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Text zum Neudenken: |
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Das resiliente Drittel | ||
1 Im Mittelpunkt der heutigen Resilienz[a]forschung steht die positive, gesunde Entwicklung trotz andauernd hohen Risikostatus wie zum Beispiel chronische Armut, psychische Erkrankung der Eltern, negative soziale Parameter wie Scheidung der Eltern, Verlust eines Elternteils etc., zum anderen die beständige Kompetenz unter akuten Stressbedingungen sowie die positive und schnelle Erholung von traumatischen Ereignissen. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Blick auf heranwachsende Kinder und Jugendliche. | ||
2 Als Pionierin und Begründerin der Resilienzforschung kann die Amerikanerin Emmy Werner [b] angesehen werden, die mit ihrem Team über 40 Jahre lang knapp 700 Kinder begleitete, die 1955 auf der Hawaii-Insel Kauai geboren wurden. Ihr Team bestand aus Kinderärzten, Psychologen und Mitarbeitern vom Gesundheits- und Sozialdienst. Bei ihrer Langzeitstudie wurde unter Berücksichtigung einer Vielzahl von biologischen und psychosozialen Entwicklungsfaktoren die Entwicklung von insgesamt 698 Kindern untersucht. Die erste Untersuchung fand bereits vor der Geburt statt, im Alter von 1, 2, 10, 18, 32 und 40 Jahren erfolgten die Nachuntersuchungen. Ein Drittel der Kinder wies ein hohes Entwicklungsrisiko auf, weil sie in chronische Armut hineingeboren wurden, schwerwiegenden geburtsbedingten Komplikationen ausgesetzt waren und in Familien aufwuchsen, die durch erhebliche soziale Stressoren wie dauerhafte elterliche Disharmonie bis hin zu pathologischen Interaktionen belastet waren. | ||
3 Die Ergebnisse waren überraschend: Ein Drittel der Kinder, die diesen gravierenden Risikofaktoren ausgesetzt waren, entwickelten sich zu leistungsfähigen, zuversichtlichen und fürsorglichen Erwachsenen. Im Alter von 40 Jahren gab es in dieser Gruppe die niedrigste Rate an chronischen Gesundheitsproblemen, Scheidungen, Todesfällen, keiner war in Konflikt mit dem Gesetz geraten, alle hatten Arbeit, stabile Ehen, eine positive Zukunftserwartung, viel Mitgefühl für Menschen in Not.²² | ||
4 Interessant ist, dass es sich um ein Drittel der Population handelt, ähnlich wie bei Aaron Antonovsky,[c] der Holocaust-Überlebende untersucht hat, die ebenfalls eine positive seelische Konfiguration aufwiesen. Auf jeden Fall haben diese sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Langzeitstudien gezeigt, dass negative Bedingungen und soziale Belastungsfaktoren nicht ausschließlich wesentlich für die Entwicklung sind, sondern dass es noch viel wichtiger ist, darauf zu achten, was es für andere Faktoren gibt, die Kinder und Jugendliche geradezu stark machen, trotz schwierigster Bedingungen sogar stärker und erfolgreicher, sozial verträglicher und empathischer als Menschen einer Parallel- bzw. Normalpopulation. | ||
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5 Neben den Fragen der Vulnerabilität, der Verletzlichkeit, der pathologischen Faktoren, in die noch Aspekte wie Hochsensibilität und zusätzliche Grunderkrankungen wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, primäre Suchterkrankungen oder emotionale Labilität hineinspielen, müssen wir auch die Frage nach den gesunderhaltenden, protektiven Schutzfaktoren stellen. Diese scheinen mir gerade im Bereich von Traumata und Trauma-Folgestörungen eminent wichtig zu sein, da sie gezielt pädagogisch, psychoedukativ und therapeutisch angehbar sind, dies auch im gesellschaftlichen bzw. pädagogischen Rahmen und Maßstab. Meines Erachtens stellt die Waldorfpädagogik, wie sie Rudolf Steiner ab 1919 entwickelt und vorgestellt hat, einen primär heilenden, das Kind leiblich, seelisch und geistig in seiner Immunität [d] tief stabilisierenden, schützenden und stärkenden Faktor dar. Insofern ist die Waldorfpädagogik - um mit Bernd Ruf [e] zu sprechen - eine klare Prophylaxe im Sinne einer notfallpädagogischen bzw. traumapädagogischen Frühintervention.²³ | ||
S.108ff | ||
22 Emmy Werner, Ruth S. Smith, Journeys from childhood
to midlife. Risk, resilience and recovery, Ithaca/London 2001. 23 Bernd Ruf, Trümmer und Traumata. Anthroposophische Grundlagen notfallpädagogischer Einsätze, Arlesheim 2012. |
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S.236 | ||
Christian Schopper | ||
aus «Trauma überwinden» | ||
a] siehe ders. zum Begriff Resilienz | ||
b] Emmy Elisabeth Werner-Jacobsen war eine Entwicklungspsychologin (nicht zu verwechseln mit der Wiener Theatermacherin Emmy Werner). | ||
c] Antonovsky war ein usamerikanischer Arzt und Schoah-Forscher. | ||
d] vgl. Abriss „Dreifacher Schutz” | ||
e] Der Waldorflehrer Ruf hat die Notfallpädagogik mitbegründet. | ||
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