zum IMPRESSUM
Vortragssammlung
Teil 1
Ergänzende Bemerkungen
zum Inhalt der Letzten Ansprache Rudolf Steiners
1 Es ist zu berücksichtigen, daß Rudolf Steiner die Darstellung am 28. September 1924 nicht zuende führen konnte. Marie Steiner schrieb in Erinnerung daran in ihrem Aufsatz «Am Vorabend des Michaelitages» im Nachrichtenblatt der Anthroposophischen Gesellschaft im September 1925:
2 «Er brachte den Vortrag nicht so weit, wie er es ursprünglich gewollt hatte. Er gab uns den ersten Teil des Mysteriums von Lazarus; damals sagte er mir nicht nur, sondern schrieb auch später auf den Umschlag der ersten Nachschrift: Nicht weitergeben, bis ich den zweiten Teil dazu gegeben haben werde. - Man hat es ihm dann trotzdem abgerungen, wie so manches. - Jetzt wird er diesen zweiten Teil uns nicht mehr geben. Unsern Erkenntniskräften wird es vorbehalten bleiben, das Richtige zu unterscheiden zwischen den Inkarnations- und Inkorporationsgeheimnissen, den Durchkreuzungen der Individualitätslinien. Er endigte mit dem, was wie ein roter Faden durchgegangen war durch seine Weisheitsoffenbarungen: dem Mysterium von Novalis, Raffael, Johannes... Wir sind immer wieder zu ihm zurückgeführt worden, von den verschiedensten Aspekten aus. Das letzte, das schwerste, weil von einer andern Individualitätslinie durchkreuzt, gab er uns am Vorabend jenes Michaelitages - und brach ab...»
3 Was Marie Steiner damit als noch mündlich gegebene Erläuterung Rudolf Steiners nur angedeutet hat, wurde verbürgt von Dr. Ludwig Noll, neben Dr. Ita Wegman behandelnder Arzt Rudolf Steiners, überliefert:
4 Bei der Auferweckung des Lazarus sei von oben her bis zur Bewußtseinsseele die geistige Wesenheit Johannes des Täufers, der ja seit seinem Tode der die Jüngerschar überschattende Geist gewesen sei, in den vorherigen Lazarus eingedrungen und von unten her die Wesenheit des Lazarus, so daß die beiden sich durchdrangen. Das ist dann nach der Auferweckung des Lazarus Johannes, der «Jünger, den der Herr lieb hatte». (Vergleiche dazu auch den 6. Vortrag von «Das Markus-Evangelium», wo Elias als die Gruppenseele der Apostel geschildert wird.)
5 Nach Frau Dr. M. Kirchner-Bockholt gab Rudolf Steiner Frau Dr. Ita Wegman dazu noch die weitere Erklärung: «Lazarus konnte aus den Erdenkräften heraus sich in dieser Zeit nur voll entwickeln bis zur Gemüts- und Verstandesseele; das Mysterium von Golgatha findet statt im vierten nachatlantischen Zeitraum, und in dieser Zeit wurde entwickelt die Verstandes- oder Gemütsseele. Daher mußte ihm von einer anderen kosmischen Wesenheit von der Bewußtseinsseele aufwärts Manas, Buddhi und Atma verliehen werden. Damit stand vor dem Christus ein Mensch, der von den Erdentiefen bis in die höchsten Himmelshöhen reichte, der in Vollkommenheit den physischen Leib durch alle Glieder bis zu den Geistesgliedern Manas, Buddhi, Atma in sich trug, die erst in ferner Zukunft von allen Menschen entwickelt werden können.» (Nachrichtenblatt 40. Jahrg., Nr. 48, vom 1. Dezember 1963).
6 Im Oktober 1924 schrieb Ita Wegman an Helene Finckh: «Liebe Frau Finckh. Dr. Steiner läßt sagen, daß er einverstanden ist, daß Sie den Michael-Spruch an diejenigen geben, die darum fragen. Auch ist er damit einverstanden, daß Sie den Vortrag den Mitgliedern vorlesen, aber dann sollten Sie warten, bis Dr. zu dem Michael-Vortrag noch einiges hinzuschreibt, um das Geheimnis, was besteht zu
Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelisten, aufzuklären.»
7 Siehe hierzu auch: Hella Wiesberger «Zur Hiram-Johannes-Forschung Rudolf Steiners» im Anhang des Bandes «Zur Geschichte und aus den Inhalten der erkenntniskultischen Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914», Seite 423 ff.:
[...]
