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Kompositionsgeheimnis
Die «Chymische Hochzeit» schildert ein gewaltiges geistiges Erlebnis, das von einem naiven, frommen Gemüt getreulich aufgezeichnet wurde, ohne vom täppischen Verstand berührt oder verdorben zu sein. So kann sich darin die Weisheit und Harmonie spiritueller Zusammenhänge in prachtvoller Reinheit spiegeln. Wir finden darum dieselbe strenge Folgerichtigkeit in ihrer Komposition, wie wir sie so sehr zum Beispiel in den Evangelien bewundern.
Dringt man nämlich tiefer ein in den künstlerischen Aufbau der «Chymischen Hochzeit», so entdeckt man ganz auffällige Entsprechungen zwischen dessen erstem und zweitem Teil. So haben der 1., 2. und 3. Tag ihr genaues Gegenstück in dem 7., 6. und 5. Tag; und auch der isoliert dastehende vierte Tag zerfällt in zwei sich entsprechende Hälften. Das Ganze ist also aufgebaut wie eine Pyramide, deren Gipfel das Schauspiel des vierten Tages darstellt. Diese Korrespondenzen lassen sich bis in viele Einzelheiten hinein aufzeigen. So entspricht innerhalb des vierten Tages der Imagination [a] des Löwen am Morgen das Erlebnis der Flammen in der Nacht; der Darstellung der Könige zu Anfang die Enthauptung derselben gegen Ende des Tages; der Verspottung des Alten das Treuegelöbnis. - Sowohl der dritte als der fünfte Tag sind schön symmetrisch nach der Dreizahl aufgebaut. Im Mittelpunkte des dritten Tages steht die prächtige Imagination des Brunnens mit dem Löwen, vor dem sich das Einhorn verneigt und dem die Taube einen Zweig vom Ölbaum bringt; im Mittelpunkte des fünften Tages finden wir die Begegnung mit den Meernymphen und deren zauberhaften Gesang von der Weltenliebe. Um die Imagination des dritten Tages gruppiert sich einerseits die zweiteilige Gerichtszene (Wägung und Vollstreckung des Urteils) und andererseits die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten und die Rätselerzählungen; an die Meerfahrt des fünften Tages schließt sich einerseits die Versuchung im Venusgrab und die Schein-Totenfeier und andererseits die Arbeit im Keller des Turmes und das Nachterlebnis auf dem Walle. - Weniger äußerlich, dafür aber umso auffälliger, sind die Entsprechungen zwischen dem zweiten und dem sechsten Tage. Der zweite Tag führt den Geistsucher durch sieben Seelenprüfungen (Wahl des Weges, Rettung der Taube,[b] Pfad der Verehrung als erstes Tor, Liebesopfer als zweites Tor,[c] kultische Reinigung, soziale Prüfung an der Gästetafel, Resignation) hinunter bis zur Stufe des bitteren Verzichtes auf das höchste Menschheitsziel, die Geisteshochzeit; der sechste Tag läßt ihn ebenfalls durch sieben Prüfungen (2. bis 8. Stockwerk) in der Form von Arbeiten emporsteigen zum Schauen des höchsten Götterziels, der Menschenform. - Am wenigsten augenscheinlich sind die Entsprechungen zwischen dem ersten und siebten Tage. Der erste Tag beginnt mit der Ostermeditation, der siebte endet mit der Vorbereitung zur Torhüterschaft; der geistigen Botschaft des ersten Tages entspricht am letzten das Gelübde zu den fünf Ordensregeln; die Seelenprüfung, die der Botschaft des ersten Tages entspringt, hat ihr Gegenstück in der Bedrängnis, welche die Bittschrift des Torhüters am siebten Tage auslöst; der Traum von der Rettung aus dem Turme durch die alte Frau und ihren Sohn (sieben Seilzüge) spiegelt sich in der Rückfahrt (in zwölf Schiffen) und dem Empfang durch das Königspaar; die Zurüstung zur Reise hier wiederholt sich dort in der Neu-Einkleidung und Bestätigung als Ritter zum güldenen Stein.
[...]
Wir sehen also, daß die «Chymische Hochzeit» ziemlich genau - man darf nur die Dinge nicht allzu sehr drücken und quetschen - so komponiert ist, daß jede Hälfte das Spiegelbild der anderen ist. So entspricht dieses Werk einem großen Kompositionsgesetz, das seinen Ursprung in der ätherischen Welt hat und dem z. B. auch die plastischen Formen am alten Goetheanum [d] weitgehend entsprachen. Es sind dieselben Gesetze, die sich in der Welt- und Menschheitsentwicklung so bedeutsam auswirken und welche ja auch in der Erziehung eine Rolle spielen.
Walter Weber
aus «Die chymische Hochzeit»; S.173ff
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl-B.33a
b] siehe Wegbestimmung
c] siehe Torhüter
d] das in der Sylvesternacht 1922 verbrannte Gebäude
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201701.htm