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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Paul K. FEYERABEND zur
UNBESTIMMTHEIT der REALITÄT
1 Es war ein Merkmal aufgeklärter Toleranz (in Lessings Nathan der Weise mit großer Kunstfertigkeit dramatisiert) zu erklären, daß das Judentum, das Christentum und der Islam sich zwar in vielerlei Hinsicht unterscheiden, aber doch dasselbe göttliche Wesen verehren. Eine solche Einstellung ließ sich aber nur aufrechterhalten, wenn man wichtige Besonderheiten nicht beachtete. Der Ketzer Marcion und die Gnostiker hatten die auffallenden Unterschiede zwischen dem Gott des Alten und dem des Neuen Testaments bemerkt, und sie hatten (mindestens) zwei Götter postuliert, von denen nur einer mildtätig war. Ein Monotheist, der Unbestimmtheiten, metaphorischen Ausdruck und Analogien ablehnt, gesteht gezwungenermaßen zu, daß wir keine Schilderung und keine Erkenntnis von Gott selbst besitzen, obwohl wir Berichte darüber haben, wie Gott unterschiedlichen Gruppen erschien. Dieser Vorgang kann leicht auf den Begriff einer einförmigen Realität [a] ausgedehnt werden.
2 Viele Kulturen gehen davon aus, daß soziale Ereignisse sich in Umwelten ereignen, die Menschen unzugänglich sind, gleichwohl aber deren Leben beeinflussen, sogar in einem solchen Ausmaß, daß sie das Material und die Formen bereitstellen, die einen Menschen konstituieren. Für einige Kulturen sind, epistemologisch [erkenntnistheoretisch] gesprochen, diese Umgebungen in sich geschlossen und können einfach dadurch erkundet werden, daß man sich umsieht. Für andere sind sie hinter täuschenden Erscheinungen verborgen und nur durch besondere Verfahren zugänglich. (Parmenides, die Gnostiker und führende Wissenschaftler gehören der zweiten Gruppe an.) Bedenkt man die Rolle, die sie in unserem Leben spielen, so könnte man solche Umgebungen als Realität bezeichnen und sie von den (im zweiten Falle oft irrtümlichen) Meinungen über sie und den Erscheinungen trennen.
3 Wie in der Religion [den Konfessionen], so existieren unterschiedliche Ansichten zur Natur dieser Realität. Wie in der Religion [den Konfessionen], so wird diese Überfülle oft auf einen Befehl hin beseitigt: Eine Sichtweise ist korrekt, der Rest ist eine Täuschung. Und wie in der Religion [den Konfessionen], so gibt es für ein solches Urteil Argumente. Die Argumente machen auf einen Gläubigen kaum Eindruck - sein Glaube hat eine gänzlich andere Grundlage. Aber sie dienen dazu, widerspenstige Intellektuelle zu beruhigen, die gelegentlich die Macht besitzen, eine Bewegung ins Leben zu rufen oder zu zerstören.
4 In den Wissenschaften finden wir hauptsächlich zwei Argumente für die privilegierte Position wissenschaftlicher Standpunkte: Sie sind »rational«, und sie sind erfolgreich.