8 Diesen Reinkarnationsforschungen, die beide Johannes-Gestalten gleichermaßen umfassen, kommt werkbiographisch eine hervorragende Stellung zu, weil sie wie als ein A und O am Anfang und am Ende von Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Vortragstätigkeit stehen und sich darüber hinaus wie ein «roter Faden» durch das ganze Werk ziehen (Marie Steiner).
9 Das erste dieser Forschungsergebnisse findet sich zu Beginn der geisteswissenschaftlichen Vortragstätigkeit (1901/02) im Zusammenhang mit dem dreifachen Ansatz, das Christentum als eine mystische Tatsache und als Mittelpunktsgeschehen der Menschheitsgeschichte zu rechtfertigen: mit dem Vortragszyklus «Von Buddha zu Christus» in dem Berliner literarisch-avantgardistischen Zirkel «Die Kommenden»; mit der Vortragsreihe über ägyptisches und griechisches Mysterienwesen und das Christentum im Kreise der Berliner Theosophen; mit der Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache». Alle drei Darstellungen kulminierten in der Interpretation des Johannes-Evangeliums, einsetzend bei der Auferweckung des Lazarus als einer von Christus Jesus vollzogenen Initiation und in der Feststellung, daß der auferweckte Lazarus der Verfasser des Johannes-Evangeliums gewesen ist. Der Zyklus «Von Buddha zu Christus», von dem es keine Nachschriften gibt, endete nach Rudolf Steiners Äußerung in seinem Vortrag Dornach, 11. Juni 1923, mit diesem Motiv; in den Nachschriften von der Vortragsreihe vor den Theosophen findet es sich unter dem Datum des 15. März 1902. In der Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache» ist zwar nicht direkt gesagt, daß Lazarus der Verfasser des Johannes-Evangeliums ist, doch ergibt es sich aus der ganzen Darstellung.¹
10 Unmittelbar nach dem Ansatz zur Rechtfertigung des Christentums begann Rudolf Steiner, auch die Lehren von Reinkarnation und Karma in das europäische Geistesleben einzuführen, da auf ihnen alle geisteswissenschaftlichen Forschungen beruhen.² In besonderem Maße diejenigen über Geschichte; wird doch Geschichte durch die sich wiederverkörpernden Menschenseelen bewirkt, indem sie die Ergebnisse ihres Lebens in einer Epoche in ihre Leben in anderen Epochen hinübertragen. Und weil dies auch für die spirituellen Lenker der Menschheit gilt, ist deren Wirkensimpulsen in den verschiedenen Zeitaltern ein wesentliches Kapitel in der weitgespannten Thematik Geschichte und Reinkarnation gewidmet. Den beiden Johannes-Gestalten ist darin ein breiter Raum eingeräumt.
11 Die ersten Mitteilungen von früheren Erdenläufen dieser beiden christlichen Führergestalten machte Rudolf Steiner im Jahre 1904, beginnend mit Johannes dem Täufer. In dem öffentlichen Berliner Vortrag über Christentum und Reinkarnation vom 4. Januar 1904 [in «GA 52»] heißt es, daß Reinkarnation in den Mysterien zu allen Zeiten gelehrt wurde, auch von Christus, der, wie es schon im Evangelium steht, seine vertrauten Jünger darauf hinwies, daß Johannes der Täufer der reinkarnierte Prophet Elias gewesen ist. [...]
[...]
