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Individuationsweg
Die GANZHEIT DER PERSÖNLICHKEIT ist erreicht, wenn alle Gegensatzpaare differenziert sind, wenn also die beiden Anteile der Gesamtpsyche, Bewußtsein und Unbewußtes, miteinander verknüpft sind und zueinander in lebendigem Bezug stehen. Wobei das energetische [a] Gefälle, der ungestörte Fortlauf des psychischen Lebens dadurch gewährleistet bleibt, daß das Unbewußte niemals völlig bewußt gemacht werden kann und stets die stärkere Energiefülle behält. Die Ganzheit bleibt also immer relativ, und an ihr weiterzuarbeiten unsere lebenslängliche Möglichkeit. „Die Persönlichkeit, als eine völlige Verwirklichung der Ganzheit unseres Wesens, ist ein unerreichbares Ideal. Die Unerreichbarkeit ist aber nie ein Gegengrund gegen ein Ideal; denn Ideale sind nichts als Wegweiser und niemals Ziele”². Die Entwicklung der Persönlichkeit ist Gnade und Fluch zugleich. Man muß sie teuer erkaufen - denn sie bedeutet Vereinsamung. „Ihre erste Folge ist die bewußte und unvermeidliche Absonderung des Einzelwesens von der Ununterschiedenheit und Unbewußtheit der Herde”³. Aber sie heißt nicht nur Vereinsamung, sondern zugleich: Treue zum eigenen Gesetz. „Nur wer bewußt zur Macht der ihm entgegentretenden
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²,³ [Jung, C.G.:] Wirklichkeit der Seele [. Psychol. Abhandlungen, Bd. IV. (Rascher, Zürich, 1934, II. Aufl. 1939)], S. 190.
inneren Bestimmung Ja sagen kann, wird zur Persönlichkeit"¹, und nur diese vermag auch in der Kollektivität ihren richtigen Platz zu finden, nur sie besitzt auch wirkliche gemeinschaftsbildende Kraft, d. h. die Fähigkeit, integrierender Teil einer Menschengruppe zu sein und nicht nur eine Nummer in der Masse, die ja immer nur aus einer Addition von Individuen besteht und nie, wie die Gemeinschaft, zu einem lebendigen Organismus werden kann, der Leben erhält und Leben spendet. Damit wird die Selbstverwirklichung im allerpersönlichst-individuellen als auch im außerpersönlich-kollektiven Bezug zu einer moralischen Entscheidung, und diese ist es, die ihre Kräfte dem Prozeß der Selbstwerdung leiht, den Jung den INDIVIDUATIONSWEG nennt.
Selbsterforschung und Selbstverwirklichung ist daher - oder vielmehr sollte es sein! - die unerläßliche Voraussetzung für die Uebernahme höherer Verpflichtung, und wäre es auch nur die, den Sinn des individuellen Lebens in bestmöglicher Form und in größtmöglichem Umfang zu verwirklichen, was die Natur ja immer tut, allerdings ohne die Verantwortung, welche die schicksalsmäßige und göttliche Bestimmung des Menschen ist.[b] „Individuation” bedeutet: „Zum Einzelwesen werden, und insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte, unvergleichliche Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden”².
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¹ Wirklichkeit der Seele, S. 200.
² [Jung, C.G.:] Die Beziehung[en] zwischen dem Ich und dem Unbewußten [. (Reichel, Darmstadt, 1928, und Rascher, Zürich, 1939)], S. 91.
Individuation bedeutet jedoch keineswegs Individualismus im engen, egozentrischen Sinn dieses Wortes, denn die Individuation macht den Menschen nur zu dem Einzelwesen, das er nun einmal ist. Er wird aber dadurch nicht „selbstisch”, sondern erfüllt nur seine Eigenart [c], was von Egoismus und Individualismus himmelhoch entfernt ist. Seine errungene Ganzheit ist durch Bewußtes und Unbewußtes als Einzel- wie als Kollektivwesen auf das Ganze der Welt bezogen. Das bedeutet aber nicht ein individualistisches Betonen der vermeintlichen Eigenart im Gegensatz zu kollektiven Verpflichtungen, sondern, wie oben ausgeführt wurde, die Erfüllung dieser Eigenart innerhalb ihrer Einordnung in ein Ganzes. „Denn ein wirklicher Konflikt mit der Kollektivnorm entsteht nur dann, wenn ein individueller Weg zur Norm erhoben wird, was die eigentliche Absicht des extremen Individualismus ist”¹.
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¹ [Jung, C.G.:] Psychologische Typen [. (Rascher, Zürich, 1920, II. Aufl. 1925, III. Aufl. 1930)], S. 638.
Jolande Jacobi
in »Die Psychologie von C.G.Jung«; S.165ff
Unsere Anmerkungen
a] Energie kann hier im Sinne von Astrallichtwirkung verstanden werden.
b] der Freiheit wegen (vgl. Mbl.9)
c] R.Steiner beschrieb jeden einzelnen Menschen als eigene Art.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201904.htm