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Neudenken:
Angst und Freiheit
An diesem Punkte setzt die Kritik Kierkegaards [a] an seinem großen Gegner Hegel [b] an. Dieser habe in seinem grandiosen System zwar versucht, die gesamte Wirklichkeit, Natur wie Geschichte, zu begreifen; er habe aber darüber den Menschen in der Not seines Existierens vergessen. Eine noch so umfassende Gesamtschau jedoch nütze dem Menschen nichts, solange sie sein Dasein nicht umgestalte.[c] Wahrheit sei nur für den lebendig, der sie sich entschlossen aneignet und in seiner konkreten Existenz verwirklicht. Diesen Gesichtspunkt wendet Kierkegaard auch auf sich selber an: »Es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich sein kann, die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will.«
Doch was ist die menschliche Existenz, der Kierkegaard so leidenschaftlich nachforscht? Als existenzieller Denker muß er den Begriff des Menschen aus der Selbsterfahrung gewinnen. Diese aber ist für ihn die Erfahrung der Fremdheit zur Welt und zu sich selber, der inneren Zerrissenheit, der abgründigen [d] Angst, der Verzweiflung. All das begreift Kierkegaard nicht nur als sein persönliches Schicksal, sondern auch und vornehmlich als die Grundsituation des Menschen. Dieser lebt unausweichlich in der »Angst« und in der »Verzweiflung« als der »Krankheit zum Tode«.[e] Das aber gilt es in voller Ehrlichkeit auszuhalten.
In der Angst nun - das ist die große Entdeckung Kierkegaards - erfährt der Mensch die Möglichkeit der Freiheit, und zwar als sein Grundwesen. Denn die Angst löst die Wirklichkeit in ein Geflecht von bedrängenden Möglichkeiten [f] auf, denen gegenüber der Mensch sich zu entscheiden hat. Daher entdeckt er in ihr: Er ist nicht ein für allemal festgelegt; sein Sein ist ein Seinkönnen. »Das Ungeheure, das einem Menschen eingeräumt ist, ist die Wahl, die Freiheit.«[g]
Wilhelm Weischedel
aus «Die philosophische Hintertreppe»; S.233f
Unsere Anmerkungen
a] Sören Aabye Kierkegaard
b] Georg Wilhelm Friedrich Hegel
c] vgl. Brechts Frage nach Gott
d] vgl. «E+E»: Anm.270
e] betrachte dazu Munchs Gemälde Der Schrei
f] vgl. Mbl.5: Anm.1
g] vgl. Mbl.9
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200909.htm