12 Daß das Wiederverkörperungsgeschehen jedoch nicht so einfach sei, wie man sich das gewöhnlich vorstelle, darauf wurde schon früher einmal so hingewiesen:
13 «Die Menschen, auch die Theosophen, stellen sich die Geheimnisse der Reinkarnation gewöhnlich viel zu einfach vor. Man darf sich nicht vorstellen, daß irgendeine Seele, die heute in ihren drei Leibern verkörpert ist, einfach in einer vorhergehenden Inkarnation sich verkörperte und dann wieder in einer vorhergehenden Inkarnation, der dann wieder eine solche voranging, immer nach demselben Schema. Die Geheimnisse liegen viel komplizierter. (...) Wir können oftmals eine historische Gestalt nicht in ein solches Schema bringen, wenn wir sie richtig verstehen wollen. Wir müssen da viel komplizierter zu Werke gehen.» (Leipzig, 12. September 1908 [in «GA 106»])
14 Damit wurde gewissermaßen angekündigt, was dann vom Jahresende 1908 an als ein höheres Kapitel der Wiederverkörperungslehre zu behandeln begonnen wurde. An konkreten Beispielen geschichtlicher Gestalten wurde aufgezeigt, wie sich, bedingt durch das Gesetz von der spirituellen Ökonomie zur Erhaltung von Geistig-Wertvollem für die Zukunft, nicht nur das menschliche Ich, sondern auch andere Wesensglieder wiederverkörpern können, und zwar in anderen Individualitäten. Die Schilderungen von solchen Durchdringungsverkörperungen bei großen Geisteslehrern, deren ranghöchste die sogenannten Bodhisattvas sind, bildeten eines der Hauptthemen der Jahre 1909 bis 1914.³
15 Unter den so dargestellten Gestalten findet sich auch immer wieder Johannes der Täufer. Insbesondere in dem Vortragszyklus «Das Markus-Evangelium» (September 1912) ist ihm nicht nur ein sehr breiter Raum eingeräumt, sondern es wird auch noch auf eine vor der Elias-Zeit liegende Inkarnation hingewiesen. Seitdem sind fünf geistesgeschichtliche Inkarnationen bekannt: Pinehas (zur Zeit Moses), Elias, Johannes der Täufer, Raffael, Novalis. Um so überraschender ist es daher, daß sich in den ein Jahr später gehaltenen Vorträgen über das «Fünfte Evangelium» (1913/14 [in «GA 148»]) mit Bezug auf Johannes den Täufer die Bemerkung findet: «Ich sage das jetzt nicht aus dem Fünften Evangelium heraus» - womit die Ergebnisse der Akasha-Forschung über die Evangeliengestalten gemeint sind -, «denn in bezug auf das Fünfte Evangelium ist es noch nicht bis zur Gestalt des Johannes des Täufers gekommen; aber ich sage es aus dem, was sich sonst ergeben konnte.» (Berlin, 13. Januar 1914). Aufgrund des vielen, was bis dahin schon an Forschungen über den Täufer dargestellt worden war, kann sich diese Bemerkung nur auf die Erforschung der Durchdringungsverkörperungen beziehen, wie sie für andere Evangeliengestalten schon erforscht und dargestellt worden waren. Eine Begründung dafür, warum diese Forschung über Johannes den Täufer erst Jahre später durchgeführt werden konnte, ist gegeben durch die Überlieferung, daß Rudolf Steiner während des Krieges 1914-1918 einmal gefragt wurde, ob die Betrachtungen über das Fünfte Evangelium nicht weitergeführt werden könnten und er geantwortet habe, daß infolge des Krieges die geistige Atmosphäre für solche Forschungen viel zu unruhig sei; und als nach Kriegsende die Frage wiederholt wurde, habe die Antwort gelautet, daß nun andere Aufgaben dringlicher seien.⁴ Daß sich später aber doch noch eine Möglichkeit ergeben haben muß, zeigt die letzte Ansprache Rudolf Steiners vom 28. September 1924.
16 Auch von der anderen Johannes-Gestalt, von Lazarus-Johannes, waren im Laufe der Jahre, ebenfalls von 1904 an, fünf geistesgeschichtlich bedeutsame Inkarnationen mitgeteilt worden: Hiram Abiff, Lazarus-Johannes, Christian Rosenkreutz im 13. und im 14. Jahrhundert, der Graf von St. Germain im 18. Jahrhundert.⁵ In dem Berliner Vortrag vom 4. November 1904 wurde dargestellt, daß der Graf von St. Germain eine Wiederverkörperung von Christian Rosenkreutz gewesen ist, und der Inkarnationszusammenhang mit Hiram Abiff ergibt sich aus dem Duktus des ganzen Vortrages, wenn es auch nicht direkt ausgesprochen ist. Von der Wiederverkörperung Hirams als Lazarus-Johannes wurde im erkenntniskultischen Arbeitszusammenhang wohl erstmals zur Osterzeit 1908 gesprochen; in den beiden Vorträgen vom 27. und 28. September 1911 in Neuchâtel wurden die beiden Inkarnationen von Christian Rosenkreutz im 13. und im 14. Jahrhundert geschildert. Einzig nicht exakt datieren läßt sich, wann zum erstenmal von dem Inkarnationszusammenhang Lazarus-Johannes und Christian Rosenkreutz gesprochen worden ist, da dies ohne genaue Zeitangabe mündlich überliefert wurde.⁶
