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Neudenken:
Sprachgenius
1 Die Wortforschung [a] ist - was ihre Kategorien, ihre Betrachtungsnormen betrifft - zu lange im Schlepptau der materialistischen Naturanschauung des neunzehnten Jahrhunderts steckengeblieben. Diese Anschauung ist inzwischen gestorben und verwandelte junge Formen sind auferstanden. Aber gewisse Vertreter der Sprachwissenschaft hüten in zwar rührender, doch etwas bornierter Treue noch immer deren Grab. Glücklicherweise sind das nicht alle Vertreter. Andere wittern die Morgenluft und tasten sich an neue Prinzipien heran. [...]
2 [...] Ein Werdendes, das sich neuen Formen erst zustreckt, wird nie die Exaktheit des schon Gewordenen aufweisen.[b] Seine anfänglichen Schrittmacher werden sich aber auch durch alle Kritik nicht vernichtet fühlen. In erster Linie deshalb nicht, weil sie sich deren Einwände auch selber machen können und weil sie solche für relativ berechtigt halten. Man hat nicht umsonst durch mehr als ein Jahrhundert mit größter Gewissenhaftigkeit gesichtet, gesammelt und ein ungeheures Material zusammengebracht, um endlich zügellosen Phantasien Tür und Tor zu öffnen. Die Schärfe und Klarheit der Kritik, die Gewissenhaftigkeit der Forschung dürfen nicht preisgegeben werden.
3 Aber das alles nimmt doch nicht weg, daß man auch auf sprachlichem Felde sich nicht mehr mit den Faktoren V[ererbung] und U[mgebung] begnügen kann, sondern nach einem der Qualität der menschlichen I[ndividualität] entsprechenden Faktor ausschauen muß. Es wird notwendigerweise ein Faktor größeren Formates sein, vielleicht das, was man den Sprachgenius nennen kann. Mit diesem Genius wird nichts Verschwommenes, Phantastisches gemeint. Er ist der Walter jener Formkräfte, jener sprachlichen Bildkräfte, die in sprachgenetisch völlig verschiedenartige Reihen einbrechen können, so wie die [...] biologischen Bildekräfte in die «Reihen der Lebendigen» eingreifen,[c] um uns dieses Goetheschen Ausdrucks zu bedienen. Er stellt dann ein sprachlich wirksamens Urbild, ein Etymon dar, das über alle Assoziationen, Dissimilationen usw. hinaus wirksam ist,[d] wie sie zweifellos innerhalb verwandter Reihen und Gruppen stattfinden. So wie das russische Wort pr'ed-m'et durch Vorstellungs- bzw. Begriffsübersetzung aus dem Lateinischen ob-jectum entstanden ist, überträgt der Genius der Sprache als schöpferisch wirkende Entität Ideen und Bilder in weit auseinandergelegene Sprachfelder und führt abstammungsmäßig nicht Zusammenhängendes in einem neuen Akt aufeinander zu. Wir gewinnen nichts, verlieren aber viel, wenn wir das dann Nebeneinanderstehende als «zufällig zusammengefügt» betrachten.[e]
4 Auch das Lautlich-Qualitative [f ...] wird von objektiv tätigen Kräften des Sprachgenius getragen. Man sehe in seiner Einführung nur ja nicht einen Rückfall in Gedankengänge, wie sie zu Recht schon in Platons «Kratylos» abgetan sind. Hier haben ganz neue, aus der fortschreitenden [g] Zeit sich anbietende Erkenntnisse Pate gestanden.
Herbert Hahn
aus «Vom Genius Europas 4»; S.91ff
a] Morphologie, ein Teilbereich der Linguistik
b] Im Werden gewinnt ein Phänomen an Klarheit wie eine Teilchenwelle beim Messen an Schärfe.
c] siehe Stichwort Bildekräfte
d] und zwar inspirativ
e] Der „Zufall” wird immer dann bemüht, wenn eine geistige Wirksamkeit und damit Wirklichkeit nicht erkannt werden kann (vgl. «Das Wegkind»; 2.Gegenrede).
f] vgl. »TzN Mär.2025«
g] progressiven, nicht errogressiven (irrschreitenden)
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202502.htm