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Merkblatt-
Beilage 3a:
יונה
Die Taube als heiliger Vogel
Karl König
Tauben am Michaelerplatz in Wien © 2009 by DMGG
I
Überall dort, wo in menschlichen Ansiedlungen ein freier Raum ausgespart bleibt, auf Plätzen und Straßen, in Höfen und Gärten, eröffnet sich das Lebensreich der Haustaube [a]. Sie gurrt und fliegt, schwebt und trippelt auf San Marco in Venedig ebenso wie um die Nelson-Säule am Trafalgar-Square in London, in den Tuilerien von Paris und auf dem Rathausplatz in Wien. Aber auch jeder ehrenwerte Bauernhof hat ein Taubenhaus, und am Markt einer Kleinstadt wie am Platz jedes Dorfes ist sie zu finden.
Das aber ist nicht nur so in Europa, sondern auch in Asien und in Afrika, Amerika, überall wo Menschen leben, die sich in festen Siedlungen zusammengefunden haben. Es gibt die allerverschiedensten Gattungen von Haustauben, und sie scheinen seit vielen Jahrtausenden die Begleiter der Menschheit zu sein. Ihr Dasein ist tief in das mythologische Denken verwurzelt und kann weit in die Uranfänge des menschlichen Werdens zurückverfolgt werden.
Im Alten Testament erscheint die Taube im Zusammenhang mit dem Ende der Sintflut; als die ersten Bergspitzen aus den sinkenden Wassern emporstiegen und der Rabe hin und her geflogen war, entläßt Noah eine Taube; doch sie kommt zurück, «da sie nichts fand, da ihr Fuß ruhen konnte». Und erst sieben Tage später, nachdem eine andere Taube ausgeschickt ward, «kam sie zu ihm zur Abendzeit und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's in ihrem Munde». Trotzdem wartet Noah und läßt nach sieben Tagen eine dritte Taube ausfliegen, die nicht mehr zur Arche zurückkehrt. «Da tat Noah das Dach von dem Kasten und sah, daß der Erdboden trocken war.»[b]
Später erscheint die Taube wieder im Hohen Lied und in den Psalmen. «Siehe meine Freundin, du bist schön, schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.»[c] Und weiter heißt es in Salomos Lied: «Meine Taube in den Felsklüften, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt ist lieblich.» Hier erscheint sie als das innige Symbol jener Weltenseele, die sich als erkennendes Begreifen dem wachen Menschen-Ich zu vermählen beginnt. «Aber eine ist meine Taube, meine Fromme, eine ist ihrer Mutter die Liebste und die Auserwählte ihrer Mutter.» Die Göttin Natura ist hinter solchen Worten zu spüren.
In den Psalmen heißt es: «O hätte ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge und wo bliebe» (55,6); oder «Wenn ihr zwischen den Hürden lagt, so glänzte es wie der Taube Flügel, die wie Silber und Gold schimmern.» Und hier ist es die Erhebung der Seele nach oben, die hinausführt aus der Not und den Kümmernissen dieser Erde.
In den Propheten erscheint die Taube wieder. Bei Jesaja ist zu lesen: «Ich winselte wie ein Kranich und wie eine Schwalbe und girrte wie eine Taube; meine Augen wollten mir brechen: Herr, ich leide Not; lindere mir's!» (38,14) Und Jeremias spricht: «O ihr Einwohner von Moab, verlaßt die Städte, und wohnt in den Felsen und tut wie die Tauben, so da nisten in hohlen Löchern.» Hier erscheint die Taube als Flüchtling, der aus den Städten an die Felsen und Küsten zurückkehrt, von wo sie einst zu den Menschensiedlungen hingezogen war.
In den Religionen des Nahen Ostens war die Taube ein heiliges Tier. Die Göttin Ishtar in Babylon war ihr besonders verbunden und Tauben wurden ihr zum Opfer gebracht. Ebenso waren die Tauben dem Dienst der Astarte geheiligt.[d]
Die Tauben zogen den Wagen der Aphrodite, und Venus Anadyomene wurde durch eine Taube aus einem Ei ausgebrütet. Im Heiligtum des Zeus in Dodona [e], in Nordgriechenland, hausten die Tauben in den geweihten Eichen und verkündeten die Antwort, als heiliges Orakel, auf die Fragen der Gläubigen.