17 Schon bevor an Ostern 1908 im erkenntniskultischen Arbeitskreis von Lazarus als dem wiedergeborenen Hiram Abiff gesprochen wurde, war die Lazarus-Johannes-Forschung in einer besonderen Weise dokumentiert worden, indem für den Münchner Kongreß Pfingsten 1907 die Einweihungserfahrungen von Lazarus-Johannes aus dessen Apokalypse zu Bildern okkulter Siegel und Säulen gestaltet wurden, die zugleich die Grundelemente des neuen Baugedankens bildeten. Außerdem wurde in Wort und Bild manifestiert, daß der für das Abendland maßgebende Schulungsweg der von Christian Rosenkreutz begründete christlich-rosenkreuzerische ist.⁷ In den beim Kongreß gehaltenen und in darauffolgenden Vorträgen des Jahres 1907 ist immer wieder von diesem Schulungsweg und dessen Begründer Christian Rosenkreutz als dem großen spirituellen Führer des Abendlandes die Rede. Einmal heißt es: «... er hat immer unter uns gelebt und ist auch heute noch bei uns als Führer im spirituellen Leben.» (München, 1. Juni 1907, esoterische Stunde, in GA 264)
18 Die beim Münchner Kongreß manifestierte geistige Verbindung dieser Individualität mit dem neuen Baugedanken leuchtete einige Jahre später noch einmal auf, als Rudolf Steiner ebenfalls aus dem Bauvorhaben heraus beabsichtigte, eine Arbeitsweise zu stiften, von der er äußerte, daß sie zum direkten Ausgangspunkt diejenige Individualität habe, die wir «seit den abendländischen Vorzeiten mit dem Namen Christian Rosenkreutz belegen.» (Berlin, 15. Dezember 1911, in GA 264). Dieser Stiftungsversuch war schon kurz vorher bei einer erkenntniskultischen Veranstaltung in Stuttgart, am 27. November 1911, feierlich verkündigt worden. Da außer dieser Tatsache nichts weiter überliefert ist, kann nur vermutet werden, daß damals - es war kurz nach den beiden Vorträgen über Leben und Werk von Christian Rosenkreutz im 13. und im 14. Jahrhundert (September 1911) - der Inkarnationszusammenhang von Lazarus-Johannes und Christian Rosenkreutz zum erstenmal mitgeteilt worden ist.⁸
19 Inwiefern auch die Individualität von Johannes dem Täufer in Verbindung mit dem Baugedanken gesehen werden kann, läßt sich an den folgenden Vorgängen ablesen. Als für den ursprünglich in München geplant gewesenen Bau die Grundsteinlegung für den 16. Mai 1912 vorgesehen worden war, da sprach Rudolf Steiner auf seiner Reise dorthin erneut und mehrfach von den schon bekannten vier Inkarnationen: Elias, Johannes der Täufer, Raffael, Novalis; zuletzt in München, und zwar an demselben Tage, an dem dort die Grundsteinlegung hätte vorgenommen werden sollen. Infolge von Schwierigkeiten, die durch die Behörden entstanden waren, wurde sie dann doch nicht durchgeführt. Dafür aber wurde im Sommer dasjenige, was dem Baugedanken zugrunde liegt - eine moderne, und das heißt öffentliche Mysterienstätte zu schaffen -, in dem neuen Mysteriendrama «Der Hüter der Schwelle» [in «GA 14»] gleich in der ersten großen Szene künstlerisch-dramatisch gestaltet. Diese Szene spielt in dem Vorraum zu den Räumen eines Mystenbundes, von dem mehrere Menschen zusammengerufen worden waren, um ihnen kundzugeben, daß durch ein soeben erschienenes großes wissenschaftliches Werk die notwendige Voraussetzung geschaffen worden sei, damit nunmehr auch solche Menschen am Weiheort erscheinen können, die dies bisher - weil nicht eingeweiht - nicht durften. Der Großmeister des Mystenbundes begründet das in einer Rede über die Kontinuität der geistigen Führung der Menschheit, die nach einer Regieanweisung Rudolf Steiners vor den im Hintergrund angebrachten vier Porträtbildern von Elias, Johannes dem Täufer, Raffael, Novalis gehalten wird und mit den Worten beginnt:
In jenes Geistes Namen, der den Seelen
In unsrem Weiheorte sich verkündet,
Erscheinen wir in diesem Augenblicke
Vor Menschen, die bis jetzt nicht hören durften
Das Wort, das hier geheimnisvoll erklingt ...