5 Die erste Schwierigkeit bei diesen Argumenten ist die, daß die Wissenschaft ein bunt gemischter Sack voll Meinungen, Verfahrensweisen, »Tatsachen« und »Prinzipien« ist und keine in sich geschlossene Einheit. Unterschiedliche Bereiche (Anthropologie, Psychologie, Biologie, Hydrodynamik, Kosmologie et cetera, et cetera) und verschiedene Schulen im selben Themenbereich (empirische und theoretische Strömungen in der Astrophysik, Kosmologie und Hydrodynamik; Phänomenologie und »vornehme Theorie« in der Elementarteilchenphysik; Morphologie, Embryologie, Molekularbiologie et cetera in der Biologie und so weiter) verwenden ganz unterschiedliche Verfahren, haben voneinander abweichende Weltsichten, argumentieren für sie - und zeitigen Resultate: Die Natur scheint auf viele Zugangsweisen positiv zu antworten, nicht nur auf eine einzige.⁴ Bei der Betrachtung dieser Fülle von Ideologien, Zugangsweisen und Tatsachen machen sich einige Philosophen und Soziologen nicht länger Sorgen darüber, wie man beispielsweise die Physik von der Biologie trennen kann, sondern sie fragen sich, wie die ganze Sache nicht nur verwaltungsmäßig, sondern auch konzeptionell zusammenhält.⁵
6 Wir können noch weitergehen. Viele Kulturen waren (und sind) in dem Sinne erfolgreich, daß sie das geistige und körperliche Wohlbefinden ihrer Mitglieder sicherten. Das wußte man zu Zeiten, als die Kulturen noch voneinander lernten (als beispielsweise die alten Griechen von ihren Nachbarn im Nahen Osten lernten). Nun wird dies schrittweise von Anthropologen, Entwicklungshelfern und Historikern der Landwirtschaft, der Medizin, Architektur und Astronomie wiederentdeckt. Dabei zeigen sie sich höchst erstaunt über die vielen Möglichkeiten, wie »selbst Primitive« an Orten überleben, sich entfalten und entwickeln konnten, die in westlichen Augen öde und angeblich für menschliches Leben ungeeignet sind. Beim Anblick der negativen Folgen der Ausdehnung der westlichen Zivilisation in Gebiete, die einst unabhängig waren und sich selbst versorgten, entwickelten Wissenschaftler zur Verbesserung der Lage Methoden und Zugangsweisen, die das Wissen und die Kunstfertigkeiten lokaler Gemeinschaften verwenden. Eine äußerst umfangreiche Literatur erläutert die Probleme und beschreibt die Resultate.⁶ Das Ergebnis ist, daß das Erfolgsargument (das übrigens geeignet ist, einzugestehen, daß ein Erfolg niemals vollständig ist und daß Kulturen immer voneinander profitieren können) nicht nur die »Wissenschaft«, sondern ebenso andere Verfahren heraushebt, einschließlich jener Weltanschauungen und Kosmologien, die sich in ihrem Zuge entwickelt haben: Unwissenschaftliche Weltanschauungen sind ebenso gut Kandidaten dafür, die Realität erfaßt zu haben, wie es die Wissenschaft ist.
7 Die Angelegenheit der Rationalität ist leicht abgehandelt. Rationalität spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der wissenschaftlichen Zugangsweise, die sich danach von ihr entfernte. Das bedeutet, daß der »Rationalismus« (der mittlerweile so vielgestaltig und fragmentiert ist wie »die Wissenschaft«) weder unabhängig noch eine annehmbare Evidenz für die Wissenschaften ist. Sie müssen auf eigenen Füßen stehen.
8 Falls nun das, was ich bislang ausgeführt habe, zutrifft, das heißt, falls man nicht nur eine einzige, sondern viele verschiedene Geschichten über unsere Umwelt ernstnehmen muß, so stellt sich Lessings Problem der drei Ringe mit neuer Dringlichkeit. Für Unitaristen ist die Lösung dieselbe wie oben - wir besitzen Evidenz, wie das Seiende reagiert, sobald es auf unterschiedliche Art aufgesucht wird, aber das Seiende selbst und die Bedingungen seines Handelns bleiben in gewisser Weise für immer in Dunkelheit gehüllt.
S.224ff
4 Für Einzelheiten und Verweise siehe: „Besitzt die wissenschaftliche Weltsicht im Vergleich zu anderen Sichtweisen einen besonderen Status?”, Abhandlung 2 in Teil II des vorliegenden Bandes.
5 Als Beispiel siehe die Essays in A. PICKERING (Hg.), Science as Practise and Culture, Chicago: University of Chicago Press 1992.
6 Für eine gelungene Übersicht, einschließlich Verweisen, siehe John READER; Man on Earth, Harmondsworth: Penguin Books 1988; für einen überaus interessanten, sehr speziellen Vergleich zwischen »primitiven« und wissenschaftlichen Behauptungen vgl. Gerard GILL, But How Does It Compare with the Real Data?, in: RRA Notes 14, 1992, 5-14.
S.334
aus „Welche Realität?” („Quale realtà?”) 1995
in: «Die Vernichtung der Vielfalt»
a] zum Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität siehe »TzN Jän.2004«: Anm.b
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit020720224.htm