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Neudenken:
Besinnung auf die Aufmerksamkeit
1 Die menschliche Aufmerksamkeit ist im Prinzip frei, d. h. auf Beliebiges hinlenkbar. Die «Aufmerksamkeit» der Tiere ist artbedingt beschränkt. Wie erwähnt kann auch die menschliche Aufmerksamkeit durch die im Unterbewußten festgehaltenen Aufmerksamkeitsteile teilweise eingeschränkt werden. Über diese verfügt das Ich [a] nicht mehr frei. Die freie Aufmerksamkeit kann von Themen angezogen werden - ein interessantes Buch, ein Problem -, aber sie bleibt darüber hinaus versetzbar.
2 In der Aufmerksamkeit ist ein heller Wille tätig, wie im Denken; zunächst ist ja die Aufmerksamkeit eine denkende, auch wenn sie im Wahrnehmen beschäftigt ist. Das Denken ist beim modernen Menschen die einzige durchsichtige, helle, unmittelbar verständliche Seelenfunktion: durchsichtig, hell, verständlich für sich selbst, denn allen anderen Seelenfunktionen leiht das Denken Verständlichkeit.[b] Das Denken ist zunächst, was das Alltagsbewußtsein anbelangt, das Verstehen selbst. Zugleich ist das Denken diejenige Seelenfunktion, über die das Ich die größte Macht hat, in der es sich willentlich frei bewegen, artikulieren kann. Ich kann Beliebiges denken; keineswegs kann ich Beliebiges fühlen; der Wille wird durch das Denken oder Vorstellen gelenkt, wenn das Handeln vom Ich ausgeht. So ist das Denken die Quelle der menschlichen Freiheit; es steht auch im Beginn von Tätigkeiten, wie die künstlerische oder kultische, die aus dem Überbewußten impulsiert werden. Auch zu den sogenannten instinktiven Handlungen, die vom Unterbewußten stammen, muß das Denken seine Zustimmung, vielleicht stillschweigend, geben. Daher kann für den modernen Menschen eine Bewußtseinsschulung nur scheinbar anderswo als beim Denken beginnen: es wird höchstens nicht bemerkt, daß das Tun durch Denken beschlossen, formuliert und gelenkt wird.[c]
3 Die Aufmerksamkeit des heutigen Erwachsenen ist intentional, d. h. gerichtet auf etwas: er kann ohne Objekt nicht aufmerksam sein. Beim kleinen Kind ist eine andere Art der Aufmerksamkeit zu finden. Auf etwas kann man die Aufmerksamkeit nur richten, wenn man «etwas» schon kennt, d. h. wenn dieses für das Bewußtsein begrifflich konturiert erscheint. «Etwas», «das» bedeutet Einzelheiten [...] die man von der Umgebung abgrenzt: dadurch werden sie eben Einzelheiten. Die ersten und grundlegenden Begrifflichkeiten erwirbt sich das Kind mit der Muttersprache. Der Spracherwerb ist ein höchst intuitiver, einzigartiger Vorgang, der - wie auch die späteren Intuitionen - nicht auf intentionaler Aufmerksamkeit beruht, beruhen kann. Die intentionale oder greifende Aufmerksamkeit ist schon durch ein Objekt besetzt, kann also Neues nicht entgegennehmen.[d] Dazu muß die Aufmerksamkeit zwar konzentriert, aber «leer», empfangend sein. Man kann daher die Aufgabe der Bewußtseinsschulung so formulieren: Wie kann der Erwachsene, sein Ichbewußtsein bewahrend, die empfangende Aufmerksamkeit des Kindes, die beim Sprechenlernen bis zur Sprechintention oder zum »Wort des Herzens» (Thomas von Aquin) reicht, wieder erlangen? [...]
4 Die Geschichte der Aufmerksamkeit beginnt beim kleinen Kind mit einer großen empfangenden Hingabe. Durch «Belehrung» wird die Aufmerksamkeit befähigt, auf Laute, Worte, Begriffe zu achten. Die freie Aufmerksamkeit ist auf das Worthafte, Ideelle angelegt. Durch die Belehrung wird sie intentional - durch die Begriffe - und zugleich gebunden an eine stets wachsende Anzahl von Begriffen, Erinnerungen und Inhalten, vor allem aber durch die Bildung der Egoität. Denn diese besteht aus Aufmerksamkeit, die in der Selbstempfindung gefangen ist. Eine der Aufgaben der Bewußtseinsschulung wird es sein, die gefangenen Teile der Aufmerksamkeit zu befreien, damit sie zur Intensität der Hingabefähigkeit, der freien Aufmerksamkeit beitragen können.
Georg Kühlewind
in „Die Schulung der Aufmerksamkeit”
aus «Freiheit erüben»; S.58ff
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl.5
b] „Denken ist nicht Untätigkeit, sondern selbst in sich das Handeln, das in der Zwiesprache steht mit dem Weltgeschick.” Martin Heidegger in »Der Spiegel« Nr.46/11.XI.2002; S.142
c] vgl. ders. zu Bewusstsein u. Denken
d] vgl. ders. zur Improvisation
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202211.htm