgl. Mbl-B.36a), dem der ἡλιοδρόμος (heliodrómos ~ Sonnenläufer, sich auf der Sonnenbahn Bewegender - vgl. E.BOCK in «Könige und Propheten»; S.192f) voraneilt, ein προδρόμος (prodrómos) also, als dessen Attribut der Morgenvogel gallus (Hahn) gilt (vgl. WfGW-Thema vom März 2001). Die Taube war jedoch auch der heilige Vogel (semit. perach Ischtar) verschiedener Fruchtbarkeitsgöttinnen (vgl. Astarte); und von Maria heisst es, sie sei im Tempel „wie eine Taube gehegt” worden (»TzN Dez.2017«).
Der dem Sonnenlogos Χ voraneilende Heliodromos ist der Adler-Mensch Johannes (~ Gott ist gnädig, vgl. Mt.3,11) - der mit Lebenskraft und Weisheit begabte Adler bahnt der Taube den Weg. Die Mi'kwaq-Indianer von Nova Scotia sagen: „Ja, wenn ein Adler um uns fliegt, haben wir Kraft. Er verbindet mit dem Schöpfergeist.” (aus «FH 129»; S.122)
4) crossfigell, die typische Gebetshaltung irischer Mönche (vgl. Mbl.26: Anm.2)
5) paximacium, das irische Glaubensboten stets bei sich trugen, um Hungernde speisen zu können - vgl. Mbl-B.11
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB01a.htm