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Altpersische Todesbilder
1 Die zoroastrischen Lehren über den Zustand der einzelnen Menschen nach dem Tode und über den Zustand der Welt nach dem Ende der »begrenzten Zeit« waren in ihrer Epoche revolutionär. Andeutungen dieser Lehren sind in den Gathas [a] selbst enthalten, aber wer Genaueres wissen will, muß auch in diesem Fall das Bundahischn [b] konsultieren. Bedenkt man, daß die entsprechenden Stellen Übersetzungen von verlorengegangenen avestischen Schriften aus der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends oder aus noch früherer Zeit sind, kommt man in der Tat ins Staunen.⁴⁶
2 Vor Zarathustras [c] Zeit hatten sich bei den Iranern weitgehend ähnliche Vorstellungen vom Leben nach dem Tode entwickelt wie bei den vedischen Indern. Zuerst glaubte man, alle Toten führten ein trauriges und schattenhaftes Dasein unter der Erde.[d] Später entstand die Vorstellung, ein paar auserwählte einzelne - Fürsten, Krieger und Priester, die alle Anforderungen des Ascha [e] erfüllt und den Göttern großzügige Opfer gebracht haben - würden nach dem Tode in einem himmlischen Paradies wohnen, wo sie Sonne, Licht und alle Sinnenfreuden genössen. Das Schicksal jedes einzelnen entschied sich auf der Brücke über einen Abgrund: nur die Seelen der paar Ausersehenen konnten darüber hinweggehen, die übrigen stürzten geradewegs in die freud- und trostlose Unterwelt hinab.⁴⁷
3 Der Prophet übernahm das Bild der Brücke, aber gab ihm einen neuen moralischen Inhalt. In seiner Lehre können sich alle Menschen - Frauen so gut wie Männer, die Niedrigen so gut wie die Hohen - Hoffnungen auf den Himmel machen; die einzige unerläßliche Voraussetzung ist das sittliche Verdienst, natürlich mit zoroastrischem Maßstab gemessen. Auf der Brücke werden die Gedanken, Worte und Taten jedes Menschen vom fünfzehnten Lebensjahr an abgewogen. Wenn diejenigen schwerer wiegen, die mit zoroastrischen Anschauungen davon, was gut ist, übereinstimmen, so kommt der oder die Betreffende in »die leuchtenden Häuser des Himmels«, um dort in der Gegenwart Ahura Mazdas [f] und der Heiligen Unsterblichen zu wohnen. Wenn dagegen die bösen Gedanken, Worte und Taten schwerer sind, so kommt der oder die Betreffende in die Unterwelt. Und schon in den Gathas hat die Unterwelt eine neue Bedeutung angenommen: sie ist der Wohnsitz der Lüge, das angestammte Reich Angra Mainyus [g]. Sie ist ein Ort der Bestrafung, wo die Seelen der Verdammten im Dunkeln unter großem Wehgeschrei gefoltert und mit den ekelhaftesten Speisen gefüttert werden. Mit einem Wort, die Unterwelt ist zur Hölle [Infernum] geworden: auch diese Vorstellung scheint eine Neuerung Zarathustras gewesen zu sein.
4 Zarathustra hat die traditionellen Anschauungen offenbar noch in anderer Hinsicht abgewandelt. Vor ihm hatte der Glaube geherrscht, daß die wenigen auserlesenen Seelen, die in den Himmel kamen, sich nach Ablauf eines Jahres wieder mit ihren Körpern vereinigten, die sich inzwischen in unsterbliches Fleisch verwandelt hatten. Die Gathas lassen erkennen, daß der Prophet das völlig anders sah. In seinen Augen war der Himmel anscheinend von körperlosen Seelen bevölkert. Am Ende der »begrenzten Zeit« jedoch sollte es eine allgemeine körperliche Auferstehung geben.
5 Die Männer, die die avestischen Schriften verfaßten,[h] waren sich sehr wohl darüber im klaren, daß eine allgemeine körperliche Auferstehung vielen unglaublich erscheinen würde, und sie warteten mit einer wunderbar dichterischen Erklärung auf. »Ein Körper«, lassen sie Zarathustra fragen, »den der Wind wegtrug, das Wasser entführte, von wo aus kann man ihn wiederherstellen, und wie wird die Auferstehung vor sich gehen?« Ahura Mazdao entgegnet: »Als ich die Erde schuf, die das ganze irdische Dasein ... trägt, ... als ich zugleich das Korn so schuf, daß man es auf der Erde ausstreut, und es emporwächst und mit Vermehrung zurückkommt, ... als ich die himmlische Wolke schuf, die das irdische Wasser bringt dort, wo sie zu regnen wünscht, als ich auch die Luft schuf, die augenscheinlich durch die Kraft des Windes nach unten und nach oben fährt, wie es ihr Wunsch ist ... - als ich diese Dinge schuf, war jedes einzelne von ihnen schwieriger als die Auferstehung der Toten ... Merke: wenn das, was nicht war, damals von mir gemacht wurde, warum sollte es dann nicht möglich sein, das wieder zu machen, was schon gewesen ist?«⁴⁸ Genau wie seine erste Schöpfung sollte auch die Auferstehung der Toten ein Wunderwerk Ahura Mazdas sein, ein Schritt in der Umsetzung seines Planes, das ganze Dasein vollkommen zu machen.