20 Und als acht Jahre später, im Herbst 1920, der inzwischen auf dem Dornacher Hügel bei Basel errichtete Bau in Betrieb genommen werden konnte, da arbeitete Rudolf Steiner für die erste Bau-Veranstaltung diese selbe Rede in die in seinen Dichtungen äußerst selten vorkommende Ich-Form um und ließ sie bei der feierlichen Eröffnungshandlung von Marie Steiner von der Orgelempore aus in die beiden Kuppelräume hineinsprechen:
In jenes Geistes Namen, der den Seelen
In unsrem Strebensorte sich verkündet,
Erscheine ich in diesem Augenblicke
Vor Menschen, die von jetzt an hören wollen
Das Wort, das hier den Seelen ernst erklingt ...
21 Durch in das künstlerische Programm aufgenommene Texte aus der «Chymischen Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459» war auch die andere Johannes-Individualität, Lazarus-Johannes, in diese erste Bauveranstaltung einbezogen.
22 Dann, mit dem Ende von Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Vortragstätigkeit, im September 1924, es war genau vier Jahre nach der ersten Bauveranstaltung (im September 1920), kam die Bedeutung der Johannes-Forschung noch einmal eindringlich zum Ausdruck. Denn als er, schon schwer krank, sich am Sonntag, den 28. September 1924, dem Vorabend des Michaelitages, aufraffte, um noch einmal zu den anwesenden Mitgliedern zu sprechen, was war sein Anliegen? Die beiden Johannes-Individualitäten! In tief bewegender Art sprach er über die vier Inkarnationen von Elias, Johannes, Raffael, Novalis, um dann eigentlich hinzuführen zu dem neuen Ergebnis der Johannes-Forschung: der geheimnisvollen Verbindung beider bei der Auferweckung des Lazarus. Jedoch seine Kräfte reichten nicht mehr aus, um dieses neue Forschungsergebnis darzustellen. Es wurde nur angedeutet dadurch, daß nicht wie bisher immer Johannes der Täufer, sondern Lazarus-Johannes als der wiederverkörperte Elias genannt wurde. Weil es jedoch nicht weiter ausgeführt werden konnte, war für die Zuhörer eine Verständnisschwierigkeit entstanden. Einige Freunde, die ihn darüber noch befragen konnten, haben dasjenige, was er darauf geantwortet hat, wie folgt überliefert: [siehe oben]
[...]
23 Somit ist die Hiram-Johannes-Forschung Rudolf Steiners mit dem durch die letzte Ansprache angedeuteten Mysterium der Verbindung der beiden Johannes-Individualitäten zu einem geistigen Vermächtnis geworden, das dazu aufruft, sich immer wieder um dessen Verständnis zu bemühen, auch deshalb, weil die Frage nach den beiden Johannessen zu denjenigen Fragen gehört, deren Lösung für die Zukunft von besonderer Wichtigkeit sei. Dies ist als eine Äußerung Rudolf Steiners aus seiner allerletzten Lebenszeit überliefert.⁹
24 Nun wird zwar eine vollgültige Antwort auf die von Marie Steiner angesprochene Frage nach der Unterscheidung der Inkarnations- und Inkorporisationsgeheimnisse einer zukünftigen Geistesforschung überlassen bleiben müssen. Jedoch aus den vorliegenden Forschungsergebnissen kann doch einiges Licht in die Frage kommen, welcher Sinn mit dem Durchdringungsgeheimnis der beiden Johannes-Individualitäten verbunden sein muß. So kann, wenn man Darstellungen Rudolf Steiners zusammenbringt, die er in verschiedenen Zusammenhängen gegeben hat, erkennbar werden, daß ein Entscheidendes von diesem Sinn liegen muß in der Bedeutung des Mysteriums von Golgatha als «Besiegung des irdischen Todes durch das Leben des Geistes.» (Berlin, 23. Oktober 1908 [in «GA 107»]). Was darunter zu verstehen ist, geht aus der folgenden grundlegenden Klärung des Verhältnisses von Individualität und Persönlichkeit hervor:
