Die
zum IMPRESSUM
bietet hier eine poetische Studienhilfe an:
Eamsyne und Earasyn
I
0} (...)
Von Sternen und Farben
1} Und so leicht ist's gar nicht, die Astroglyphen zu lesen, in rechter Weise Leuchtpunkt mit Leuchtpunkt zu verbinden, um die Himmelszeichen zu verstehen, ja das Licht selbst zu befragen. Wenn die Menschen seit der Flut (3) darauf verfielen, Steinkreise, Türme, Fernrohre oder gar Fluggeräte zu bauen, so zeigt das, welche Mühe sie sich gaben und geben, jenem still gewölbten Funkeln Aussagen über Vergangenes und Hinweise auf Zukünftiges zu entlocken. Nicht allein zur Tagesmessung und Richtungsweisung dienten ihnen die Sterne, vielmehr suchten sie in ihnen Begleitung, Führung, Freundschaft.
2} In neuerer Zeit wollen das einige nicht mehr wahrhaben, weil ihre Sinne ihnen keine entsprechende Wahrnehmung vermitteln. Ausschliesslich sinnlich Erforschbares sei wirklich, behaupten sie. Ein Franzose hatte in seiner Machtfülle gemeint, einen Schlussstrich unter hergebrachte Denkweisen ziehen zu können.(4) Die Hochschulen haben dieser obskuren Anmassung allmählich stattgegeben und damit ihre universitas eingebüsst. Längst fühlen sie sich nicht mehr allumfassender Forschung und Lehre verpflichtet, wie das ihr lateinischer Name immer noch behauptet. Über dem physisch Wissbaren ist ihnen die Weisheit abhanden gekommen.(5) Sie haben der Königin die Sterne aus dem Haar gerissen und sie zur Magd gemacht, wo ihr nicht schlimmere Demütigung zugefügt.
3} Allein in ihrer Kammer weint Eamsyne darüber.
4} Von den Sternen war sie gekommen. Weder die Erde mit ihrer verwirrenden, fesselnden Natur, noch das mehr oder weniger zivilisierte Treiben der Menschen darin konnten sie dazu bringen, ihre Herkunft gänzlich zu vergessen, obschon sie starken Anteil an den Umläufen und Umtrieben nahm. Wie üblich, unvorstellbar lang üblich, war sie ins Irdische geboren worden, weil sie die vielfältigen Bestrebungen und Kräfte mitbewegen wollte, welche Mensch und Erde schier unlösbar verknoten. Ob Festes verflüssigt, Flüssiges in Luft aufgelöst oder wiederum verfestigt werden sollte,(6) Eamsyne wollte ihr ureigenes Feuer wieder mit ins Spiel bringen. Zwar wusste sie nicht von vornherein, wie und wo damit beginnen; sich jedoch quallenartig im Gewässer treiben zu lassen, lag ausserhalb ihres Trachtens.
5} Nur undeutlich erinnert sie sich, woher genau sie gekommen war. Schemenhafte Bilder heller Runden tauchen ihr auf, atmende Sphären in tanzendem Kreisen, schattenlose Lichtgewölbe. Endlos ferne Orchester lassen ungehörte Panphonien erklingen, Chöre summen Gebete, und durch alles hindurch tönt kaum wahrnehmbar ein Wort, das sie nicht zu begreifen vermag.(7) All dies verdichtet sich im Sonnenwirbel, da sie die Klammer um ihr Herz empfindet und der Kälte verfällt. - Doch rasch verwehen jene Erscheinungen beim Versuch sie festzuhalten. Dann findet Eamsyne sich in der Finsternis wieder, in die Tageslicht hereinbricht.
6} Als sie ein kleines Kind gewesen war, kaum Mädchen erst, hatte sie im Glück der Farben gelebt. In diesen Lichtkindern erlebte sie Gefährten, und jeder Stein, so strenge Schatten er auch werfen mochte, nahm heitere Launen an, den fröhlichen Charakter, den ihm die Farben gerade verliehen. Nicht nur Blütenkelche oder Früchte, auch Blätter und Stengel, Kronen und Stämme grüssten sie als Lichtgestalten, dazwischen kleine summende Blitze. Kein Käfer, keine Echse, keine Maus, die sich ihr nicht farbig offenbarten, gerade wie die Vögel ihr nichts anderes zu sein schienen als Flügel gewordenes Leuchten. Sogar die Eltern erschienen ihr bunt, und sie erspürte die Verschiedenheit beider, die ungeheure Verschiedenheit, anhand des Tones, den ihre Gefährten annahmen, je nachdem, ob sie von Mutter oder Vater zu ihr zurückgestrahlt wurden.(8)
7} Aber die Nacht, das durch Farbverglimmen angekündigte Dunkel? Musste die Nacht in ihrer Schwärze nicht furchtbar auf sie wirken? Lasst ihn lächeln, den Engel. Eamsyne war keinem Dunkel begegnet! Mit dem Einfallen der Nacht kamen jedesmal ihre Freunde hervor. Einer um den anderen tauchten sie in der Dämmerung auf, die wenigen grossen zuerst, dann die lustig vielen und schliesslich die kaum erkennbar kleinen. Heller als jeder Tag wurde es da. Was gab es nicht alles zu erzählen! Wo doch ihre Freunde so begierig waren zu hören, wie es ihr letzthin ergangen war im Blau; denn das war eine fremde Welt für sie, von der ihre Königin ihnen nur ungefähr berichtet hatte, die sie deshalb fern, durch den Mond erahnten. Wie aufmerksam hörten sie zu, wenn das Kind ihnen von den fröhlichen Farbklängen sprach! Dann lachten sie miteinander und spielten mit ihren ungezählten Glocken; und sie sangen dazu, bis der Sonnenball erneut zu mahnen anhob.
Vom Aufstehen
8} „Guten Morgen!” Das hiess wieder ankommen unter dem Himmel. Es brauchte oft eine kleine Weile, bis Eamsyne die Augen aufschlagen mochte - zu deutlich vernahm sie noch das Verhallen vieler lustiger Stimmen. Hätte sie sich nicht auf die heiteren Bewegungen und Formen gefreut, so wäre sie wohl einfach mit geschlossenen Augen liegengeblieben, das Antlitz den Sternen zugewandt.
