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Neudenken:
Gott - Mensch
Und ich, ein Mensch, von anderen Menschen abstammend, wegen der Übertretung des göttlichen Gebotes nicht würdig, Mensch genannt zu werden - ich müßte gerecht sein und bin ungerecht, nur bin ich durch seine Gnade, die mich auch erlösen wird, ein Geschöpf Gottes - ich schaute nach Osten. Und plötzlich erblickte ich etwas wie einen ungeheuer breiten und hohen eisenfarbenen Felsblock (lapidem unum totum integrum) und über ihm eine glänzendweiße Wolke. Darauf stand ein runder Königsthron.[a] Auf ihm thronte ein lebendiges Wesen, das von wunderbarer Herrlichkeit leuchtete. Es strahlte von solcher Herrlichkeit, daß ich es nicht genau betrachten konnte. In seiner Brust trug es gleichsam einen schwarzen schmutzigen Lehmklumpen in der Größe des Herzens eines erwachsenen Menschen. Er war von Edelsteinen und Perlen umgeben. Und von dem Leuchtenden, der auf dem Thron saß, ging ein großer goldener Lichtkreis wie Morgenrot aus; seinen Umfang konnte ich gar nicht ermessen. Er kreiste vom Osten über den Norden zum Westen und weiter zum Süden und kehrte so zum Leuchtenden im Osten zurück;[b] und er hatte gar kein Ende. Und dieser Kreis hatte einen so großen Abstand von der Erde, daß ich ihn nicht ermessen konnte; er sandte einen ganz schreckerregenden Glanz aus, nämlich steinfarben, stahlfarbig und feuerrot. Nach allen Seiten erstreckte sich sein Umfang hoch in den Himmel hinauf und hinunter in die Tiefe des Abgrunds, so daß ich seine Grenze nicht erkennen konnte.
Dann sah ich auch, wie aus dem Geheimnis des auf dem Thron Sitzenden ein großer Stern von starkem Glanz und leuchtender Schönheit hervorging, und mit ihm eine große Menge hellstrahlender Funken, die mit diesem Stern zusammen alle nach dem Süden zogen. Den auf dem Thron Sitzenden betrachteten sie als Fremden, wandten sich von ihm ab und schauten lieber unverwandt (inhiabant) zum Norden [c] als daß sie ihn anschauen wollten. Doch sofort beim Abwenden ihres Blickes erloschen alle und wurden so kohlschwarz.
Und plötzlich entstand ein Wirbelwind unter ihnen, der sie alsbald vom Süden zum Norden hinter den Thronenden trieb und sie in den Abgrund [d] stürzte. So konnte ich keinen von ihnen mehr sehen. Den großen Glanz aber, der ihnen genommen wurde, sah ich sofort bei ihrem Erlöschen zu dem Thronenden zurückkehren.
Und ich hörte den auf dem Thron Sitzenden zu mir sagen: ,Schreibe, was du siehst und hörst.' Und ich erwiderte aus der inneren Erkenntnis dieser Schau: ,Ich bitte dich, mein Herr, schenke mir Einsicht, damit ich diese geheimnisvollen Dinge auszudrücken vermag, und verlaß mich nicht, sondern bestärke mich in der Morgenröte deiner (anbrechenden) Gerechtigkeit, in der sich dein Sohn geoffenbart hat. Verleihe mir die Fähigkeit und gib mir zu erkennen, wie ich den göttlichen Plan, der im ewigen Ratschluß gefaßt wurde, verkünden soll, wie dein Sohn nach deinem Willen Fleisch annehmen und ein sterblicher (sub tempore) Mensch werden sollte; du hast ja vor aller Schöpfung ganz einfach und im Feuer der Taube [e], nämlich des Heiligen Geistes, beschlossen, daß dein Sohn am Morgen der Jungfräulichkeit wie eine strahlende Sonne wunderbar aufgehe und um des Menschen willen wirklich mit der Menschheit umkleidet werde und Menschengestalt annehme.'
Hildegard von Bingen
aus «Scivias»; S.308f
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Throne
b] also orthograd (gegen den Uhrzeigersinn)
c] vgl. den Norden als Sitz des Bösen in der jüdisch-christlichen Überlieferung
d] vgl. Abyssos
e] columba, nicht palumba (vgl. Mbl-B.1a: Anm.2)
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201103.htm