25 «Man verwechselt heute leicht die Begriffe von Individualität und Persönlichkeit. Die Individualität ist das Ewige, das sich von Erdenleben zu Erdenleben hindurchzieht. Persönlichkeit ist dasjenige, was der Mensch in einem Erdenleben zu seiner Ausbildung bringt. Wenn wir die Individualität studieren wollen, so müssen wir auf den Grund der menschlichen Seele sehen, wollen wir die Persönlichkeit studieren, so müssen wir sehen, wie sich der Wesenskern auslebt. Der Wesenskern wird in das Volk, in den Beruf hineingeboren. Das alles bestimmt die innere Wesenheit, verpersönlicht sie. Bei einem Menschen, der noch auf untergeordneter Stufe der Entwickelung ist, wird man wenig von der Arbeit an seinem Innern bemerken können. Die Ausdrucksweise, die Art der Gesten und so weiter ist eben so, wie er sie von seinem Volke hat. Diejenigen sind aber die fortgeschrittenen Menschen, die sich die Ausdrucksweise und Gesten aus ihrem Inneren heraus geben. Je mehr das Innere des Menschen an seinem Äußeren arbeiten kann, desto mehr entwickelt das den Menschen. Man könnte nun sagen, so kommt also die Individualität in der Persönlichkeit zum Ausdruck. Derjenige, der seine eigenen Gesten, seine eigene Physiognomie, selbst in seinem Handeln und in bezug auf die Umgebung einen eigenartigen Charakter hat, hat eine ausgesprochene Persönlichkeit. Geht das nun beim Tode alles verloren für später? Nein, das geht es nicht. Das Christentum weiß ganz genau, daß das nicht der Fall ist. Was man unter der Auferstehung des Fleisches oder der Persönlichkeit versteht, ist nichts anderes als die Erhaltung des Persönlichen in alle folgenden Inkarnationen hinein. Was der Mensch als Persönlichkeit errungen hat, bleibt ihm, weil es einverleibt ist der Individualität und diese es fortträgt in die folgenden Inkarnationen. Haben wir aus unserem Leib etwas gemacht, was einen eigenartigen Charakter hat, so steht dieser Leib, diese Kraft, die da gearbeitet hat, wieder auf. So viel wir an uns selbst gearbeitet haben, so viel wir aus uns selbst gemacht haben, ist unverloren an uns.» (Berlin, 15. März 1906 [in «GA 54»])
26 Das reale Unsterblichkeitsbewußtsein hängt somit mit der Verpersönlichung der Individualität, der höheren Geistesglieder des Menschen, zusammen. Und daß dieser Prozeß zugleich die Durchchristung des Menschen bedeutet, darauf weist der folgende kurze Kommentar zu einer Stelle aus dem sogenannten Ägypter-Evangelium:
«Es gibt eine alte Schrift, in welcher das größte Ideal für die Entwickelung des Ich, der Christus Jesus, so charakterisiert wird, daß gesagt wird: Wenn die zwei eins werden, wenn das Äußere wie das Innere wird, dann hat der Mensch die Christushaftigkeit in sich erreicht. Das ist der Sinn einer gewissen Stelle des Ägypter-Evangeliums.» (München, 4. Dezember 1909 [in «GA 117»])
27 Noch klarer zeigt sich, wie das Einswerden von Innerem und Äußerem, von Individualität und Persönlichkeit gemeint ist, durch die Interpretation, die Rudolf Steiner in seinem Vortrag Berlin, 6. Mai 1909 [in «GA 57»] von der provenzalischen Sage von Flor und Blancheflor gibt. Diese Sage - die mit der Hiram-Johannes-Forschung in engem Zusammenhang steht, weil es heißt, daß die Seele, die in Flor besungen wird, wiederverkörpert erschienen ist im 13. und 14. Jahrhundert in dem Begründer des Rosenkreuzertums, zur Begründung einer neuen Mysterienschule, welche in einer neuen, der Neuzeit entsprechenden Weise das Christus-Geheimnis zu pflegen hat - erzählt nämlich von einem Paar, das am gleichen Tage, zur gleichen Stunde, im gleichen Hause geboren und gemeinsam erzogen wurde und sich von Anfang an in großer Liebe zugetan war. Durch Unverständnis anderer voneinander getrennt, begibt sich Flor auf die Suche nach Blancheflor. Nach schweren, bis zur Lebensbedrohung reichenden Gefahren, wurden sie endlich wieder vereint, bis sie auch am gleichen Tage starben.