9} Liegenbleiben geht nicht, wenn man etwas bewegen will. Also hatte Eamsyne gelernt, aufzustehen und die Welt ernstzunehmen. Sie fand sie um sich herum ausgebreitet. Gelernt hatte sie, die Dinge zu nennen, zu trennen, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, Vor- und Nachteile zu berechnen, auf allerlei Gefahren achtzugeben, vor allem jedoch besser zu erkennen, was genau sie selbst war und was nicht. Mittelpunkt aller Erfahrung zu sein, kam ihr fast peinlich vor, und sie bemühte sich, kein Aufsehen zu erregen. Dazu erwarb sie allerhand Kenntnisse, ohne gleich deren Sinn zu begreifen. Obwohl es sie manches Mal hart ankam, nahm sie die vielfältigen Anregungen doch willig an, weil sie spürte, dass ihr diese bei ihrem Lebensvorhaben helfen würden. Über kleine Erfolge und Enttäuschungen, die ihr freilich gross vorkamen, war sie ein schönes Mädchen geworden mit weit geöffneter Seele.
10} Allein, indem sie die Leichtigkeit verlor, wurde sie allmählich selber ernst. Damals wusste sie noch nicht um jene Bedingung, ohne die ein Mensch zwar prächtig essen, trinken und schlafen kann, nicht jedoch Gestalt annehmen und gestalten. Sie hatte noch nicht erfahren, dass wir umso gewaltiger zu greifen vermögen, je deutlicher uns die Schwere bewusst wird.
11} Natürlich ist ein Baum ein Baum, gleich von welcher Himmelsrichtung er betrachtet wird: kühl mag er erscheinen oder warm, dürr oder üppig. Aus weitem Wurzelwerk zieht er seinen Saft bis in den kleinsten Zweig hinein; so lebt er und bildet sich weiter, ob er erkannt wird oder nicht.(9) Kund gibt er nämlich von unerforschlichen Höhen - ihnen reckt er seine mächtige Krone zu; von unwandelbarer Weisheit, in der seine Intelligenz Ast um Ast schafft; von der Gnade seines Schattens, den er gerecht verteilt; vom umfassenden Ausdruck seiner Schönheit. Stetig bringt er Neues aus ewiger Ruhe hervor; in einem fort Nachwuchs will er; so wird der Wald.(10)
Vom Tanzen
12} Eamsyne liebte das Tanzen. Von klein auf suchte sie immer wieder einen lichten Platz im nahen Wald (11) auf, dessen Boden aus sandigem Kies bestand. Eine Quelle am Rand hatte ihn jahrhundertelang ausgeworfen. Eine feste Fläche war entstanden, durch die sich ein kleiner Bach schlängelte, dem Mittag zu. Jeden Frühling musste sie den Platz neu ebnen, damit er ihren Füssen Halt bot, nachdem die Bäume ihn belaubt und die Winterfluten ihn zerfurcht hatten. Zu feinerem Glätten brachte sie einen breiten Holzrechen mit, den ihr ein mandeläugiger Alter einst geschenkt hatte; nach vollbrachter Reinigung wurde das gute Gerät in den Büschen neben dem sprudelnden Wasserloch verborgen. Oft stiess sie beim Glätten auf grössere Kiesel, die sie aufhob und rund um den Platz anhäufte, allwo die Bäume ihre Wurzeln verschränkten. In steter Mühe hatte sie eine niedrige Einfriedung zustande gebracht, die sie ihren Damm nannte.
13} Kam das Mädchen zu tanzen, meist nach der Früharbeit, so stellte es sich unter einen hochgewachsenen Ahorn auf den flachen Steindamm. Dort hielt es inne, um zu horchen. Das Wasser gluckerte leise im Fliessen. Oft strich ein leichter Wind durch die alten Kronen. Hinter ihm hob sich die Sonne. Sein Herz klopfte ein wenig, obwohl der Weg nicht sonderlich weit gewesen war. Lauschte es einer unhörbaren Musik? Auf einmal machte es einen ersten Schritt, dem ein zweiter folgte, ein dritter. Ohne festen Regeln zu genügen, breitete es die Arme aus und setzte zu einer Kreisbewegung an, aus deren Schwung es über den Graben sprang, um seinen einsamen Reigen auf der anderen Hälfte der Lichtung weiterzuführen. Bald streckte es seine Hände dem Himmel zu und drehte sich, bald stemmte es sie in die Hüften und stampfte kurz auf. Wieder und wieder querte es den Bach leichten Fusses. Der helle Kies knirschte leise und das zunehmende Licht funkelte aus vielen Tropfen zurück, während es über den Platz zu fliegen schien.
14} Wem wäre möglich anzugeben, wie lange der Tanz währte? Die Steine schweigen. Blätter, Gräser und Ranken träumen von der Schönheit. Die Vögel in den Ästen berechnen die Minuten nicht, Sekunden gar; ihre Stunden sind aus Licht und Dunkelheit gezogen. Nur ein Häher meldete heiser die Störung. Zuweilen guckten zwei Eichhörnchen dem Treiben von oben zu und vergassen darüber ihre eigenen Vorhaben; bald darauf vergassen sie wiederum das tanzende Kind und hüpften eifrig die Stämme entlang, ihre Sammlungen zu ergänzen. In den Wurzeln hauste ein Marder, aber seine nächtlichen Streifzüge ermüdeten ihn viel zu sehr, als dass er von einem so flüchtigen, noch dazu nährstofflosen Ereignis Notiz genommen hätte. Menschen fanden sich selten an dieser Stelle ein, schon gar nicht in den Morgenstunden.
15} Mit einer letzten Pirouette erreichte das Kind wieder seinen Ausgangsort unter den fünffingrigen Blättern, wo es tief atmend stehenblieb. Von dort überblickte es die mit Abdrücken übersäte Fläche. Genoss es die Herrschaft über den Platz; träumte es der wiegenden Bewegung nach, die ihn geformt hatte?(12) Eamsyne staunte still.(13) Wachen Auges glitt ihr Blick über die kaum erkennbaren Krater und Furchen diesseits und jenseits des Baches, offenkundig das Werk ihrer munteren Füsse. Sie selbst hatte dem Boden jene Spuren eingeprägt. Jetzt erzählte er ihr vom gerade vergangenen Schauspiel.
16} Die Schatten waren kurz geworden, und der gleissende Kies begann zu blenden. Sie fühlte sich leer, wiewohl auf frohe Weise durchwärmt. Aus der Ewigkeit war sie wieder in den Zeitstrom gesunken. Da gab sie sich einen Ruck, holte den Rechen aus dem Gebüsch und zog ihren Tanzboden sorgsam glatt, als ob sie einen Garten anlegen wollte. Erst dann trank sie Quellwasser aus ihren zur Schale gefügten Händen.
