zum IMPRESSUM
Text
zum
Neudenken:
Engel bei Klee
1 Als dann das zwanzigste Jahrhundert sich regt, tritt zwar bei fast allen Malern hin und wieder einmal ein Engel auf, aber eine echte Wiederfindung des Engels ist das nicht, auch nicht bei Chagall [a]. Hingegen wird der Engel neu populär durch Paul Klee (1879 bis 1940 [b]). Aber was sind das für Wesen? Sie sehen so ganz anders aus als gewohnt. Nur der Titel, zum Glück immer dazugeschrieben, belehrt uns, daß es sich um Engel handelt. Meist sind es Zeichnungen, mit schnellem Strich hingeworfen. Eine Fülle solcher Engel, ein ganzes neues Geschlecht, wie man es in der Malerei noch nie gesehen hat, entsteht. Losgelöst von jedem religiösen Thema, ja von jeder Handlung oder Szene überhaupt, tragen sie ihre eigene Szene in sich. Ihr Drama ist ein psychisches. Sie sind gewissermaßen der reinste Ausdruck dessen, was Klee «mein Urgebiet», nämlich die «psychische Improvisation»[c] nennt. «Erlebnisse notieren, die sich selbst in blinder Nacht in Linien umsetzen könnten.» Er braucht gar keine Augen, keinen physisch-prüfenden Blick bei diesen von innen gelenkten Notationen, die sein sicherer Strich aufs Papier setzt und die nicht selten ein «Engel» werden.
2 Es sind kindliche Geschöpfe mit kurzen Beinchen und noch unausgebildeten Händchen. Aber es ist nicht die Wieder-Auferstehung der alten Kinderengel. Sie haben Witz und Schalk, wie etwa der Schellenengel, und sind gänzlich unnaturalistisch - falls man bei einem Engel von Naturalismus sprechen darf.
3 Hin und wieder wird es auch ernster, und es entsteht mit weißen Strichen auf schwarzem Grund der Wachsame Engel. Sein Gesicht ist nur zum Blicken da - nur Augen, kein Mund.
4 Genial ist Der vergeßliche Engel - mit den niedergeschlagenen Augen und den unsicher zusammengekrampften Händen. Man sieht ihm an, wie durch und durch peinlich ihm ist, was er mit seiner Vergeßlichkeit angerichtet hat. Klee hätte ja auch einen vergeßlichen Menschen zeichnen können - aber das wäre etwas ganz anderes. Dieser Engel ist die Seelenstimmung selbst: Sich-Schämen über die Vergeßlichkeit. Der Mensch, der vergeßlich war, hat es vielleicht gar nicht bemerkt, aber da ist etwas in ihm [d], in dem sich das Versagen dennoch manifestiert. «Es» schämt sich für uns und ist doch zugleich mit uns identisch - ist unser Engel, der unser Versagen mitträgt.
5 Diese Wesen haben mit den hierarchischen Engeln,[e] die als reine Boten Gottes Aufträge erfüllen, nichts zu tun. Sie sind dem Menschen ausgeliefert und noch ganz im Werden gedacht, mit kurzen Gliedmaßen und kindlichen Gesichtern. Und so heißen sie auch: Engel im Kindergarten; Engel noch häßlich; Engel noch weiblich; Engel noch tastend. - «Noch», ein Zustand also, der überwunden werden soll. Es sind Engel, die wir in uns haben (so auch der Engel voller Hoffnung) und die sich mit und durch uns entwickeln. Seelenstimmungs-Engelchen,[f] die sich bilden und wachsen als Teil unseres inneren, unsichtbaren Wesens.
6 Es gibt aber auch eine farbige Arbeit, Öl auf Sperrholz, die Engel im Werden heißt und überhaupt nichts engelhaft Figürliches zeigt, sondern nur Farbzonen, die von verschiedenen Seiten her zusammenströmen und sich überdecken; und in diese hineingesetzt sind: ein Kreis mit Doppelrand (Sonne?), ein Dreieck und ein Kreuz. Man ahnt nicht, in welcher geheimnisvollen Alchemie sich hier ein Engel bilden soll.
7 Wenn ein Engel das Frühstück serviert - auf einem Tablett Kaffeekanne und Eierbecher tragend -, dann wagt man nicht, dies in auch nur entferntem Zusammenhange mit den alten Verkündigungsengeln zu denken, sondern sieht die liebevolle Anrede an einen Menschen «Du bist ein Engel» (weil du mir das Frühstück ans Bett bringst) in Zeichnung umgesetzt.
8 So sind Klees Geistlein ein leichtes, psychologisches Geschlecht. Dem Thema fügte Klee damit zweifellos etwas Neues hinzu. Es beginnt gewissermaßen der Aufbau des Engelbildes von unten, vom Menschen her, aber wiedergewonnen ist das einstige große Thema noch nicht. Das ist auch von einem einzelnen nicht zu erwarten - und vor allem, es ist ohne Änderung unseres gesamten materialistischen Weltbildes nicht möglich. Solange wir Engel nicht denken können (und wollen), werden sie sich auch nicht finden und nicht von uns in die Sichtbarkeit ziehen lassen. Fragen wir zum Abschluß: Wird der Weg, sie wiederzufinden, überhaupt beschritten?
Hella Krause-Zimmer
aus «Warum haben Engel Flügel?»; S.69ff
Unsere Anmerkungen
a] der weissrussisch jüdische Maler Marc Chagall
b] Paul Klee wurde im Kanton Bern geboren.
c] vgl. Zitate zur Improvisation
d] eigentl. astral um ihn herum
e] vgl. Mbl.12
f] eher Elementarwesen
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202302.htm