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Zitatensammlung
Teil 2
Zitate von Hans Jürgen SCHEURLE zu
MECHANIK, LEBEN und GEHIRN
1a Unlebendige Mechanismen bewegen sich nicht von selbst. Für eine Auffassung, die in Organismen nur mechanismen sieht, liegt es nahe, den passiven Zustand der Muskeln und Sinnesorgane für mechanisch bedingt zu halten. Die wissenschaftlich-materialistische Weltanschauung ["science"] hat den Blick auf rein mechanische Aspekte des Organismus verengt [reduziert]. Die Hand, der Fuß, die Geschlechtsorgane, das Auge, das Ohr usw. werden zu unlebendigen Mechanismen erklärt, deren Eigenleben übersehen wird und deren Empfindungen nur im Gehirn existieren sollen. Diese von Descartes vor mehr als 300 Jahren begründete Anschauung wird in den Neurowissenschaften heute als selbstverständlich angesehen. Der Organismus des Menschen und der höheren Tiere wird zur passiven und „geistlosen” Mechanik ohne Autonomie erklärt, die lediglich durch Kommandos „von oben”, von einem „Geist im Gehirn” bzw. einem neurokybernetisch davon abgeleiteten „Hirnprogramm” gesteuert werden soll.¹³
1b Obwohl es zweifelsohne mechanische Aspekte der Erfolgsorgane gibt, ist doch von vornherein nicht einzusehen, warum Hand, Fuß, Ohr, Auge usw. nur mechanische Apparate sein sollen, die als solche „nicht wissen, was sie zu tun haben ” und deshalb vom Gehirn dirigiert werden müssten. Diese Auffassung verdeckt die Tatsache, dass die Erfolgsorgane eigenaktiv sein können, ebenso wie die Denkmöglichkeit, dass das Gehirn ihre Eigenbewegung zwar bedingen, aber nicht steuern muss.
1c Gestalt und Verhalten des Organismus sind phänomenologische Gegebenheiten, deren Bedeutung und Lebendigkeit erst im Kontext mit der Umwelt einleuchten. Man betrachte das Phänomen der Hand, die sich energisch zur Faust ballt, den Fuß, der sacht mit der Sohle auf dem Boden aufsetzt, die Augen, die wach umher sehen oder auch müde, „erloschen” vor sich hin starren! In jedem Augenblick ist das erlebbare, beobachtbare Verhalten der Sinnes- und Bewegungsorgane ein selbsttätiges und originäres. Eine den Phänomenen des Erlebens mehr entsprechende Auffassung, die der kartesischen diametral entgegensteht, ist von Leibniz vertreten worden, dem bekannten Gegner Descartes', ebenfalls Repräsentant der Aufklärung und des philosophischen Rationalismus. Jedes Organ wird von Leibniz als selbständiger Bereich (sog. Monade) gesehen, der mit anderen Organen (Monaden) in beständiger Wechselwirkung steht.¹⁴ Man muss als Physiologe und Arzt umdenken, will man dem ganzen Leib und den Vollzugsorganen eine gewisse Eigenmächtigkeit zugestehen, anstatt sie als bloß mechanische Ausführungsinstrumente des Gehirns anzusehen. Zielvolles Handeln,[a] Erkennen, Fühlen usw. sind jedoch nicht im Gehirn lokalisiert, sondern vielmehr Eigenschaften des gesamten Leibes. Der ganze Organismus ist lernfähig, „informiert”, „emotional” und „handlungsfähig”. Das Gehirn ist nicht deshalb für den übrigen Leib notwendig, weil dieser von ihm zentralnervöse Informationen erhalten müsste, um die Vollzugsorgane zu steuern, sondern weil es als durch zentrale Schrittgeberfunktionen die periphere Hemmung [b] des Leibes aufhebt.
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¹³ Geistesgeschichtlich und politisch entsteht diese Auffassung in der Renaissance (Leonardo DaVinci, 100 Jahre vor Descartes). Es ist die Zeit, in der zentralisitsche Politsysteme aufkommen, welche das menschliche Individuum der absoluten Herrschaft einer Zentralinstanz unterwerfen. Die absolutistische Regierung steuert eine für unselbständig und passiv angesehene Peripherie [Masse] gleichsam nach mechanischen Regeln. Die politische Praxis, die sich bis in heutige Bürokratien hinein fortsetzt, bestimmt mit dem allgemeinen Denken auch das Denkmodell der neuzeitlichen Hirntheorie.
¹⁴ Nach der Monadenlehre von Leibniz sind z. B. die Finger oder das Auge selbständige Monaden, die eine gewisse Selbständigkeit besitzen, jedoch wiederum von größeren Monaden umfasst werden. So werden z. B. die verschiedenen Zellprozesse von der ganzen Zelle, mehrere Gewebearten vom übergeordneten Organ (Leber, Niere usw.), die Finger von der Hand, die beiden Hände und Augen vom handelnden menschlichen Ich als der jeweils größeren Monade umfasst usw. Sandvoss spricht hier von „einem organologischen Ansatz, in dem der Gegensatz von Körper und Geist einer Unterordnung der niederen unter die höheren Geistmonaden weicht. ” Sandvoss [E.R.: Gottfried Wilhelm Leibniz] 1978, S.99. Man kann bei Leibniz' Monadenvorstellung auch an die Beziehung der Organe denken, wie sie noch immer im Volksmund kursieren: „Meine Füße wollen nicht mehr. Meine Hand tut nicht mehr so recht. Mein Zahn tut mir weh.” Siehe auch Sacks deutscher Buchtitel: „Der Tag, an dem mein Bein fortging!”