In der phönizischen Sprache wird das gleiche Wort für Taube und Priester verwendet; in der hebräischen Sprache ist das Wort für Taube identisch mit dem arabischen Wort für Priester. Und wenn Herodot erzählt, daß einst Phoenizier eine Priesterin von Theben nach Dodona brachten, so können es Tauben sowohl als Priesterinnen sein, die er damit meinte; denn die Wortbezeichnung ist identisch.
So wurden die Priesterinnen zu Ephesus auch Bienen genannt und die Bienen als heilige Tiere verehrt.
Auch ist bekannt, daß in den Adonisfesten die Tauben zu Ehren des Gottes verbrannt wurden, und daß Aeneas von Tauben zum Goldenen Zweig geleitet wurde.
Aus allen diesen Andeutungen ist zu ersehen, daß das Geschlecht der Haustauben die Menschheit auf ihren Wanderwegen begleitet hat, daß sie den Menschen im Zusammenhang mit ihren Opferdiensten heilig war und nicht nur ihren Häusern, sondern auch den Tempeln und Mysterienstätten zugehörten.
II
Alle Haustauben stammen von einer einzigen Taubenart ab, der Felsentaube, Columbia livia. Sie unterscheidet sich von allen übrigen Taubenarten durch ihre Lebensweise; denn alle Wildtauben haben ihr Revier in den Wäldern und ihre Wohnplätze sind die Bäume und ihre Lebensräume erstrecken sich über die gesamte Erde, sofern es bewaldete und baumbestandene Gegenden sind. Im hohen und im höchsten Norden, wo es Tundren und Steppen gibt, sind keine Tauben zu finden. Auch jenseits der Baumgrenze im Gebirge sind sie nicht mehr anzutreffen. Überall sonst auf Erden aber sind sie zu Hause. Mehr als 500 verschiedene Arten sind bekannt.
Die Felsentaube allein bedarf des Waldes nicht. Sie lebt auf den Klippen und Felsen, in verfallenen Gebäuden, so wie der Prophet es von ihr sagt. In Europa ist ihr Verbreitungsgebiet auf einigen Britischen Inseln zu finden. So ist sie in der Grafschaft Donegal in Irland besonders zahlreich vertreten, bewohnt die ganze Westküste von Schottland, die Hebriden, Orkney- und Shetlandinseln, die Färöer und das kleine Felseneiland Rennesö bei Stavanger in Norwegen.
Sie lebt in allen Felsen und Klippen um das Mittelländische Meer herum; in Griechenland, Spanien und Italien, Frankreich und Nordafrika; sie ist in Palästina und Syrien zu Hause, bewohnt ganz Kleinasien und Persien und reicht bis nach Indien ins Gebiet des Himalaja. Überblickt man dieses Verteilungsgebiet der Felsentaube, dann erscheint es, als würde dieser Vogel die Wanderwege der Menschheit besetzt halten. Von Indien über Persien nach Kleinasien und dann entlang der mittelländischen Küste, überall sind die Felsentauben zu finden. So zogen auch im Schritt der Jahrtausende die nachatlantischen Kulturen [f] von Osten nach Westen. Diese Felsentauben, die hier angetroffen werden, sind aber sehr oft Haustauben, die sich aus den menschlichen Ansiedlungen zurückgezogen haben und ihr mehr freiheitliches Leben wieder aufnahmen. Im «Brehm» heißt es: «In Ägypten sah ich sie an Felswänden, namentlich in der Nähe der Stromschnellen. In Indien gehört sie zu den gemeinsten und häufigsten Vögeln, brütet ebenfalls in Höhlen und Nischen der Felsen und Klippen, womöglich in der Nähe des Wassers. Hier, wie in Ägypten, lebt sie in einem halbwilden Zustand und bewohnt alle alten ruhigen Gebäude, Stadtmauern, Pagoden, Felsentempel und ähnliche Baulichkeiten.»