6 Wie der Anfang des kosmischen Kampfes, so war Zarathustra auch sein Ausgang offenbart worden. Am Ende der »begrenzten Zeit« - die auch das Ende der »Zeit der Mischung« sein wird - wird die Welt ein Ordal [Gottesurteil] durchmachen, das sie von allem Bösen, auch von den gottlosen Toten, läutern wird. Alle Menschen, die je gelebt haben, werden sich zu einer großen Versammlung zusammenfinden, in der jeder einzelne seine guten und bösen Taten vorgehalten bekommt, und die Erlösten werden von den Verdammten so deutlich zu unterscheiden sein wie ein weißes Schaf von einem schwarzen. Dann werden das Feuer und der Geist der Heilkunst zusammen das Metall in Hügeln und Bergen schmelzen, die Erde wird von einem großen Strom geschmolzenen Metalls bedeckt sein, und alle werden den Strom durchschreiten müssen. Den Gerechten wird es vorkommen, als ob sie in warmer Milch gingen, nur die Gottlosen werden merken, daß sie sich tatsächlich in geschmolzenem Metall befinden.⁴⁹
S153ff
46 Zur zoroastrischen Lehre über das Leben nach dem Tode: Lommel, Religion Zarathustras, S. 185-204; Zaehner, Teachings of the Magi, S. 25; ders., Dawn and Twilight, S. 55-57, 304-307; Boyce, History, Bd. 1, S. 109-117, 198, 236-241. Einen genauen Überblick über zoroastrische Schriften zu dem Thema gibt Jal Dastur Cursetji Pavry, The Zoroastrian Doctrine of a Future Life from Death to the Individual Judgment, New York 1926. Zur zoroastrischen Lehre über den Endzustand der Welt siehe [...]: N.Söderblom, op. cit. [La vie future d'après le mazdéisme, Paris 1901]; G. Widengren, »Leitende Ideen und Quellen der iranischen Apokalyptik«, in HELLHOLM, S. 77-162. Besonders relevant ist das 34. Kapitel des Bundahischn, und die folgende Darstellung der großen Vollendung der Welt basiert darauf.
47 Dieselben beiden gegensätzlichen Erwartungen hielten sich bei den Indoariern nach ihrer Ankunft in Indien [im Industal des heutigen Pakistan] noch eine Zeitlang; vgl. E. Arbman, »Tod und Unsterblichkeit im vedischen Glauben«, in Archiv für Religionswissenschaft, Leipzig und Berlin, 25 (1927), S. 339-389, und 26 (1928), S. 187-240.
48 Bundahischn 34,4f. Übers. G. Widengren, Iranische Geisteswelt von den Anfängen bis zum Islam, Baden-Baden 1961, S. 216 f (leicht verändert).
49 Vgl. Yasna 44,15 und 51,9; Söderblom, op.cit., S. 224; Boyce, History, Bd. 1, S. 242-244 (mit Hinweisen in den Fußnoten auf ausführlichere Schilderungen im Bundahischn und anderen Pahlavibüchern).
S.366f
Norman Cohn
aus «Die Erwartung der Endzeit»
Unsere Anmerkungen
a] siehe P.Eberhardt: «Das Rufen des Zarathustra»
b] Das «Bundahischn» (auch Bundehesch ~ Gründung, Urschöpfung) ist ein mittelpersischer zoroastrischer Pachlawi-Text, der sich mit altiranischer Mythologie und Kosmogonie befasst samt einigen Bereichen der präzoroastrischen Vorstellungswelt.
c] siehe »TzN Sep.2023«
d] wie danach wieder bei den Israeliten im Scheol sowie den Griechen im Hades
e] der gerechten göttlichen Ordnung (bei den alten Indern rita, den Altägyptern ma'at)
f] siehe Ahura Mazda (lex.)
g] siehe Ahriman (lex.)
h] An mündlicher Überlieferung waren stets auch Frauen beteiligt.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202511.htm