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Neudenken:
Plastizität und Begrenzung
1 Als ich einmal mit meinen Schülern den Löwenzahn durchgenommen hatte, stellte ich die Frage: Was wird vererbt? Ein Schüler antwortete: Nichts! Eine erstaunliche Antwort. Andere Schüler meinten, die Gestalt oder Struktur der Pflanze sei vererbt, doch der erste Schüler hielt an seiner Antwort fest, da er gesehen hatte, daß Gestalt, Größe und Farbe einer Pflanze abhängig von Zeit und Umgebung variieren. Er folgerte daraus, daß es etwas Feststehendes, ein Ding oder einen Gegenstand, der vererbt werden könnte, nicht gibt. Er war in seiner Auffassung von Vererbung über das Gegenstandsdenken hinausgegangen.
2 Die Offenheit einer Pflanze gegenüber ihrer Umwelt geht der Festgelegtheit voraus. Die Pflanze könnte sich nicht entwickeln und sich dabei auf die spezifischen Bedingungen ihrer Umgebung beziehen, wenn sie im voraus festgelegt wäre. Die Fähigkeit zur Entwicklung aus einem unbestimmten, keimhaften Zustand heraus wohnt der Vererbung inne.[a]
3 Wäre jedoch Plastizität [b] der einzig relevante Aspekt, dann müßten alle Pflanzen in einer bestimmten Umgebung nahezu identisch sein und allein den Umgebungszusammenhang widerspiegeln. In Wirklichkeit wird der Aspekt der Bildsamkeit oder Plastizität in der Vererbung ergänzt durch den Aspekt der Begrenzung oder Spezifität.[c]
[...]
4 Diese Unterschiede [d] sind nicht Ausdruck unterschiedlicher Umgebungen, da beide Pflanzen in derselben Umgebung gewachsen sind. Aus welchem Zusammenhang lassen sich diese Unterschiede dann aber erklären? Einen ersten Hinweis gibt die Tatsache, daß sich die Pflanzen entwickelt haben. Die Herkunft der Samen spielt offensichtlich eine große Rolle. Denn wenn man in derselben Umgebung Samen ein und derselben Greiskrautpflanze sät, sind alle daraus entstehenden Pflanzen in ihrem Erscheinungsbild sehr ähnlich (Bockemühl, [J.] 1972 [Der Jahreslauf als Ganzheit in der Natur. Elemente der Naturwissenschaft 16, S. 17-33.]; Holdrege, [C.] 1986 [Schritte zur Bildung eines lebendigen Vererbungsbegriffes. Elemente der Naturwissenschaft 45, S. 27-61.]).
5 Ausgehend von solchen Beobachtungen fand man heraus, daß beim Greiskraut Samen entweder durch Fremd- oder Selbstbestäubung oder aber durch Apomixis, d.h. durch einfache Zellteilungen ohne Keimzellbildung und Befruchtung, gebildet werden können. Das ist übrigens auch beim Löwenzahn und bei zahlreichen anderen Kräutern der Fall.
6 Unter Typ verstehe ich hier demnach eine Pflanzengemeinschaft [...], die sich einerseits morphologisch von den anderen Typen unterscheidet und die andererseits fortpflanzungsmäßig abgeschlossen ist. Die Pflanzen eines Typs sind Nachkommen derselben Mutterpflanze. Durch Apomixis bilden sie das, was man in moderner Terminologie einen Klon nennen kann.
7 Offensichtlich hat die Abgeschlossenheit in der Fortpflanzung etwas mit der innerhalb eines Typs beobachtbaren morphologischen Einheitlichkeit und der Verschiedenheit zwischen den Typen zu tun. Die Frage ist, wie dieser Zusammenhang begriffen werden kann. Man kann sicherlich sagen, daß die Pflanze in ihren Gestaltungsmöglichkeiten ebenso eingeschränkt ist wie in der Fortpflanzung. Zwei Exemplare verschiedener Typen werden sich aus ihrer erblichen Plastizität heraus beide in Übereinstimmung mit der Umgebung entwickeln, doch geschieht dies jeweils im Rahmen der typgemäßen Grenzen.
Craig Holdrege
aus «Der vergessene Kontext»; S.44f
Unsere Anmerkungen
a] vgl. R.Steiner zum Menschenkeim
b] vgl. »TzN Jun.2008«: Anm.e
c] vgl. Th.Hardtmuth zur Hemmung
d] in der Blattbildung zweier Greiskräuter
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202306.htm