Aus dieser Beschreibung wird es ansichtig, daß zwischen der Felsen- und der Haustaube fließende Übergänge bestehen und daß die domestizierten Vögel leicht wieder in ihren wilden oder halbwilden Zustand übergehen können. Jedenfalls liegt die Teilung der gesamten Taubenheit nicht zwischen Wildtauben und Haustauben, sondern zwischen den in Wäldern lebenden und den auf Felsen und dann in menschlichen Siedlungen ansässigen Tieren.
Nun hat Rudolf Steiner des öfteren darauf hingewiesen, daß die nach dem Untergang der Atlantis [f] gegen Osten ziehende Menschheit in zwei großen Wanderzügen Europa und Asien durchquerte. Daraus aber wurden dann später, in den Zeiten der urpersischen Zivilisation, zwei voneinander verschiedene, weit ausgebreitete Völkerschaften: die Iranier mehr im Süden, die Turanier mehr im Norden. «So entstand der große, der wichtige Gegensatz, der vielleicht zu dem Allerwichtigsten der nachtatlantischen Entwickelung gehört: der Gegensatz zwischen diesen mehr nördlichen Völkern und den iranischen Völkern. Bei den Iraniern entwickelte sich die Sehnsucht, einzugreifen in das Geschehen rings um sie herum, seßhaft zu werden, was man als Mensch und als Menschheit hat, durch Arbeit sich zu erringen, d.h. also wirklich durch die menschlichen Geisteskräfte die Natur umzugestalten. Das war gerade in diesem Winkel der größte Drang der Menschen. Und unmittelbar daran stieß nach dem Norden jenes Volk, das hineinschaute in die geistige Welt, das sozusagen auf ‹du und du› war mit den geistigen Wesenheiten, das aber nicht gern arbeitete, das nicht seßhaft war und gar kein Interesse daran hatte, die Kulturarbeit in der physischen Welt vorwärtszubringen.»¹ Hier liegt ein ähnlicher Gegensatz vor, wie der für das Taubengeschlecht beschriebene. Die wilden Waldtauben sind wie die «Turanier» und die Felsentauben, die dann zu den Haustauben werden, wie die «Iranier». Wenn wir dazu an Noahs Aussendung der drei Tauben am Ende der Sintflutzeit denken, dann steht wie im Bild der Beginn der Menschheitswanderungen nach Osten vor uns; die Differenzierung in die nördliche und südliche Gruppe ist in der Trennung der beiden Hauptgruppen der Tauben gleichfalls vorhanden. Ja, es ist wohl anzunehmen, daß die Waldtauben die turanische, die Felsentaube die iranische Menschheit auf ihrer Wanderung von Osten nach dem Westen begleitet haben. Dabei wurde die Felsentaube gezähmt, wurde zur Haustaube und siedelte sich bei den seßhaft gewordenen Iraniern in den heiligen und profanen Bezirken ihrer Niederlassungen an. Innig ist so das Geschlecht der Tauben mit der menschlichen Existenz verknüpft.
III
Der Seßhaftigkeit der Iranier hat in den sie begleitenden und mit ihnen zusammen lebenden Haustauben eine besondere Eigenart erweckt: die Fähigkeit, den gewohnten Lebensraum auch über Hunderte von Meilen hinweg wiederzufinden. Vielen Vögeln ist diese Fähigkeit zu eigen, aber nur dann, wenn sie ihre langen jährlichen Wanderzüge durchführen. Die Taube aber kann das, mit wenig Dressur, durch alle Jahreszeiten hindurch tun. So kam es seit alters her zur Einrichtung der Taubenpost, die schon in Ägypten bekannt war. Bei der Thronbesteigung Ramses III. wurde durch Tauben die Nachricht an alle Teile Ägyptens übermittelt. Belagerte Städte verwendeten die Taubenboten, um mit der Umwelt in Verbindung zu treten, bis erst am Anfang dieses Jahrhunderts die drahtlose Telegraphie diese Botenflüge antiquiert erscheinen ließ. Aber noch während der Belagerung von Paris im Kriege von 1870/71 wurden Tausende von Nachrichten durch Tauben von und nach Paris gebracht.