17} Auf dem Heimweg erspähte das Mädchen manchmal eine Hirschkuh (14), die ruhigen Schrittes zwischen den Bäumen verschwand. Eines ihrer Beine lahmte, daran erkannte es sie wieder. Ihm war, als hätte die Edle das Geschehen auf dem Kiesplatz mit ihren grossen dunklen Augen verfolgt und ginge nun, ihrem Freund, einem prächtigen Geweihträger (15) vielleicht, davon zu berichten. Was würde sie wohl erzählen, vor allem, würde sie dabei lachen oder ernstbleiben? Denn gewiss wusste sie nur zu gut einzuschätzen, was sie da beobachtet hatte. Das Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus dem geröteten Gesicht und setzte seinen Weg fort.
18} Bewegung belebt. Dem Formen leiht sie ihr Atmen und Kreisen, hilft den Schöpfungsverlauf zu beherrschen. Aus Stillstand nimmt kein Wesen Gestalt an, um sich in Zeit und Raum zu entfalten, bis ins Mütterliche gar. Ob Felsen auf rotbraunen Lehm bröckeln, Pollen über grüne Wiesen verbreitet werden oder Lerchen ins Azur steigen, aus allem klingt Bewegung. - Eamsyne trat aus dem kühlen Wald ins warme Licht. Vor sich hin summend folgte sie dem altvertrauten Wiesenpfad, der zum Haus ihrer Eltern führte.
Vom Singen
19} Zuhause fragte sie niemand, wo sie gewesen war. Die Eltern sorgten sich nicht um ihr Kind, da es stets glücklich aus dem Wald heimkehrte. So werkte Mutter meistens im Garten, während Vaters Stimme im Haus zu hören war.
20} Vater liebte das Singen. Kaum eine Tätigkeit verrichtete er ohne ein Lied oder wenigstens ein melodisches Lautieren. Was er sang, war schlecht zu verstehen, nichteinmal bei bekanntem Text: von kräftigen Lungen beflügelt bildeten sein Kehlkopf und Gaumen eigenwillige Kadenzen in dunklem Timbre, die nur wenig Gestaltung durch seine schwere Zunge erfuhren. Zuweilen hielt er sich an ein bestimmtes Thema, viel öfter aber improvisierte er über irgendein Motiv. Was immer er zum Besten gab, letztlich waren es Präludien zu nie aufgeführten Konzerten. Mauer- und Holzwerk nahmen die Tonfolgen auf und trugen sie bis in den Garten, wo sie Blumen und Insekten zu erfreuen schienen. - Mutter zeigte sich überzeugt, dass ihre Kräuter deswegen besser gediehen. - Er scheute sich auch nicht, gelegentlich auf den Balkon zu treten und eine kurze, überall im Dorf vernehmbare Arie zu schmettern, was schmunzelnd zur Kenntnis genommen wurde. Nach dem Abendessen traf sich die Familie gerne im Wohnraum. Und bevor das Kind zu Bett ging, sangen Vater und Tochter einige Kanons und andere kleine Stücke; Mutter begleitete die beiden auf dem Spinett. Die zierlichen Klänge der angerissenen Saiten untermalten aufs Feinste den geübten Tenor und den hellen Kindersopran. Wie dankbar liebte Eamsyne ihren Vater!
21} Eines Vormittages war eine Frau aus dem Dorf vorbeigekommen. Eine Weile hatte sie zugehört, dann war sie eingetreten, um mit dem Sangesfreund zu reden. Nach einer halben Stunde Worts und Widerworts hatte sie sich etwas enttäuscht davongemacht. Später erfuhren Mutter und Tochter, dass er eingeladen worden war, im Kirchenchor mitzusingen, jedoch dankend abgelehnt hatte. Sang er seinem Gott nicht jeden Tag genug, seiner Göttin?
Vom Studieren
22} In seinem Arbeitszimmer verstummte er allerdings, meist für längere Zeit. Dort sass er über aufgeschlagenen Büchern und Zeitschriften. Hinter ihm stand ein Regal mit Lexika aller Art. Auf einem Bord daneben ruhte ein dicker Atlas; man sah den Kartenblättern an, dass sie häufig konsultiert wurden. Schier unermüdlich durchforschte er verschiedene Werke, suchte nach einem Wort, einer Erklärung, einem Zusammenhang, und las schliesslich selbstvergessen weiter. Oft setzte er mit fester Hand Zeichen auf graues Papier, das er Blatt für Blatt einer Schublade seines Schreibtisches entnahm. In unhörbare Welten versunken folgte er endlosen Gedankenspuren, aus denen er die eine oder andere klare Vorstellung zu kristallisieren hoffte. Manches Mal hob er den Kopf und blickte konzentriert auf ein Kupfergefäss (16), das an der Wand über einem Zinnteller (17) hing.
23} Auf Vaters Tisch stand ein hübsch verzierter Silberbecher (18), aus dem vier Stifte ragten, ein schwarzer, ein blauer, ein gelber und ein roter. Mit dem bleiernen (19) notierte und schrieb er vorwiegend, mit den bunten unterstrich er Textstellen oder fertigte übersichtliche Schemata an. In die Arbeit vertieft bemerkte er selten, wenn Eamsyne leise auf einen Stuhl kletterte und ihm über die Schulter sah. Hier brauchte sie keine eiserne (20) Geduld, um ihren quecksilbrigen (21) Bewegungsdrang zu zähmen.
24} Die dreifarbigen Skizzen hatten es ihr angetan. Da gab es ineinandergefügte Kreise, Dreiecke, Vierecke, durchsetzt von Verbindungslinien und Kurven sowie geheimnisvollen Symbolen, Worten oder Zahlen. Hin und wieder stand ein Satz in klarer Schrift darunter. Girlanden waren ebenfalls zu sehen mit Dornen und Rosenblüten. Die Fünf-, Sechs- und Siebensterne, die an bestimmten Stellen wie von selbst aufzuleuchten schienen, begeisterten sie. Verstehen konnte sie das alles zwar nicht, doch ahnte sie mit der Zeit, welch goldenes (22) Verhältnis dem zugrunde lag. Und eines Tages begann sie, das Eindrücklichste davon aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen.