S.48ff
2a Der Hauptunterschied zwischen Schrittgeberwirkung und zentralnervöser Steuerung liegt in den Begriffen konditional [bedingend] und kausal [ursächlich]. Schrittgeberfunktionen sind konditional, Steuerfunktionen kausal. Schrittgeber haben eine Auslöserfunktion, welche die Erfolgsorgane aktiviert, indem sie, wie oben beschrieben, die periphere Hemmung aufhebt. Unter Steuerung ist dagegen, technisch gesehen, eine zentrale Ursache zu verstehen, welche eine Wirkung in der Peripherie gleichsam mechanisch erzwingt. ([...] Beim naturwissenschaftlichen Experiment werden die Versuchsbedingungen oft so gestaltet, dass der Wissenschaftler in der Tat den Organismus zu bestimmten festgelegten Reaktionen zwingt.) Von Natur aus sind Lebewesen jedoch keine Mechanismen, sondern reagieren lebendig, variabel und autonom.
2b Entsprechend dem Verhältnis von [natürlichem] Herzschrittmacher[gewebe] und Herzmuskel besteht auch zwischen Gehirn und übrigem Leib eine konditionale, aber keine kausale Beziehung. Allerdings unterliegen die Schrittgeberfunktionen des Gehirns im Unterschied zum Herzreizleitungssystem größeren dynamischen Veränderungen. Beim Herzen bleibt der Rhythmus der Erregungsbildung im Wesentlichen von Anfang bis Ende des Lebens konstant. Die neuronalen Schrittgeber im Gehirn dagegen setzen zwar ursprünglich ebenfalls mit konstanten Entladungsrhythmen ein, sind aber vielfachen plastischen Modulationen durch ständige lebensbedingte Überlagerungen und Wandlungen unterworfen. Neuronale Schrittgeber werden „an- und ausgeschaltet” (fazillitiert und gehemmt), verändern sich durch Anpassungs- und Lernprozesse und umgekehrt auch wiederum durch Deadaptation bzw. „Verlernen”.
S.57f
3a [...] Wenn sich die Neurowissenschaft auf die erwiesenen Schrittgeberfunktionen des Zentralnervensystems beschränkt und somit nicht länger beansprucht, auch das geistige und seelische Leben durch die Hirnfunktionen erklärt zu haben, wird die Frage nach dem gegenwärtigen Bewusstsein und den empirisch nicht nachweisbaren Eigenschaften des Menschen dringlich. Die Phänomene des Erlebens können nun die angemessene Berücksichtigung finden und mit ihnen angemessenen Methoden der Phänomenologie erforscht werden, anstatt als bloße Epiphänomene des Gehirns abgetan zu werden.
3b Gegenwärtiges Erleben, Tun und Lassen, Wollen und Entscheiden bilden den individuellen Freiraum des Menschen, die Conditio Humana. Zu diesem Freiraum gehören auch Risiko und Chancen, die für das menschliche Leben charakteristisch sind und es erst lebenswert machen. Dazu gehört, dass Entscheidungen nicht nur aus rationalen oder logischen Gründen erfolgen, sondern manchmal diesen entgegengesetzt sind. Die Leugnung der Willensfreiheit [c] ist letztlich das Ergebnis einer [ideologisch] rationalistischen und dogmatisch-roboterhaften Auffassung vom Menschen. Die Reduktion des Menschenbildes auf das Mechanische und Automatische schließt jedoch allzu viele Aspekte der menschlichen Existenz aus: Keine Theorie sollte dem menschlichen Individuum das Risiko eigenen Handelns abnehmen oder durch pseudowissenschaftliche Argumente verschleiern wollen.
3c Die Bewahrung erlernter Eigenschaften verdanken wir den neuronalen Strukturen. Sie sind die Basis dafür, dass wir uns auf die Leibesorganisation abstützen können. Die in der Evolution bzw. in der biographischen Vergangenheit erworbenen Funktionen des intrinsischen Gedächtnisses sind durch das Nervensystem verfügbar und machen die Evozierung entsprechender Leistungsvollzüge erklärbar. Was aber weder verfügbar noch erklärbar ist, sind die aktualen Abweichungen vom habituellen Leben und dessen gesicherten Bahnen. Über das Neue und Unbekannte hat die Wissenschaft keine Verfügung, da es noch im Werden,[d] noch in gegenwärtiger Produktion, gleichsam noch in der künstlichen [und künstlerischen] Werkstatt des Geistes ist. Die Befreiung vom Zwang, nur auf den schon eingefahrenen Bahnen weiter zu gehen, ist auch die Befreiung davon, den schon gebahnten Nervenwegen des Gehirns folgen zu müssen. Diese Befreiung ist nicht umsonst zu haben. Der Preis der Freiheit besteht im Lolassen und Unterbrechen, manchmal im Aufgeben von Absicherungen im Leben, im zeitweiligen Verzicht und auch, wie ich glaube, in einer bedingungslosen Hingabe an das Leben in der Gegenwart.
S.120f
aus «Hirnfunktion und Willensfreiheit»
a] siehe Scheurle zu Handeln u. Gehirn
b] siehe Hardtmuth zur Hemmung
c] streng genommen lediglich Denkfreiheit
d] vgl. «E+E»: Abs.47}
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit028050048.htm