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Nationalismuswarnung
1 Es mag dahingestellt bleiben, ob der Krieg als eine unvermeidliche Begleiterscheinung der menschlichen Zustände anzusehen ist oder sogar, wie andere meinen, als eine Art notwendiger Zuchtrute, durch die eine Regeneration verderbter Lebensverhältnisse herbeigeführt wird. Wer ihn aus der Nähe kennengelernt hat, weiß nur zu gut, daß er weit weniger »eine Schule des Opfermutes und der Entsagung« (Moltke [a]) ist, als eine Brutstätte der Verrohung und Verwilderung, der Niedertracht und Korruption.[b] Auch die Frage, ob der Krieg jemals durch irgendwelche soziale Veränderungen gänzlich aus der Welt zu schaffen sein kann, braucht uns nicht zu beschäftigen. Denn die menschliche Gesellschaft kämpft, seitdem sie überhaupt eine soziale Organisation besitzt, gegen vielerlei Übel, die sie bisher nicht ausrotten konnte, ohne daß sie den Kampf dagegen aufgegeben hätte.
2 Eines aber ist gewiß: wenn die Kriegsursachen praktisch bekämpft werden sollen, so kann es nur auf internationalem Wege geschehen. Ohne Internationalismus [c] ist jede Auflehnung gegen den Krieg utopistisch, ja sinnlos. Deshalb liegt die erste Bedingung für die Bekämpfung der Kriegsursachen in der Herstellung internationaler Verbindungen auf der Grundlage eines echten Internationalismus der Gesinnung und in der Erkenntnis, daß das stärkste Hindernis dieser Bekämpfung in jener Überspannung des nationalen Selbstgefühles besteht, die man als Chauvinismus bezeichnet. Leider ist gegenwärtig nichts häufiger als die Verwechslung des chauvinistischen Nationalbewußtseins mit dem berechtigten Heimatsgefühl, das eine starke Triebfeder des natürlichen Menschen bildet. Die Auswirkungen dieses Heimatsgefühles, die sich in der Bereitschaft zu Opfern für die nationale Gemeinschaft offenbaren, besitzen unstreitig ideellen Rang; und verglichen mit dem bloßen Geschäfts- oder Nützlichkeitsstandpunkt muß der nationale gewiß als der höhere gelten. Das hindert aber nicht, daß er auf der Stufenleiter der ideellen Werte hinter anderen weit zurückbleibt. Zudem wird der Nationalismus auf verhängnisvolle Weise durch den Mißbrauch befleckt, der im politischen Leben damit getrieben wird, ebenso wie durch die chauvinistische Überspannung, zu der er sich allzuleicht aufstacheln läßt. Besonders während des Krieges hat dieser Mißbrauch ganz allgemein die bessere Einsicht umnebelt, und viele, die sonst jedem Chauvinismus fernstanden, hielten es für eine »patriotische Pflicht«, jede Regung internationaler Gerechtigkeit dem Nationalbewußtsein hintanzusetzen.
[...]
3 Allerdings - es ist schwierig und undankbar, Gefühlskomplexe, denen äußere Umstände die Macht von Leidenschaften verleihen, als intellektuelles Problem zu behandeln. Gegen Gefühle kann man eigentlich mit Verstandesgründen nicht kämpfen; Gefühle sind bei den meisten Menschen stärker als alle Logik; und wo sie in Widerspruch mit prinzipiellen Anschauungen treten, gehen sie gewöhnlich als Sieger hervor. Man glaubt im allgemeinen, dieses Überwiegen der Gefühlstätigkeit über die des Verstandes sei ein besonderes Merkmal des weiblichen Geschlechtes; aber gerade das Nationalgefühl beweist, daß die Männer ihm in gleicher Weise erliegen. Der unselige Haß unter den Nationen aber würde schwinden, sobald sich das Nationalgefühl einer vernünftigen Kontrolle unterwerfen ließe.
Rosa Mayreder (1921) [d]
aus «Frauen gegen den Krieg»; S.89f
Unsere Anmerkungen
a] Generalfeldmarschall Helmuth Johannes Ludwig Graf v.Moltke
b] vgl. R.Steiner zu Krieg, Inspiration und animalischen Trieben
c] So wichtig der Austausch zwischen den Nationen auch ist, einen ideologischen Ismus verträgt er kaum.
d] Die im Jänner 1938 (!) verstorbene Philosophin und feministische Publizistin verglich sich als Zwanzigjährige mit Kassandra.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202305.htm