Vom Üben
25} Das Gefühlte, das Gehörte, das Geschaute selbstlos innig aufzunehmen, hierauf beharrlich wiederholend zu vertiefen, war uns von jeher anvertraut. Die Rischis der alten Inder hatten es in aller Verborgenheit geübt. Zarathustra (23) hatte König Guschtab und sein Volk dazu aufgefordert. Hammurabi war dies von der Stadtgöttin aufgetragen worden, dem Pharao von Isis als Erwartung der Nut. Über Thraker, Dorer und Ionier, aber auch Juden war der Auftrag zu Kelten und Römern gelangt; der barmherzige Buddha (24) hatte seine Mönche dahingehend belehrt und ihnen ein Rad mit acht Speichen geschenkt; nichts anderes war den Zwölfen nahegelegt worden, um Tod und Auferstehung zu fassen. Selbst die Germanen konnten kaum anders, weil auch sie am Menschwerden beteiligt sind.(3)
26} Im Nachzeichnen der Figuren, die sie besonders angesprochen hatten, fand Eamsyne reiche Befriedigung. Fast jeden Nachmittag bat sie um ein frisches Blatt, holte vier Wachskreiden aus ihrer Schachtel und setzte zu einem neuen Versuch an. Sie vergass die Welt um sich herum, verspürte weder Hunger, noch Durst, wenn sie sich über ihre Arbeit beugte. Sorgfältig zog sie Linie um Linie in verschiedenen Farben, bis Kreise, Vielecke und Zackensterne entstanden, wie sie es beobachtet hatte. Sie bemühte sich sogar, die Symbole einzusetzen, an die sie sich erinnern konnte.
27} Doch als sie voller Entzücken anfing, ihre Zeichnungen mit phantastischen Vögeln und Wolken auszuschmücken, mit lachenden Frauen und Männern, die vom unteren Bildrand fröhlich tanzend emporwinkten, mit Sonne, Mond und Sternen,(25) warnte Vater sie: das möge sie in ihrem Inneren schauen, aufs nüchterne Papier gehöre es nicht.
28} Einmal hatte sie einen mächtigen Regenbogen vor dunklem Gewölk gemalt. Ohne erkennbare Figuren zu bilden dräuten schwarze Donnerhaufen auf dem weissen Papiergrund, darüber wölbten sich die Farben im leuchtenden Tropfenspiel. (26) Acht weiche Kreiden waren für das Kunstwerk nötig gewesen und, zu Mutters Verwunderung, eine verpasste Mahlzeit. Zu diesem Bild hatte Vater nichts gesagt - ein Lächeln war über seine Lippen gehuscht und zwischen seinen Lidern als Träne hängengeblieben.
Vom Ankommen
29} „Können wir anfangen?” Nicht aus Ungeduld fragte er. Vielmehr fühlte er sich reif genug, um den Weg anzutreten. Sein Begleiter strahlte ihn zufrieden an.
30} In sieben Klassen war er auf das Unternehmen vorbereitet sowie mit Notwendigem und Zusätzlichem ausgestattet worden. Stumm hatte er die wesentlichen Gesichtspunkte geschaut, als berechtigt erkannt und sich eingeprägt. Dadurch war ihm der Sinn seines Unterfangens wie ein Stern aufgeleuchtet. Eingehend war er an die Wiederverbindung erinnert und mit den jeweils richtigen Verhaltensweisen vertraut gemacht worden. Schliesslich war er seinem Begleiter begegnet, der ihm dargelegt hatte, welche Herausforderungen er annehmen müsse, wenn er seine Aufgabe erfüllen wolle; so hatte er sich auch nicht gescheut, jene zähe Krebssuppe aufzusaugen, die ihm die nötige Haftung vermitteln sollte.(27) Dafür hatte er jedoch viel von seiner Leuchtkraft eingebüsst.
31} Jetzt war er bereit, sich in die Hülle zu begeben. Er hatte sie gemeinsam mit seinem Begleiter hergerichtet. Aus einer zur Verfügung gestellten formbaren Kugel hatten sie eine Röhre gebildet und in Schwingung gebracht, wobei die aufgesogene Suppe beim Trimmen geholfen hatte. Den pulsierenden Schlauch hatten sie dann modelliert und ihm dabei allerhand brauchbare Funktionen und Rhythmen eingefügt. Ein feingegliederter, gebogener und vielschichtig vernähter Druckanzug war entstanden, der sacht in lauem Wasser trieb.(28) Er bedurfte noch der Anpassung, doch diese konnte nur von innen her geschehen.
32} Sein Begleiter stützte ihn, während er vorsichtig in den Anzug glitt. Bevor er ganz darin verschwand, schaute er ein letztes Mal den Helfer an, dessen heller Blick ihm in die Dämmerung folgte. Dann schloss sich die Hülle - er war allein. Zunächst genoss er das Wiegen und langsame Drehen. Er vernahm ein regelmässiges, dumpfes Schlagen, das ihn eigentümlicherweise beruhigte. Interessiert machte er sich daran, die einzelnen Glieder seines Anzugs kennenzulernen und auszuprobieren. Das ermüdete ihn zwar, sodass er immer wieder in Schlaf fiel, aber mit jedem Erwachen nahm er deutlicher ein angenehm rötliches Leuchten wahr und eine sanfte Stimme, die er zu lieben begann. Hinundwieder verspürte er Schmerzen oder er wurde geschüttelt, dann schluckte er etwas von der umgebenden Flüssigkeit. Das störte ihn nicht weiter. Doch allmählich wurde es enger, und er konnte sich weniger und weniger bewegen. Der warme Raum schien sich um ihn zusammenzuziehen, das Leben darin wurde immer unbequemer. Er versuchte, das mit langen Schlafpausen auszugleichen.(29)
33} Plötzlich setzte ein Ziehen und Pressen ein, das ihn zu erdrücken drohte. Zuerst wand er sich noch, dann aber hielt er still. Ihm wurde himmelangst. Inmitten lautem Stöhnen und anderen bedrohlichen Geräuschen klang von weit her ein Abschiedsruf. Der warme Raum öffnete sich langsam, worauf der Druck etwas nachliess. Schon glaubte er, die Not überstanden zu haben, da wurde er in die Kälte hinausgestossen und schrie vor Entsetzen - er war angekommen. Gleich wurde er gepackt, etwas wurde ihm abgezwickt, danach wischte man ihn rundum ab. Erschöpft kam er auf eine weiche Brust zu liegen, die stetig auf- und abwogte. Auf sein hilfloses Wimmern antwortete leise die Stimme, die liebgewonnene; sie rief ihn Earasyn.
34} Geborenwerden fällt schwer, Sterben leicht. Ein Fallen ist es, ein Verdichten und nur zu oft auch ein Vernichten. Denn was wir gewesen waren, bevor wir ankamen, ist fast immer derart vergessen, dass allen Ernstes die absonderliche Meinung aufkommen konnte, wir wären nicht gewesen. Allein was tut's! Gibt es nicht sogar solche, die sich gebärden, als hätten sie keine Kindheit erlebt?