28 Rudolf Steiner interpretiert nun diese Bilder so: Flor bedeutet soviel wie die Blume mit den roten Blättern oder die Rose, Blancheflor bedeutet die Blume mit den weißen Blättern oder die Lilie. Flor oder Rose ist «das Symbolum für die menschliche Seele, die den Persönlichkeits-, den Ich-Impuls in sich aufgenommen hat, die das Geistige aus ihrer Individualität wirken läßt, die bis in das rote Blut hinein den Ich-Impuls gebracht hat. In der Lilie aber sah man das Symbolum der Seele, die nur dadurch geistig bleiben kann, daß das Ich außerhalb ihrer bleibt, nur bis an die Grenze herankommt. So sind Rose und Lilie zwei Gegensätze. Rose hat das Selbstbewußtsein ganz in sich, Lilie ganz außer sich. Aber die Vereinigung der Seele, die innerhalb ist, und der Seele, die außen als Weltengeist die Welt belebt, ist dagewesen. Flor und Blancheflor drückt aus das Finden der Weltenseele, des Welten-Ich durch die Menschenseele, das Menschen-Ich. (...) In der Vereinigung von Lilienseele und Rosenseele wurde das gesehen, was Verbindung finden kann mit dem Mysterium von Golgatha. (Berlin, 6. Mai 1909)
29 Wenn es heißt, daß die Vereinigung der Seele, die innerhalb ist, und der Seele, die außen als Weltengeist die Welt belebt, dagewesen ist, so ist damit sicherlich die Vereinigung des Christus-Prinzipes als einem höchsten Geistigen mit der Persönlichkeit, dem irdischen Körper des Jesus von Nazareth gemeint. Denn nur dadurch, daß diese Zwei bis ins Physische hinein vollkommen eins geworden sind, konnte der irdische Tod wirklich besiegt werden.
30 Inwiefern nun der Gegensatz von Rosenseele und Lilienseele auch auf die beiden Johannes-Individualitäten zutrifft, zeigt sich daran, daß Hiram-Lazarus immer als Repräsentant der Persönlichkeitskräfte charakterisiert wird, während die Elias-Seele des öfteren als eine so hochgeistige Wesenheit geschildert wird, daß sie mit ihren irdischen Trägern [zB. Naboth], so auch mit Johannes dem Täufer, nur von außen her lose verbunden war.¹° Wenn die Vereinigung von Rosenseele und Lilienseele zur Verbindung mit dem Mysterium von Golgatha führen kann, so darf daraus im Hinblick auf die Vereinigung der beiden Johannes-Seelen bei der Auferweckung des Lazarus durch Christus Jesus geschlossen werden, daß der Jünger, den der Herr lieb hatte, jene Wesenheit geworden ist, auf die das Christus-Geheimnis von der Überwindung des Todes übergegangen ist und von ihr weitergetragen wird, wie es in dem über Christian Rosenkreutz gesagten Wort zum Ausdruck kommt: «Mit dieser Individualität und ihrem Wirken seit dem 13. Jahrhundert» - in dem sie eine neue Einweihung erfahren durfte - «verbinden wir alles dasjenige, was uns einschließt die Fortführung des Impulses, der gegeben worden ist durch die Erscheinung des Christus Jesus auf Erden und durch die Vollbringung des Mysteriums von Golgatha.» (Berlin, 22. Dezember 1912 [in «GA 141»])
31 Ein weiterer Aspekt dazu ergibt sich, wenn zu dem Wort aus dem Ägypter-Evangelium: «Wenn die zwei eins werden und das Auswendige wie das Inwendige» noch das sich daran anschließende dazugenommen wird: «und das Männliche wie das Weibliche wird, so daß es weder Männliches noch Weibliches gibt.» Dieses letztere Wort weist darauf hin, daß es keinen Tod mehr geben wird, wenn es keine Geschlechtlichkeit mehr gibt, da sich Tod und Geschlechtlichkeit gegenseitig bedingen. Schon Hiram Abiff wurde in der Tempellegende verheißen, daß ihm ein Sohn geboren werden wird, der, wenn er ihn auch nicht selbst sehen könne, ein neues Geschlecht hervorbringen werde, das nach Rudolf Steiner den Tod nicht mehr kennen wird, weil die Fortpflanzung nicht mehr über die den Tod bedingende Geschlechtlichkeit, sondern über das mit dem Herzen verbundene Wort, über die Sprache geschehen wird (Berlin, 23. Oktober 1905). Darum, so heißt es im Vortrag Köln, 2. Dezember 1906 [in «GA 97»], wird die Vervollkommnung des Menschen darin bestehen, daß sich die Fortpflanzungskräfte vom Schoß zum Herzen hinaufheben werden und daß «gerade die Seelenkraft des Johannes» es bewirken wird, daß das liebende Herz «Ströme geistiger Liebe» aussenden wird. Darauf werde im Evangelium dadurch hingedeutet, daß es bei der Schilderung des Abendmahles heißt, daß der Jünger, den der Herr lieb hatte und der um dieses Entwicklungsgeheimnis gewußt habe, sich vom Schoß des Herrn zu dessen Brust erhob.