Die Übermittlung von Botschaften durch eine Art von Heimatsinn, der so tief in den Tauben verankert ist, daß sie über weiteste Strecken hinweg bei Nacht und durch Gebiete, die ihnen völlig unbekannt sind, den Weg zurückfinden, ist eine sehr markante Eigenschaft. Damit hängt auch ihr friedfertiges Wesen zusammen, ihre Sanftheit und der oft erwähnte Familiensinn. Es ist schwer zu sagen, da die Beobachtungen nicht eindeutig genug sind, ob es wirklich so ist, daß ein Taubenpaar unzertrennlich Jahr für Jahr in Gemeinschaft zusammenbleibt.
Eines aber ist sicher: Daß unter allen Vögeln die Gruppen der Tauben eine Fähigkeit haben, die nur ihnen allein zukommt. Sie füttern ihre Jungen mit einem milchartigen Saft, den ihr Körper ihnen zubereitet; ähnlich also, wie die meisten Säugetiere und vor allem auch der Mensch, die ihre Neugeborenen mit der eigenen Substanz, der Milch, zunächst aufziehen. Nur ist es bei den Tauben nicht die Mutter allein, die diese Substanz bildet, sondern beide Eltern; die Täubin sowohl als der Täuberich produzieren diesen Milchsaft. Kein anderer Vogel hat diese Fähigkeit verliehen bekommen.
Manche andere Vögel besitzen das Organ, den sogenannten Kropf, worin die Taubenmilch entsteht; die Tauben allein aber können sie bilden. Dieser Kropf ist eine oft große Erweiterung der Speiseröhre, etwa in der Höhe, wo der Hals in den Brustraum einmündet. Er wird bei anderen Vögeln und auch bei den Tauben dazu verwendet, aufgenommene Nahrung zu speichern, oder auch schon leicht anzudauen.
Bei den Tauben aber beginnt in der Mitte der Brutzeit der Kropf anzuschwellen und sich zu vergrößern. Allmählich werden die Innenlagen der Schleimhaut des Kropfes so dick, daß sie sich abschilfern, und im Hohlraum des Kropfes löst sich diese Zellmasse dann allmählich auf und wird zu einer Art weißlichem Brei, welcher der jungen Brut als Futter gereicht wird. Diese «Milch» ist reich an Fetten und Eiweißstoffen, und für etwa drei Wochen bildet sie die einzige Nahrung der kleinen Tauben; erst nachher werden diese fähig, Sämereien zu sich zu nehmen.
Man könnte nun leicht sagen, daß es sich hier ja gar nicht um eine wirkliche Milch handelt, sondern daß nur der Volksmund diese Kropfsubstanz so bezeichnet hat. Dagegen aber spricht eine sehr gewichtige Tatsache. Die Milch der Säugetiere und des Menschen, die innerhalb der Brustdrüse gebildet wird, hängt sehr eindeutig mit einem in der Gehirnanhangsdrüse, der Hypophyse, erzeugten Hormon zusammen. Dieses, Prolactin genannt,[g] hat die Eigenschaft, die Milchbildung sehr bedeutend anzuregen; so daß eine Zufuhr von Prolactin die Milchdrüse zur Bildung der Milch befähigt. Der gleiche Stoff aber kann auch den Taubenkropf so stimulieren, daß die Taubenmilch sich bildet, und das geschieht derart eindeutug und regelmäßig, daß dieses Verhalten heute zur quantitativen Prüfung von Prolactin verwendet wird; die Bildung der Taubenmilch unter dem Einfluß von Prolactin ist zu einem organischen Test geworden.
Dadurch aber kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Taubenmilch nicht nur der Bezeichnung nach, sondern in Wahrheit mit der Säugetiermilch zur gleichen Substanzgruppe gehört und eben «Milch» ist. Es ist durchaus anzunehmen, daß der enge Familienverband der Tauben, ihr seßhaftes Wesen und ihre Friedfertigkeit mit dieser Milchbildung zusammenhängen. Denn die junge Taube empfängt einen völlig arteigenen Nahrungsstoff, der sie viel stärker in das Gehege des Nestes und der Familie einfügt, als dies bei anderen Vögeln je der Fall ist.