35} Mit dem ersten Schluck Milch vergass auch Earasyn, was ihm eigen gewesen war. Gierig sog er den warmen Saft aus der vollen Brust, und bald bedeutete ihm Hellwerden nichts weiter als die Aufforderung zu neuer Nahrungsaufnahme. Wichtiger war ihm eigentlich nur das Schlafen, das ihn vom anstrengenden Tun erlöste und ihm ermöglichte, die ungeheuren Eindrücke zu verdauen. Gleichwohl nahm er zu an Grösse, Stärke und Wachheit.(30) Lasst ihn lächeln, den Engel.
Vom Alleinsein
36} Das Lächeln eines Engels, von selbst ruft es weder Glück noch Segen hervor, zumindest nicht in unserem Lebenslauf.(31) Wachsamkeit ist geboten, wollen wir nicht ungeschützt im Leben stehen. Felle, Stoffe und Metalle, womit umgeben wir uns nicht, um das Leben zu erhalten! Tempel oder Heimstätten, Türme oder Tunnel, Brücken oder Hallen,(32) was errichten wir nicht alles, um das Leben zu gestalten! Immer wieder versuchen wir, Unzähmbares zu zähmen, und gelegentlich mag's uns scheinen, als geläng's, reicht doch unser Gedächtnis selten bis hinters Aufwachen. Nur der Mensch in seinem Werden kann erträglich sein in der Natur.
37} Die heile Zeit währte kurz. Earasyn durfte nicht lange bei seiner Mutter bleiben. Niemand weiss so recht, warum. Die einen meinen, sie wäre zu schwer erkrankt, um ihn weiter grossziehen zu können. Andere glauben, er sei abgeholt worden, manche sogar, man habe ihn entführt. Von einem Kloster wird gemunkelt, dem er versprochen gewesen wäre, zum Priester bestimmt. Ein hübscher Bub inmitten alter Männer? Sol' il diavolo può esser' insopportabile in chiesa.(33)
38} Earasyn selbst wusste wenig um seine Kindheit. Blass konnte er sich daran erinnern, sehr viel allein gewesen zu sein, allein gespielt zu haben, allein gegessen, allein gelernt. Deutlicher erinnerte er sich, wie oft er über endlosem Wiederholen eines kleinen Gebetes auf dem Rücken liegend in die Nacht gesunken war, aus der er sich dann mühsam wieder in den Tag finden musste. Doch war da nicht ein gütiges Augenpaar gewesen, das ihm zugeschaut hatte? Eigentlich war er mit der Verwaisung gut zurechtgekommen, hatte wohl kaum etwas anderes gekannt. Beim Gedanken an seine Kindheit stiess ihm keine Bitterkeit auf, vielmehr erfüllte ihn die Stimmung eines dankbaren So-war-es-recht.
39} Für ihn wurde das Alleinsein nämlich fruchtbar. Wie Atemluft brauchte er dieses Gefühl, das ihm über seelische Alveolen aus dem unermesslichen Raum ins Blut drang. Den meisten kommt es ja furchtbar vor und ob der Bedrückung fliehen sie in vielerlei Zerstreuung. Der Mensch ist im Grunde seines Wesens einsam, Bedingung für das Geborenwerden und Voraussetzung seiner Freiheit.(27) Je ernster einer allerdings sich zu finden sucht, desto freundlicher umgibt ihn die Einsamkeit.
Vom Geselligsein
40} Earasyn war keineswegs menschenscheu. Im Gegenteil, er liebte die Menschen. Offen begegnete er seinen Zeitgenossen, schritt oder sass mit ihnen. Abendbrot, Frühstück, Mittagessen, Spannen seiner Zeit konnte er damit zubringen, in fröhlichem Beisammensein zu schmausen. Sein herzliches Lachen war beliebt, sogar bei den Traurigen. Die meisten hielten ihn für einen netten Kerl, von dem man wenig wusste, nichteinmal Schlechtes. Einige luden gerne ihre Sorgen bei ihm ab, da er bekannt dafür war, aufmerksam zuzuhören. Ganz bei der Sache war er jedoch, wenn er mit dem Anderen (34) ein Gespräch führen konnte, glücklich der Anderen zu lauschen.
41} Just eben erwachsen, worauf er sehnsüchtig und manches Mal unbescheiden gewartet hatte, begann Earasyn zu reisen. Äusserlich planlos bestieg er Wägen und Züge, liess sich in fremde Länder rollen. Häufig wanderte er auch zu Fuss. Seine Bekannten vermochten nie zu sagen, wann er sich wohin begeben würde; seine Freunde errieten es zuweilen. Wo er aber auftauchte, knüpfte er sogleich lose Beziehungen, sei es über ein freundliches Wort oder auch nur über einen warmherzigen Blick. Am liebsten war ihm, wenn sich eine Gelegenheit bot, spontan ein wenig Hilfe zu leisten ohne gross Aufsehen zu erregen. Wenige merkten, wie's geschah, doch wo immer er ankam, öffneten sich ihm Seelen. Einige freilich blieben ihm just deswegen verschlossen.
42} Menschen interessierten ihn brennend. Sie fielen ihm einfach auf, ohne dass er gleich erklären konnte warum. Im Osten fand er sie zum Beispiel oft mit etwas trübem Unterton gestimmt, leicht aufbrausend hingegen im Süden, während sie ihm westwärts einen lebhaften Eindruck vermittelten und im Norden vorwiegend einen ruhig gelassenen.(35) Begab er sich jedoch mit entsprechenden Vorstellungen in ein bestimmtes Gebiet, dann erlebte er dessen Bewohner prompt vielschichtiger, beinahe widersprüchlich. In seinem Bemühen, sich mit jedem Menschen möglichst in dessen eigener Sprache auszutauschen, lernte er allmählich treffendere, obschon eher schwierig einsetzbare Unterscheidungsmerkmale kennen.
Vom Naturerleben
43} Darüberhinaus hatte Earasyn bald bemerkt, dass ihn die Tiere fragend anblickten. Ob Haus- oder Wildgetier, die beseelten Geschöpfe hängen von der Menschheit ab, mit oder ohne Leine, und sie spüren deren Verantwortung. Ihm schienen sie jedoch am menschlichen Willen zu zweifeln, diese Verantwortung wahrzunehmen. Hin- und hergerissen zwischen Scheu und Hilfsbedürftigkeit schienen sie ihm darauf zu warten, in ihrem Wesen ernstgenommen zu werden, gleich fernen Geschwistern. Er beobachtete ihr Schreiten und Springen, Fliegen und Hüpfen, ihr Schwimmen und Plantschen, Kriechen und Schlängeln, Krabbeln und Surren, ihr Sich-Winden, ihren Puls. Er horchte auf ihr vielstimmiges Getön vom Lautmalen übers Schreien bis zum Zischen. Und in alldem erkannte er den Odem, der ihn selbst belebte. Konnte er denn anders, als mit dankbarer Zuneigung antworten? Natürlich kam es vor, dass sie ihm lästig waren, ihn sogar gefährdeten.
