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Neudenken:
Christusbild
1 Von dem geschichtlichen Jesus [a] und seinem verpflichtenden beispielhaften Leben sprechen, ist nur eine Dimension des Christlichen. Zum Wesen des Christusimpulses aber gehört nicht nur das bedeutsame existentiale Moment des subjektiven Betroffenseins, das in der heutigen Theologie eine so erhebliche Rolle spielt, sondern noch viel mehr. Anthropologisch-tiefenpsychologisch gesehen steht der Christusname für das innerste Wesensgeheimnis des Menschen, für sein eigentliches Ich oder Selbst, dessen wir normalerweise nicht ohne weiteres gewahr werden. Die johanneischen Ich-bin-Worte („Ich bin das Brot des Lebens”; „Ich bin der lebendige Weinstock, ihr seid die Reben” und so weiter)[b], die auf das Wesensgeheimnis Christi hinweisen, lenken unsere Aufmerksamkeit auf dieses innerste, eigentliche Ich des Menschen hin. Und zwar geschieht das im Kontext des Johannesevangeliums so, daß ein innerer Weg und ein geistig-seelischer Wachstumsprozeß des Menschen beschrieben wird (siehe G.Wehr: Analytische Psychologie im Dienste der Bibelauslegung, 1974). Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die kirchliche Verkündigung die göttliche Wahrheit als einen fertigen, in sich abgeschlossenen dogmatischen Bestand von Glaubens- und Bekenntnisgütern behandle. Die Verkündigung der Kirche „macht aus der Gotteserkenntnis, die etwas durch und durch Dynamisches ist, dem der Mensch sich nur dynamisch - nämlich im Prozeß der Selbst-Erfahrung - annähern kann, etwas Statisches: die ein für allemal geschehene Offenbarung. Und diese Offenbarung wird allzu oft von den Kanzeln verkündigt, als habe Christus nur gesagt: 'Ich bin die Wahrheit', während es doch (Johannes 14,6)[c] gerade heißt: 'Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.' Oder als habe Paulus [d] geschrieben: 'Ich habe es ergriffen und bin vollkommen, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin', während es doch heißt (Philipper 3,12): 'Nicht daß ichs schon ergriffen habe oder schon ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin'.” (Helmut Barz: Selbst-Erfahrung, 1973)
2 Dieser Hinweis auf Christus im Zusammenhang des Prozesses der Selbst-Werdung des Menschen ist sowohl von der Anthroposophie [e] als auch von der Analytischen Psychologie [f] her voll gerechtfertigt, ohne daß besondere theologische Bezüge hergestellt werden müßten. Letzteres ist umso weniger erforderlich, als beide Forschungsrichtungen ihre primäre Aufgabe nicht darin sehen, der religiösen Wortverkündigung zu dienen, wiewohl beide hierzu wertvolle Impulse gegeben haben. Anthroposophie und Analytische Psychologie fassen als Erkenntnisweg beziehungsweise als eine auf Bewußtseinserweiterung hinzielende therapeutische Methode den Menschen ins Auge als einen, der einer Reifung fähig ist. Diese Reifung besteht [...] darin, unentwickelte beziehungsweise unbewußte Seelenbezirke zu durchleuchten, zu aktivieren und zu integrieren.
3 Im Gegensatz zu dem rein psychologischen Interesse liegt der Anthoposophie viel daran, daß jener Christus in den Erfahrungsbereich des menschliches Geistes eintritt, der in geschichtlicher Stunde und „in eines Menschen Hülle während dreier Jahre” (Christian Morgenstern) eine historische, zugleich aber auch eine spirituelle und eine irdisch-kosmische Tatsache begründet hat. Jedenfalls handelt es sich nicht um einen geschichtslosen Mythos. Die (Heils-)Tatsache der Inkarnation ist ernstgenommen. Von daher ist die Feststellung des Geistesforschers zu verstehen und in ihrer Bedeutung für die psychotherapeutische Arbeit zu würdigen: „Der Christus ist seit dem Mysterium von Golgatha der Menschenseele erreichbar. Und deren Beziehung zu ihm braucht nicht eine unbestimmte, dunkel-gefühlsmystische zu bleiben; sie kann eine völlig konkrete, menschlich tief und klar zu erlebende werden. Dann aber strömt aus dem Zusammenleben mit Christus in die Menschenseele herüber, was diese wissen soll über ihre eigene übersinnliche Wesenheit... Es wird das Leben dadurch durchchristet werden können, daß in Christus das Wesen empfunden wird, welches der Menschenseele die Anschauung ihrer eigenen Übersinnlichkeit gibt.” (Anthroposophische Leitsätze)[g]
Gerhard Wehr
aus «Auf dem Wege zu einer ... Psychotherapie»; S.130f
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl.25
b] siehe Evangelienkonkordanz
c] Jh.14,6
d] vgl. Mbl.27
e] vgl. Mbl.3
f] die von C.G.Jung begründete tiefenpsychologische Schule
g] aus «GA 26»; S.104
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202004.htm