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Neudenken:
Landschaft formt
Wladimir Putin bezeichnet sich als religiösen Menschen, als engagiertes Mitglied der Russisch-Orthodoxen Kirche.[a] Es könnte also gut sein, dass er, wenn er abends zu Bett geht, seine Gebete spricht und Gott [b] fragt: »Warum hast du nicht ein paar Berge in die Ukraine gestellt?«
Hätte Gott in der Ukraine Berge geschaffen, dann würde das ausgedehnte Flachland der nordeuropäischen Tiefebene nicht zu Angriffen auf Russland einladen, wie es mehrfach der Fall war. So wie es ist, bleibt Putin keine Wahl: Er muss zumindest versuchen, die Ebene im Westen zu kontrollieren. So ergeht es allen Staaten der Welt, seien sie klein oder groß. Die Landschaft nimmt die Regierungschefs gefangen, lässt ihnen weniger Optionen und Raum für Manöver als man denkt. Dies galt für das Athener Imperium, für die Perser wie die Babylonier und frühere Reiche. Es traf auf alle Führer zu, die auf hoch gelegenes Gelände aus waren, um ihren Stamm zu schützen.
Seit jeher hat uns das Land, auf dem wir leben, geformt. Es hat die Kriege, die Macht, die Politik und die gesellschaftliche Entwicklung der Völker geformt, die mittlerweile nahezu jeden Teil der Erde bewohnen. Technologien überwinden scheinbar die mentalen wie räumlichen Entfernungen zwischen uns, sodass leicht vergessen wird, dass das Land, in dem wir leben, arbeiten und unsere Kinder aufziehen, höchst bedeutsam ist und dass die Entscheidungen derer, die die sieben Milliarden Bewohner dieses Planeten führen, in gewissem Maße schon immer durch die Flüsse, Berge, Wüsten, Seen und Meere, die uns alle eingrenzen, geformt werden.
Es gibt keinen einzelnen geographischen Faktor, der wichtiger ist als irgendein anderer. Berge sind nicht wichtiger als Wüsten, Flüsse nicht wichtiger als Dschungel. In den unterschiedlichen Gebieten der Erde sind es unterschiedliche geographische Merkmale, die zu den dominanten Faktoren gehören, die bestimmen, was Menschen tun können und was nicht.
Allgemein gesagt: Geopolitik zeigt auf, wie internationale Angelegenheiten vor dem Hintergrund geographischer Faktoren zu verstehen sind. Dabei geht es nicht nur um die tatsächliche Landschaft - die natürlichen Barrieren durch Berge oder die Verbindungen durch Flusssysteme beispielsweise -, sondern auch um Klima, Demographie, Kulturregionen und den Zugang zu natürlichen Ressourcen. Solche Faktoren können erhebliche Auswirkungen auf viele Bereiche unserer Zivilisation haben, von politischen und militärischen Strategien bis hin zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft samt Sprache, Handel und Religion.
Die physischen Realitäten, die der nationalen und internationalen Politik zugrunde liegen, werden zu oft außer Acht gelassen - sowohl bei der Geschichtsschreibung als auch bei der aktuellen Berichterstattung aus aller Welt. Geographie ist eindeutig ein grundlegender Teil des »Warum« und auch des »Was«. Sie ist vielleicht nicht der bestimmende Faktor, aber ganz sicher jener, der am häufigsten übersehen wird. Nehmen wir zum Beispiel China und Indien: zwei gewaltige Länder mit einer riesigen Bevölkerung, die eine sehr lange gemeinsame Grenze haben, aber weder politisch noch kulturell auf einer Linie sind. Es würde also nicht überraschen, wenn sich diese beiden Giganten mehrere Kriege geliefert hätten - doch das haben sie, abgesehen von einer einen Monat dauernden Auseinandersetzung 1962,[c] nicht getan. Warum? Weil zwischen ihnen die höchste Gebirgskette der Welt liegt und es praktisch unmöglich ist, mit großen Militärkolonnen durch oder über den Himalaja vorzustoßen. Mit immer ausgefeilteren Technologien werden natürlich auch Möglichkeiten eröffnet, dieses Hindernis zu überwinden, aber die physische Barriere bleibt eine Abschreckung. Deshalb konzentrieren sich beide Länder bei ihrer Außenpolitik auf andere Regionen, während sie einander argwöhnisch im Auge behalten.
Einzelne Führungspersönlichkeiten, Vorstellungen, Technologien und andere Faktoren spielen alle eine Rolle bei der Ausformung von Ereignissen, aber sie sind vergänglich. Jede neue Generation steht wiederum vor der physischen Blockade, die Hindukusch und Himalaja darstellen. Das Gleiche gilt für die Herausforderungen durch die Regenzeit und die Nachteile aufgrund des beschränkten Zugangs zu Bodenschätzen oder Nahrungsquellen.
Tim Marshall
aus «Die Macht der Geographie»; S.7ff
Unsere Anmerkungen
a] Präsident Putins Affinität zu konfessionellem Christentum erinnert an Kaiser Constantin und sein „In hoc signo vinces”.
b] vom britischen Humor abgesehen vgl. Mbl.12: Anm.3
c] und einiger tödlicher Grenzscharmützel wie in jüngster Zeit
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202009.htm