44} Wirklich wunderbar kleidet sich der Lebensraum zu Land und zu Wasser in Pflanzen. Überhaupt waren die Gewächse der erste physische Ausdruck des Lebens schlechthin. Wo ihnen irgend gestattet, waren sie sesshaft geworden, hatten sich Luft und Boden angeglichen, bedeckten in reicher Vielfalt weite Flächen; und sie tun dies immer noch. Dem Menschen wurden sie Nahrung wie Kleidung, Brennstoff wie Baumaterial; und sind es ihm immer noch ... Ungezählte Stunden erging sich Earasyn unter ihnen, atmete ihre Frische, freute sich an ihrem Wachstum und genoss ihre Früchte. Ein besonders inniges Verhältnis gewann er zur lodernden Farbenpracht höchster Reife und zu deren Nachbild im Welken. Tausendfach wurde seine aufmerksame Anteilnahme erwidert.
45} Wieder andere Erfahrungen machte Earasyn mit den Steinen und ihrem feinkörnigen Endzustand. Durch ihr schieres Vorhandensein lehrten sie ihn die Schwere bis in die Knochen. Manche Formen und ihre metallene Farbigkeit vermochten ihn zu begeistern. Mehr jedoch fesselte ihn, wie sie dergestalt dauerhaft vor ihm in der Landschaft ruhten, urgewaltig oder unscheinbar. Wo aber Wasser mächtig über Felsen rauschte oder zahm im Kiesbett plätscherte, fühlte er sich vollends wohl. Da setzte er sich auf einen sonnengewärmten Rundling, verlor sich im Spiel der Tropfen und träumte tief atmend seine Heimat.
46} Gelegentlich nahm er einen ansehnlichen Kristall, einen auffällig gezeichneten Kiesel oder ein Glas voll glitzernden Sandes auf sein Zimmer, um sich an ihrer Aufstellung zu erfreuen und nähere Untersuchungen anzustellen. Auch fein gemaserte Blätter und zierliche Holzstückchen fanden sich dort, und ein von Ameisen kahlgefressener, wettergebleichter Schädel. Im Laufe der Jahre allerdings entledigte er sich des Gesammelten; er trug es einfach in die Natur zurück.
Vom Beten
47} „Bist es, das mich spürt,
mit Strahlen rührt und lächelt,
bin ja im Werden.” (36)
48} Einem Kehrreim gleich wiederholte Earasyn diesen Spruch stets dann, wenn ihn die erhabene Schönheit der Natur zu überwältigen drohte. Im Umgang mit anderen Menschen erfuhr er ebenfalls Grenzen, an denen das Wort ihm half, sich wiederzufinden. Jedesmal durchströmte ihn dabei ein ruhiges Glück, das einer Antwort gleich aus seinen Tiefen strahlte.
49} Bereits in zarter Kindheit war ihm eines der Menschheitsgebete beigebracht worden. Jeden Abend stellte er sich auf, wandte sein Antlitz gegen Morgen und breitete die Arme aus. Bedächtig lotete er das feuchte Hinter-ihm aus, das kalte Links-von-ihm, das trockene Vor-ihm und das warme Rechts-von-ihm.(37) Aus der Mitte sprach er sodann fest sein „euchomai” (38) und begann mit der grossen Anrufung (39), woran er Bitte an Bitte reihte. Jede der sieben griff er auf bestimmte Weise einzeln mit den Fingern ab. Bei der Sonnenbezeugung jedoch streckte er seine Handflächen der Mitternacht entgegen,(40) um sie danach vor der Brust zusammenzufügen. Stets schloss er ausatmend mit einer tiefen Verneigung.
50} So innig Earasyn sich beim Murmeln des Sinnspruches selbst erlebte, so umfassend erfuhr er sich beim gewaltigen Beten als Mensch. Beide Formen des Rückbezugs brauchte er,(41) um Kraft aufnehmen und im Leben bestehen zu können. Seltsamerweise hatte ihn nie jemand bei solchem Austausch beobachtet, sodass ihn die Leute für recht weltlich gesinnt hielten, bis auf eine.
51} Sein existenzielles Bedürfnis, sich regelmässig an die Welt zu wenden, die ihn entsandt hatte, war einst von zwei Mönchen vertieft worden, Pater Simon und Pater Viktor.(42) Der eine war sein Geschichtslehrer gewesen, der andere Schularzt. Nach schweren Prüfungen, die sie an den Rand des Abgrunds (43) gebracht hatten, waren sie ins Kloster Eccehomo (44) gegen Sonnenuntergang eingetreten und Priester geworden. Pater Simon hatte sich der Suche nach Gerechtigkeit geweiht, Pater Viktor der Suche nach dem Sinn, und beider Feuer loderte in der Antiphonie des Chorgebets. Darüberhinaus hatten sie sich in Rede und Schrift laut an die Öffentlichkeit gewandt und sehr darunter gelitten, kaum vernommen worden zu sein. Vom Schmerz geläutert war ihr ganzes Leben nach und nach Zwiesprache geworden - und er hatte im Umgang mit diesen bescheiden unbescheidenen Männern die Kraft der Verwandlung erfahren. Die zwei Verstorbenen schloss er in jene warme Dankbarkeit ein, die ihn stillen Augenblicks durchströmte.
52} Jeder auf seine Weise hatten beide Mönche ihm nahegebracht, drei Ebenen menschlichen Daseins zu unterscheiden, die leibliche, die seelische und die geistige.(45) Der belebte Leib, war er belehrt worden, konnte krank werden, die lebendige Seele zerrissen und der individuelle Geist gefesselt; so möge er die heilige Sophia und ihren Sohn, denen ihr Kloster geweiht sei, stets um Gesundheit bitten, um Heilwerdung und um Freiheit. Dieser Dreiklang, den jeder Mensch, Frau oder Mann, durchs Geborenwerden erwirbt, begleitete seitdem sein Tun und Lassen.