32 Auf diesem Hintergrund gesehen deuten alle Dokumente, die von den Einweihungserfahrungen der Hiram-Lazarus-Johannes-Individualität in ihren verschiedenen Verkörperungen berichten (die Tempellegende, das Johannes-Evangelium, die Sage von Flor und Blancheflor, die «Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz anno 1459»; ebenso die kosmische Tat von Christian Rosenkreutz im Beginne des 17. Jahrhunderts, durch die ermöglicht werden sollte, den Kain- und Abel-Gegensatz sowohl im einzelnen Menschen wie in der Menschheit als Ganzes zu überwinden¹¹, auf das christliche Zentralgeheimnis von der Überwindung des Todes.
33 Auch Rudolf Steiner sah das Ziel seines Wirkens in dieser Linie. Das leuchtet hervor aus einer Äußerung bei der Begründung des erkenntniskultischen Arbeitskreises, als er davon sprach, daß die Bedeutung der theo- respektive anthroposophischen Bewegung darin liege, daß durch ihre weder rein männliche noch rein weibliche, sondern übergeschlechtliche Weisheit, auf dem geistigen Gebiet vorbereitet werden soll, was später auf dem physischen Plan geschehen werde: die Wiedervereinigung der Geschlechter (Berlin, 23. Oktober 1905). Damit erhält nicht nur die von ihm überall praktizierte vollwertige Zusammenarbeit von Männern und Frauen, auch im Arbeitszusammenhang des Kultischen, sondern auch das in dem gleichen Vortrag ausgesprochene Wort: «Ich habe mir vorbehalten, eine Einigung zu erzielen zwischen denen aus Abels und denen aus Kains Geschlecht» eine ganz besondere werkbiographische Bedeutung. Und dadurch kann wiederum verständlich werden, warum die Hiram-Johannes-Forschung wie ein A und O am Anfang und am Ende seiner geisteswissenschaftlichen Vortragstätigkeit steht und sich dazwischen wie ein «roter Faden» durch das ganze Werk zieht.
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¹ Darauf weist Rudolf Steiner selbst in seiner letzten Ansprache vom 28. September 1924 hin. Im Vortrag vom 25. Juli 1904 wurde ausgesprochen, daß gemäß der Akasha-Chronik der auferweckte Lazarus der Schreiber des Johannes-Evangeliums gewesen ist, derselbe Jünger, den der Herr lieb hatte und der unter dem Kreuze stand.
² Siehe «Wiederverkörperung und Karma», GA 135.
³ Siehe «Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen » (1909), GA 109; «Das Lukas-Evangelium» (1909), GA 114; «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit» (1911/12), GA 130; «Das Markus-Evangelium» (1912), GA 139; «Das Fünfte Evangelium» (1913/14), GA 148.
⁴ Friedrich Rittelmeyer in «Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner», Stuttgart (1. Auflage 1928).
⁵ Dieser Name wurde aber auch anderen Personen beigelegt, «so daß nicht alles, was in der äußeren Welt da oder dort über den Grafen von St. Germain gesagt wird, auch für den wirklichen Christian Rosenkreutz gelten kann.» (Neuchâtel, 27. September 1911).
⁶ Von Marie Steiner persönlich an Günther Schubert und von diesem der Herausgeberin dieses Bandes mitgeteilt. Später, im Jahre 1923, hat Rudolf Steiner noch einmal in kleinem Kreise davon gesprochen, vgl. M. Kirchner-Bockholt in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Nachrichten für deren Mitglieder» 1963, Nr. 48 und 49.
⁷ Siehe «Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswirkungen», GA 284.
⁸ Eine gewisse Begründung für diese Vermutung könnte in dem Triptychon «Gral» von der Malerin Anna May gesehen werden, das nach einer Äußerung Marie Steiners nach den Vorträgen in Neuchätel entstanden ist. Es zeigt im Mittelteil das Golgatha-Geschehen und Joseph von Arimathia, der das Blut Christi auffängt; auf dem linken Seitenflügel die Gestalten aus der Tempellegende König Salomo, die Königin von Saba und Hiram Abiff; auf dem rechten Seitenflügel die von Rudolf Steiner in Neuchatel erstmals geschilderte Einweihung von Christian Rosenkreutz im 13. Jahrhundert. Rudolf Steiner habe dafür Anna May auch einige Angaben gemacht. Siehe Margarete Hauschka in «Das Goetheanum » 1975, Nr. 24 mit einer schwarz-weißen Abbildung des Gemäldes.
⁹ Überliefert von Ludwig Polzer-Hoditz aus seinem Gespräch mit Rudolf Steiner am 3. März 1925.
¹° Siehe Vortrag Berlin, 14. Dezember 1911, und «Das Markus-Evangelium», GA 139.
¹¹ Siehe «Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit», GA 130.
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWvtr100000004.htm