Ein Stück der elterlichen Leibessubstanz wird der jungen Brut durch Wochen hindurch zugeführt und die blutsmäßige Verbindung mit der ganzen Art dadurch zutiefst beeinflußt. Diese Milch ist wie ein lebendiges Band, das durch die Generation hindurch das Gattungswesen der Tauben innigst zusammenhält. Dadurch kann sich auch die Felsentaube so leicht in die Haustaube und diese wieder in die Felsentaube zurück verwandeln.
IV
«Gäste der Götter» wurden die Tauben im Altertum genannt. Sie wählten auch ihre Wohnplätze vor allem an den Tempelbauten und besiedelten die heiligen Bezirke der Mysterien. Wo immer Tempel in Asien, in Europa und in Nordafrika standen, waren sie ständig von Tauben umschwirrt. Die graublaue und grün erstrahlende Felsentaube wurde allmählich zur weißen Tempeltaube, die dann als Opfertier bei den verschiedensten Kulten verwendet wurde. Auch im Neuen Testament wird davon berichtet.
So werden die Tauben nicht nur die Begleiter der Menschen, sondern sie fühlten sich zu den heiligsten Handlungen, die Menschen verrichten können, hingezogen. Sie lassen sich in den Hainen der Mysterien nieder und besiedeln deren Bauten.
Boten waren die Tauben und überbrachten durch weite Gebiete hin, was Menschen einander mitteilen wollten; das aber wurde ihnen nur zugemutet, weil sie nicht nur als Gäste, sondern auch als «Boten der Götter» empfunden wurden. Und wie sie Botschaften von Göttern zu Menschen brachten, so nahmen die Menschen sie für Botendienste untereinander an.
Rudolf Steiner hat einmal über die Aufgabe des gesamten Vogelgeschlechtes im Weltall Mitteilungen gemacht und darauf hingewiesen, daß es der kosmische Beruf der Vögel ist, die Erdenmaterie zu vergeistigen. «Man wird schon sagen können, wenn einmal die Erde am Ende ihres Daseins angekommen ist: diese Erdenmaterie ist vergeistigt worden und das Vogelgeschlecht war da innerhalb der ganzen Ökonomie des Erdendaseins, um die vergeistigte Erdenmaterie in das Geisterland zurückzutragen.»²
Wenn das nun das allgemeine Geschäft der Vögel ist, dann werden wohl die einzelnen Arten die Aufgabe haben, spezielle Formen der Erdensubstanz ins Reich des Geistes hinauf zu verwandeln. Könnte es nicht sein, daß den Tauben hier ein besonderes Amt obliegt? Sie begleiten die Siedlungen der Menschen und nehmen damit Anteil an ihren Gebäuden und Häusern. Sie verbinden sich also mit einer vom Menschen umgebildeten Erdensubstanz. Denn Holz, Steine, Lehm und alles andere zum Bauen verwendete Material ist durch die angewandte Tätigkeit verändert worden. Alle diese Bauten aber sind durchwoben vom menschlichen Wort; um und in den Häusern und Tempeln, den Gräberbauten und den Palästen erklingt die menschliche Sprache und vereinigt sich mit dem Mauerwerk. Und nun werden die Tauben zu jenen Boten, die das Menschenwort in seiner unendlichen vielfältigen Gestalt und Artung, in welcher es in die Materie hineingebannt war, allmählich auflösen, befreien und der Geistsubstanz des Weltalls wieder einverleiben.
Alles was Menschen gesprochen haben, was sie aus ihrem Mund ertönen ließen, Gutes und Böses im Kleid des Wortes, wird dem Weltall durch das Amt der Tauben wieder eingefügt. Der Botendienst ist nur ein irdisches Abbild für die wahre kosmische Aufgabe der Tauben. Wortträger sind sie und dazu werden sie in ihrer Kindheit vorbereitet. Die Milch, die Vater und Mutter ihnen einflößen, bannt sie hinein in dieses zu vollziehende Werk. Denn der Vogelkropf liegt an der gleichen Stelle, an der sich der Kehlkopf des Menschen befindet; nur wird im Kehlkopf das Wort, im Kropf der Tauben aber die Milch gebildet.