Vom Bilderschauen
53} Auf seinen Reisen war Earasyn gegen Sonnenaufgang einer Alten begegnet, die unscheinbar am staubigen Wegrand unter einem Ölbaum ruhte.(46) Erst als er näher kam, bemerkte er sie und blieb stehen. In dichte Gedanken versunken, sass sie im Schatten der knorrigen Äste, Arme und Beine von ihrem schwarzblauen Kleid verborgen. Über ihr glänzte die Sichel des jungen Mondes. Eins mit der Erde, die sie trug, liess sie die Abendbrise durch ihren Schleier fahren. Rotgoldenes Licht erhellte ihre Züge, und er konnte ein Lächeln erkennen, das ihre schmalen Lippen umspielte. Unendlicher Friede umgab das Bild, das sich ihm bot ... Ein weiterer Lichtstrahl fiel auf ein paar Muscheln vor ihr auf dem Boden. Wie eine schräge Acht angeordnet, machten diese den Eindruck eines liegengebliebenen Legespiels, dessen Regeln er nicht beherrschte.(47) Die einem verborgenen Sinn unterworfenen Kalkschalen zogen ihn an, doch der schwache Strahl erlosch bald und das Zwielicht verhinderte ein genaueres Hinsehen.
54} Während er noch dastand und schaute, hob die alte Frau die Augen und blickte ihn an. Ein Kopfnicken bedeutete ihm, sich zu setzen. Er trank ein paar Schluck von dem Wasser, das er mit sich führte, und gehorchte ihrem lautlosen Verlangen. Langsam brach die Nacht herein, und sie sassen einander still gegenüber. Als er jedoch eine Frage anbringen wollte, sprach sie mit einer klaren, fast jugendlichen Stimme: „Mögest du schweigen, wenn unrechtes Wort in dir zum Zungenschlag drängt, dass alle Gedanken hier deinem Herzen sich neigen.”(36) Dabei richtete sie sich ein wenig auf und senkte ihre Lider. Er tat es ihr nach.
55} Eine Weile umgab ihn undurchdringliches Dunkel, in dem er alles um sich herum vergass, obgleich er wach und aufmerksam blieb. Doch dann begann sich etwas zu regen. Feine Silberfäden glommen auf und bildeten ineinandergefügte Kreise, Dreiecke, Vierecke, durchsetzt von Verbindungslinien und Kurven sowie geheimnisvollen Symbolen, Worten oder Zahlen. All dies verschwamm zu schimmerndem Grund, aus dessem matten Glanz ein farbiges Bild aufschien: die purpurgewandete Weise unter goldenem Baum. Voll Ehrfurcht schaute er die Erhabene, wie sie mit der Linken über die Mondsichel wies. Indem er willig ihrem Fingerzeig folgte, wurde er leicht und dehnte sich in den Sternenklang der Arktis.(48) Fröhlicher Gesang ertönte, leise erst, dann immer vernehmlicher, wunderbar gestimmtes Duett einer offenen Männer- und einer hellen Kinderstimme. Nie verspürte Wärme durchströmte sein Wesen, schier ewig mochte er dem sonnigen Lied lauschen. Allein, das Singen verhallte. Bodenlose Stille (36) hüllte ihn ein. Fröstelnd sank er in sich zusammen. Seinen schwer gewordenen Leib fühlt er auf vier zottelige Tatzen gestützt, deren Krallen sich in moosigen Waldboden graben. Neben ihm steht aufmerksam eine schlanke Hinde (14), ein ihm urvertrautes Bild. Zarter Blütenhonigduft berührt seine Schnauze; durch hohe Stämme wittert er eine junge Frau, die selbstverloren auf einer Lichtung tanzt.
56} Früh schlug er die Augen auf. Immer noch sass er vor dem Olivenbaum. Erste Vögel zwitscherten in den vom Morgenwind gewiegten Ästen. Ein leichter Hauch von Salzwasser hing in der frischen Luft. Hinter einem Hügel, den ein kleiner Tempel zierte, konnte er in der Ferne unterm Azur das dunkle Blau ausmachen, das noch keine Sonnenstrahlen aufblitzen liess. Er sah sich um. Die Alte war längst ihrer Wege gegangen.
Von Fortgehen und Abschiednehmen
57} Der Atlas drückte auf seine Brust. Das Atmen fiel ihm schwer, doch nach dem unseligen Fall war er zu schwach, um sich von der Last befreien zu können; mühsam holte er Luft in die enger werdenden Lungen. Ihm wurde kalt, obschon mildes Nachmittagslicht den Raum erfüllte. Durchs offene Fenster drangen Geräusche an sein Ohr, geschäftiges Rascheln, Schnippen einer Gartenschere, Summen, Schritte, ein Zuruf, eine Antwort. - Er wollte niemanden stören.
58} Im Kupfer an der Wand sah er eine dunkelgewandete Nonne stehen, die ihn reglos anblickte; darunter schimmerte das Zinn wie ein ferner Himmelskörper. Heftige Erregung packte ihn, weil er alle seine Fragen in eine einzige zusammenfliessen spürte. Je mehr er sich aber mühte, diese letzte Frage in Begriffe zu giessen, wie er das sein Leben lang konzentriert geübt hatte, desto weniger gelang es ihm. Nachschlagen musste er, prüfen! Verzweifelt versuchte er, nach Büchern zu greifen, um die zerfliessenden Gedanken zusammenzuhalten. Am ganzen Leib zitternd rang er um einen Satz, klammerte sich an ein Wort. Mochte der Kopf hitzig rasen, von Füssen und Händen her kroch klamme Kälte herzwärts. Nichts kam ihm zu Hilfe, wo nicht wirbelnde Schwärze ... Auf einmal wurde ihm klar, was er im Begriff war zu unternehmen: nichts weniger als eine Urbewegung anzuhalten, die ihn bereits erfasst hatte! Mit einem Stossseufzer liess er sich in den rauschenden Strudel fallen.(7)
59} Der Kupferkessel glühte auf, da sich die Nonne in strahlende Freude wandelte. Sie breitete die Arme aus, um das benommene Wesen aufzufangen. Unten ein verglimmender Körper auf dem Boden; darauf Bücher, welche von einem übervollen Tisch heruntergerissen waren; davor ein geöffnetes Fenster, das die Sicht in einen Garten freigab, in dem zwei Frauen heiter Hecken schnitten; dahinter eine lichtdurchflutete, reich gegliederte Landschaft. Vom nahen Wald tönte der Widerhall einer kräftig geschmetterten Arie. Die Begleiterin wies auf einen fernen Berg, von dessen Kuppe ein Steinbock rundum die Gegend sicherte. Ersten Schwungs erhob sich das Neue, um dorthin zu gelangen.
