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Neudenken:
Grenzerfahrung
1a So wie die Welt des Ursprungs vergessen ist, so hat sich auch über das Leben nach dem Tode ein dichter Vorhang der Unwissenheit gesenkt. Was in den Kulturen alter Völker noch selbstverständlich war, den Weg der Seele nach dem Tod in genauen Vorstellungsbildern zu begleiten, ist dem Verstand des modernen Menschen verdächtig als Wunschtraum und vage Spekulation. Der ehemals reiche Schatz des Wissens findet höchstens einen letzten Niederschlag im Bereich der Ahnungen und Empfindungen einzelner Menschen. - Wenn die Sonne im Westen untergegangen ist, so gibt es danach eine kurze Zeitspanne, in der das Nachglühen sich im Osten spiegelt und Erde und Himmel wie verklärt erscheinen. Wie, wenn es auch Hereinspiegelungen aus dem Grenzbereich des Todes im Hiesigen gäbe? Und wir uns von den Leuchtspuren, die die untergegangene Lebenssonne [a] eines Menschen im Seelenraum der irdischen Umwelt zeichnet, die Wege leiten lassen dürfen, die allmählich zur Erkenntnissicherheit führen?
1b Wir erleben zumeist den Tod als Vernichter des Lebens, als den, der uns etwas nimmt. Ist das alles? Oder nur die eine Hälfte der Wahrheit? Können wir auch das andere erfahren, daß der Tod etwas gibt? Der Tod als Vernichter und - Offenbarer! Wenn ein Mensch erkrankt und es dem Ende zugeht, dann müssen wir gewahren, wie die Lebenskräfte abnehmen und sich die Runen des Verfalls einzeichnen. Aber auch das andere ist zu bemerken, wie sich z. B. in den letzten Wochen und Tagen die Augen verändern. Der Blick bekommt einen Glanz [b], eine Tiefe, die uns manches aus dem Innersten offenbart, was wir nicht ahnten. Worte können gesprochen werden, die das Leben bislang streng versiegelte. Leise Grenzverschiebungen zeigen sich an. Manches Raum-Zeitliche wird fern, während Fernstes dem sich erweiternden Bewußtsein leicht erreichbar scheint. Und ist die Schwelle überschritten, dann dürfen wir manchmal erleben, wie die Klage verstummt im Angesicht der Majestät, der Größe, die sich auf dem Antlitz des Verstorbenen ausprägt. Der Siegelabdruck des Geistes löscht alles Kleine und Mühevolle aus, so daß wir uns zuweilen betroffen fragen: Wer war das, der da unter uns gelebt hat? Kannten wir ihn? - Unser Wesen ist auf Erden verhüllt. Der Tod aber enthüllt! Zuweilen ist es einem Menschen noch vergönnt, von dem, was er im Sterben erfährt, zu seinen Angehörigen zu sprechen. So wird uns von Friedrich Schleiermacher [c] berichtet, daß er zu seiner Frau sagte: „Ich bin in einem Zustand, der zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit schwankt. Aber in meinem Inneren erlebe ich die schönsten Augenblicke. Ich muß die tiefsten Gedanken denken, jenseits alles Wissens, und sie sind für mich eins mit den innigsten religiösen Empfindungen.”[d]
S.101ff
2 Warum fühlen wir auf Erden Zurückbleibenden uns in der ersten Spanne des Allein-Seins so gedrängt, fortwährend in Erinnerungen zu leben? Nicht nur die letzte Zeit, längst vergangene, fast vergessene Bilder tauchen auf in lebensvoller Nähe. Hängt das Umhülltsein mit dem dichten Mantel der Erinnerungen damit zusammen, daß die Seele des Verstorbenen selber jetzt auf das Erdenleben zurücksieht? Schon der Sterbende erfährt, wie die Zeit zum Raum wird, und die Ereignisse seines Lebens ihn in mächtigen Bildern umstehen. Wir schauen an - und werden angeschaut. Viele Menschen, die durch das Schicksal an die Todesgrenze geführt wurden, haben eine Vorahnung dieses Erlebens geschmeckt. Der Blick in diesen Bildspiegel des vergangenen Lebens reinigt, da er gegossen scheint aus den Elementen der klarsten Unerbittlichkeit. [...] Während des Erdenlebens sind wir meist Gefangene des eigenen Vorstellens und Empfindens. Man kostet den eigenen Schmerz, die eigene Freude. Wie selten gelingt es uns, die Mauer der Selbstheit zu durchbrechen und in das Erleben anderer Seelen einzutauchen! Ein Schleier der Selbsttäuschung verhüllt uns den Anblick der Auswirkungen unseres Tuns und Verhaltens auf andere. Dieser Schleier zerreißt nach dem Tod. Nun tauchen wir, rückwärtssehend, nicht nur in das Selbst-Erlebte hinab, sondern auch in das Erleben der damit verbundenen anderen Menschen. Und das ist nicht immer freudvoll. Wenn man bedenkt, wie sehr uns schon auf Erden die Scham brennen kann, wenn uns ein häßliches, selbstsüchtiges Verhalten bewußt wird, dann bekommen wir eine Vorstellung von dem Zustand, den man Fegefeuer [e] nennt.
S.105f
Barbara Nordmeyer
aus «Fragen an das Schicksal»
Unsere Anmerkungen
a] Die Erde hat ihr Leben von der Sonne, der Mensch seines von der Erde.
b] den Glanz der ureigenen Sternenherkunft
c] Schleiermacher, der evangelische Theologe, Pädagoge, Philosoph und Publizist, Begrüder der Hermeneutik
d] vgl. «E+E»: Abs.57}ff
e] purgatorium - vgl. Steiner zur Seele nach dem Tode
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202011.htm