Die Milch der Säugetiere hat eine ganz bestimmte Aufgabe; sie macht das Neugeborene fähig, die Knochensubstanz richtig auszubilden; denn die Milch ist nicht nur ein allgemeines Nahrungsmittel, sie ist ganz speziell dazu bereitet, das Skelett stofflich zu gestalten. Das Menschenkind wird dadurch, daß es Milch genießt, zum Erdenbürger; das Mineralgerüst seiner Knochen wird durch die Milch erhärtet und wird zum Fels seiner Existenz.
Die Milch der Tauben hat die Aufgabe, deren Mission im Bereich des Menschenwortes zu verankern. Skelett und Sprache aber sind innig miteinander verbunden; denn nur das Menschengeschlecht, dessen Skelett zum Abbild der ganzen Welt geworden ist, kann sprechen. Sein Haupt ist rund wie der Himmel über ihm; seine Rippen ziehen in ihrer Gestalt die Bahn der Sonne und der Planeten nach; seine Glieder sind gleich Säulen, die von den Erdenkräften durchdrungen werden. Diese Vollkommenheit der Bildung ermöglicht eine Kehlkopf-Gestalt, die zur Wiege des tönenden Wortes werden kann.
Die Milch des Menschen, die in den Brustdrüsen entsteht, gibt das Substanzmaterial, aus welchem die Knochen, die Abbild der ganzen Welt sind, gestaltet werden. Es ist eine Materie, die sich den kosmischen Kräften einfügt und ihnen dient. Dadurch erst kann das tönende Wort im Menschen erklingen.
Die Milch der Tauben, die im Raum des Kehlkopfes, der vom Vogelkropf erfüllt wird, entsteht, verhilft zu der Erlösung des gesprochenen Wortes, das sich mit der von Menschenhand veränderten Materie verbunden hat. Aus dem Grab der Materie befreit die Taube das Wort des Menschen.
Mensch und Taube werden zu Weggenossen, die ihre Schritte gemeinsam ins Erdenland nahmen, um Diener des Wortes zu werden. Deshalb auch ist in manchen Sprachen das Wort für Taube und Priester fast identisch. Deshalb sendet Noah die Taube aus der Arche, um zu prüfen, ob die Erde schon wieder knochenhart geworden ist, damit ein Menschenfuß sie betreten kann. Deshalb ist sie «die Liebste ihrer Mutter, die Auserwählte ihrer Mutter», wie das Hohe Lied von ihr kündet.
V
Es erscheint auch die Taube über dem Haupte des Jesus von Nazareth, als Johannes ihn im Jordan tauft. Darüber sagt Rudolf Steiner: «Während bei einer physischen Verkörperung ein Geistiges herunterkommt aus höheren Welten und sich mit dem Physischen vereinigt, erscheint dasjenige, was in diesem Falle hingeopfert wurde, um den Christus-Geist aufzunehmen, über dem Haupte des Jesus von Nazareth in Form der weißen Taube. Ein Geistiges erscheint, wie es sich loslöst vom Physischen. Und sehr wenig richtig ist es, wenn gesagt wird: das ist bloß allegorisch oder symbolisch gemeint. Es ist eine reale hellseherische geistige Tatsache, die auf dem astralischen Plan wirklich vorhanden ist. So wie eine physische Geburt ein Heranziehen eines Geistigen ist, so war diese Geburt ein Opfer, ein Hingeben. Damit war die Möglichkeit gegeben, daß der Geist, der ‹über den Wassern schwebte›,[h] im Beginne unserer Erdenentwickelung, sich vereinigte mit der dreifachen Hülle des Jesus von Nazareth, und sie so durchkraftete und durchglühte, daß sie bis in das Knochensystem hinein die Herrschaft über den Leib haben konnte.»³
Die Taube erscheint hier als das Ergebnis des Opfers, durch welches der Logos, der «Geist, der über den Wassern schwebte», in einen Menschenleib einziehen konnte. So wird auch hier die Taube zum Helfer des «Wortes». Der Logos durchdringt den Leib bis «in das Knochensystem hinein», bis in die Erdensubstanz, die von der Milch bereitet wurde. An der heiligen Stelle menschheitlichen Werdens, beim Taufakt im Jordan, offenbarte sich das wahre Wesen der Tauben-Gruppenseele.[i] Sie bereitet durch ihr Opfer den Platz, der vom Weltenwort selbst erfüllt werden soll. Bis nun ist sie ein Gast und ein Bote der Götter gewesen; jetzt aber gibt sie diesen Platz auf, denn der Logos selbst übernimmt ihn. Vielleicht war es so, daß einstmals, als die Menschen den Turmbau zu Babel errichteten und ihre Ursprache dem Schicksal der Zersplitterung verfiel,[k] die Tauben sich dazu bereiteten, das zerteilte und zerklüftete Menschen-Wort dorthin zurückzuführen, woher es einst gekommen war. Dann aber kam der Logos selbst in die Erdenwelt und dadurch war zunächst einmal die Aufgabe der Tauben vollendet; ihr Priesteramt erfüllt, ihre Mission vollzogen.