60} Mutter zeigte sich gefasst, doch Eamsyne spürte ihre Trauer bis in die Knochen. Womit sollte sie die Liebe denn trösten? Selbst fühlte sie sich elend leer und ihre Kehle ausgetrocknet, seit die Dorfleute Vater aus dem Studierzimmer getragen hatten. Nie wieder wollte sie singen! Warum nur hatte man ihr den liebsten Menschen genommen? In ihrem Kummer verliess sie das Haus ohne zu wissen wohin; ihre Füsse trugen sie zum Damm.
61} Die Hirschkuh horcht auf. Langsam erhebt sie sich von ihrem Lager zwischen engstehenden Jungtannen. Die leichten Tritte, die sie vernimmt, kennt sie gut, nur nicht um diese Stunde. Umsichtig schreitet sie zwischen Stämmen und Farnen zur bachdurchzogenen Lichtung. An ihrem Beobachtungsort auf moosigem Boden hält sie inne und richtet ihre glänzenden Augen auf den Kiesplatz.
62} Dort stand reglos ein Mann. Noch war die Sonne nicht untergegangen, und ihr sanftes Gold umspielte seine seltsam schillernde Gestalt. Ein dutzend loser Blätter taumelten über ihm von den Baumkronen herab, berührten ihn jedoch nicht, sondern verteilten sich um ihn herum auf den Grund. Er sah nicht auf, vielmehr folgte sein Blick dem Wasserlauf, der sich im Wurzelwerk des Waldrands verlor. Wartete er? Worauf?
63} Das Tier reckt seinen schlanken Hals. Eben betrat eine junge Frau den Damm, die langen Haare überm Gesicht. Sie besann sich nicht lange und setzte zu getragenem Schreiten an. Mit ausgestreckten Armen beugte sie sich weit nach hinten, von da vornüber dem Boden zu, sodass ihre Haare das blasse Gesicht bald freigaben, bald verhüllten. An bestimmten Stellen liess sie sich zu Boden gleiten; handkehrum erhob sie sich in einer lockeren Drehung, um den einsamen Reigen fortzuführen. Ihr biegsamer Rücken erlaubte geschmeidige Wendungen. Manchmal streifte sie den Reglosen beinahe, ohne dessen Gegenwart zu bemerken. Nichts Hastiges drängte ihre sicheren Bewegungen, kaum ein Knirschen war zu hören. Zuletzt tat sie einen kunstvollen Sprung, aus dem sie ihren Körper wie leblos fallen liess. Beklemmende Ruhe legte sich über den Platz. Zusammengesunken hockte sie auf den Steinen, als hätte sie das Feuer ihrer Seele zu Asche zertanzt. Dünner Abenddunst durchzog die Szene.
64} Da trat der Mann an die Kauernde heran. Ein stilles Lächeln huschte über seine Lippen. Sacht legte er seine Hände auf ihr Haupt, Ausdruck seiner unendlichen Liebe. In leuchtendes Rot getaucht verharrte die Gruppe vor dem Kuhauge (49), an dessen Lid eine Träne hängen bleibt ... Plötzlich stand kein Segnender mehr vor der in fahles Grau gehüllten Hockenden. Die Sonne war mit einem letzten Aufleuchten untergegangen, um dem Orion (50) zu weichen.
Vom Danken
65} „Stirb nicht, ohne mir, wohin du gehst, zu sagen,(51)
verweile nicht im Zwischentraum!
Was du ohne mich bist, bin ich ohne dich: vergessen.
Stirb nicht, ohne zwischen uns das Band zu halten,
bleib' hängen nicht am Himmelssaum!
Was du ohne mich bist, bin ich ohne dich: verloren.
Stirb nicht, ohne neuerlich ein Lied zu singen,
verleugne nicht den Sternenraum!
Was du ohne mich bist, bin ich ohne dich: verstummt.”
66} Noch zögerte der Morgen zu grauen. Lange war Eamsyne auf dem Kies gekauert und hatte gebrochen vor sich hin gestammelt. In der Mitternachtskälte war sie Atemzug um Atemzug zu sich gekommen. Jetzt stand sie breitbeinig mit erhobenen Armen in der Mitte der Lichtung, den Rücken gegen den Schwanz der Kleinen Bärin gekehrt. Hoch über ihr funkelten die rote und die gelbe Schulter des grossen Chi, darunter sein gelber und sein blauer Fuss.
67} Ihm rief sie mit heller Stimme über dem Bachgemurmel: „Dir dank'ich Leben und Gedeihen! Mögst Du verzeihen, wenn ich zuviel getrauert habe, zuwenig Dich empfunden. Nun will ich leben! Hab'ich doch grad dank Deiner Gabe den Sinn dazu gefunden. Bist Du's nicht, das mich trägt und durch die Nacht geleitet, auch wenn mir's Wunden schlägt? Im Licht bist Du und in der Liebe, die mich wärmen. Ich will lernen, aus meinem Herzensdank zu geben.”
68} Eamsyne erfuhr einen gleich hellen Widerhall. Von ihrer Schädeldecke rieselten Kaskaden winziger Funken durch die Wirbelsäule hinab. Eine Welle warmer Liebe erfasste sie, und unter weitem Klang vernahm sie die Worte „Ordinem restauro in orbe novo”(52). Im Aufatmen schüttelte sie den Kummer aus ihrem Haar und streckte die Flächen ihrer Hände unbeirrt dem dreizehnten Sternbild entgegen. Eine Weile stand sie so dem dunklen Himmel zugewandt und leuchtete ihm zu.
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69} Unsagbar glücklich liess sie endlich die Arme sinken. Ein paar Schritte brachten sie zu ihrem Damm. Dort angekommen, setzte sie sich auf die angehäuften Kiesel, zog ihre Knie an und stützte die Ellbogen auf die beiden Kuppen; ihr Gesicht vergrub sie in den glühenden Handflächen. Voll strömenden Dankes wartete sie auf die ersten Sonnenstrahlen, die sich leise ankündigten.
70} Als die Kuhäugige dies geschaut hat, wendet sie sich zum Gehen. Neben sich spürt sie ein Schnuppern und ein vertrauter Geruch streicht um ihre Nüstern. Die Anwesenheit ihres Bruders hat sie gar nicht bemerkt. Ein Schmunzeln zuckt um seine feuchte Schnauze. Sie lächelt; ohne hinzublicken schmiegt sie sich an sein zotteliges Fell. Gemeinsam verlassen sie den Beobachtungsort. Weder blöken noch brummen brauchen sie, um sich zu verständigen, denn ihre fühlenden Gedanken fliessen ineinander: ein jedes liest, was im anderen vorgeht, als ob sie demselben Stern entsprungen wären.
https://wfgw.diemorgengab.at/eameara01.htm