Heute sind sie profan geworden. Die Mysterientempel sind verfallen, und so leben sie auf den offenen Plätzen und Märkten als ein Bild dafür, wie das Wort verschleudert und mißbraucht wird. Sie pflücken noch, wie einstmals, die Worte auf, bewahren sie und fügen sie dem geistigen Weltall wieder ein. Jetzt sind sie zu Boten der Menschen geworden.[l] Wir nennen sie Taube. Die Etymologie bringt dieses Wort nicht, wie es naheliegen könnte, mit taub, stumpf, dumm in Verbindung, sondern erklärt es als Lautmalerei, als Nachahmung des Taubenrufes. Aber wie dem auch sei, die Taube ist heute ein Dummling, weil ihre wahre Natur und Wesenheit nicht mehr erkannt werden kann.
In der Zukunft aber wird ihr Licht wieder erstrahlen und dort zu leuchten beginnen, wo Opfer und dienendes Stellvertreten mehr gilt als der herrschende Schein. Das Wort, das der Weltenrichter spricht: «Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich bekleidet», das ist zur Taubenzeit gesagt. Sie hat ihr Amt, das ein Worte-Amt gewesen ist, an den zurückgegeben, der als Logos in sein Eigen gekommen ist; die Tauben haben ihn aufgenommen.
1. Rudolf Steiner: Das Matthäus-Evangelium, 1. Vortrag. 4. Aufl., Dornach 1959.
2. Vortrag vom 27. Oktober 1923 [in GA 230].
3. Rudolf Steiner: Das Johannes-Evangelium im Verhältnis zu den drei anderen Evangelien, 10. Vortrag. 4. Auflage, Dornach 1959.
aus «Bruder Tier»; S.136ff
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl-B.1a: Anm.2
b] Gen.8,6-13
c] Cac.1,15
d] Ischtar und Astarte sind Muttergottheiten. - siehe auch Krafttier
e] heute die Ruinen von Dhodhoni
f] vgl. Mbl.7
g] Prolaktin (PRL) oder laktotropes Hormon (LTH) bzw. Laktotropin
h] vgl. R.STEINER am 18.VIII.1910 in «GA 122»; S.52ff
i] vgl. R.STEINER in München am 26.VIII.1911/SA (in «GA 129»; S.191f): „Wie konnte man nun diese Einströmung von oben aus dem Weltenraum in ihrer reinsten Gestalt darstellen? Wir wissen, was dazumal bei der Johannestaufe stattgefunden hat (vgl. Jh.1,29-34), daß dazumal der dreigliedrige Leib des Jesus von Nazareth, welcher durch die zwei Jesusknaben vorbereitet worden ist, wie Sie das in dem Büchelchen «Die geistige Führung der Menschen und der Menschheit» finden, verlassen wurde von seinem Ich, welches das Ich des Zarathustra war. Dieses Ich strömte nach oben, und in dieses Ich strömte ein bei seinem Fortgehen der reinste Teil jener Strömung, die schon fortwährend aus dem Weltenraum einströmte, aber nur zu den heute unterbewußten Gliedern des Menschen. Deshalb wird als ein richtiges Symbolum angegeben eine Vogelgestalt, die Gestalt der reinen weißen Taube, die gleichsam den reinsten Extrakt dessen darstellt, was das Adler- oder Cherubhafte der alten Sphinxgestalt war.”
k] Gen.11,1-9
l] „Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Seid also klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.” (Mt.10,16)
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB03a.htm