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Neudenken:
Zeitbewusstsein
1 Dem [der verstandesmässigen Erfassung „objektiver” Zeit] gegenüber hat der Mensch im Alltagsleben ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit, ein scheinbar nur subjektives Zeitgefühl oder Zeiterlebnis. Er ist das einzige Wesen der Schöpfung, das sich fragen kann: »Was war vor 10 Tagen oder vielen Jahren, wann bin ich selbst entstanden und wie alt werde ich werden?« - also, sich die Zeit zum Bewußtsein bringen kann! Er muß aber dieses sein Zeitbewußtsein erst entwickeln, um »zeitgemäß« leben und die Zeit menschengemäß durchgestalten und handhaben zu können. Die erwähnte technische Zeitmessung entpuppt sich dabei offensichtlich nur als ein Teilprozeß in einem vielschichtigen Ganzen.
2 Am Wandel des menschlichen Zeitbewußtseins ist die Naturwissenschaft auch insofern wiederum beteiligt, als sie uns zum Beispiel lehrt, in geologischen Zeiträumen von Jahrtausenden oder Jahrmillionen zu denken. Die Geo- und Astrophysik gar reißt neue Dimensionen auf, wenn sie versucht, das Alter der Erde oder eines Fixsterns in Jahrmilliarden zu bestimmen und droht unser Zeitbewußtsein zu sprengen.[a]
3 Der Mensch früherer oder vorgeschichtlicher Zeiten war eingebettet in die ihn tragenden Zeitabläufe der Natur, die sein Dasein und seine Lebensformen weitgehend bestimmten. Bei der Pflanze ist diese Abhängigkeit von der Umwelt eine totale; Tages- und Jahreszeiten bestimmen ihre wesentlichen Erscheinungsformen. Für den Bergkristall in einer Gebirgskluft ist es ohne Belang, ob Sommer- oder Winterzeit herrscht. Er ist reine Raumgestalt. Frühlingshaftes Sprießen, sommerliches Blühen und herbstliches Fruchten der Pflanze hingegen zeigen, wie die Werde- und Wandelprozesse des Lebens unlösbar mit der Zeit verbunden sind. Jeder Organismus, auch der menschliche, hat eine offenkundige Zeitgestalt und einen Lebensablauf in der Zeit, hat Phasen des Werdens und Wachsens, eine Blütezeit und entgeht nicht dem Altern.
4 Diese und viele andere Phänomene lenken die Aufmerksamkeit auf eine zweite, wesentliche Seite der Zeit. Unsere Uhren messen zwar Stunden und Tage im Sommer und Winter gleich lang, und wir werden nach jeweils 365 Tagen, ob Kind oder Greis, ein Jahr älter. Unser seelisches Erleben der Jugend- oder Alterszeit aber ist auf höherer Ebene in sich ebenso verschieden, wie es sich bei der Pflanze im rein organischen Bereich verhält, wenn sie auf die jeweilige Jahreszeit mit Blüte und Duft oder Samenruhe antwortet. Ein Kind lebt gleichsam zeitlos glücklich. Im Alter hingegen scheinen die Jahre immer schneller zu vergehen. Eine Zeitspanne, die mit uns zusagenden Erlebnissen erfüllt ist, erscheint uns kurzweilig und rasch vorübergehend, eine leere, von Unlust erfüllte Zeit gedehnt und langweilig. Gespannt oder ungeduldig warten wir vielleicht auf ein Ereignis, während wir dem Eintreten eines anderen geruhsam oder gar gleichgültig entgegengehen. Dadurch gewinnt Zeit einen neuen Charakter. Der Zeit wohnen offensichtlich Qualitäten inne, die insbesondere mit dem Geheimnis des Lebens zu tun haben und vom seelischen Erleben zunächst mehr oder weniger traumhaft oder gefühlsmäßig erfaßt werden. Dabei wandelt sich die abstrakte, in Abschnitte und Unterabschnitte eingeteilte monotone Zeitlinie in einen breiten, von vielfältigem Geschehen durchwirkten, lebendigen Zeitenstrom.[b] In diesem verschlingen und verweben, steigern oder lösen sich viele Elemente.[c] Der Tragekraft dieses Stromes aber droht sich der moderne Mensch immer mehr zu entziehen. Dem Rhythmus der Natur entrissen, leben Millionen von Menschen in der Großstadt, gewöhnen sich an Hast und Reizüberflutung, an die Monotonie des Arbeitsablaufs oder gar an das Fließband; viele verlieren in vollklimatisierten und künstlich erhellten Räumen jede Beziehung zum Tages- oder Jahreslauf. Andererseits spannen auf die Minute durchprogrammierte Fahrpläne und Arbeitsabläufe oder eine Unzahl von Terminen den Menschen in das Netz einer mechanisierten Zeitplanung ein. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Sich-richten-Müssen nach einem Zeitplan jeder Art unser Leben von außen her auch zu disziplinieren vermag und das Zeitbewußtsein in einer früher nicht gekannten Weise wachruft. Wem auf diese Weise die Tugend der Pünktlichkeit zur Gewohnheit wird, der hat auf jeden Fall etwas gewonnen.
Walther Bühler
aus «Geistige Hintergründe der Kalenderordnung»; S.8ff
Unsere Anmerkungen
a] ähnlich wie das Lichtjahr (299792,458 km × 86400 × 365,25) unser Raumbewusstsein sprengt - vgl. M.SCALIGERO zu Zeit und Raum
b] siehe auch »TzN Nov.2006« und W.HÖRNER zum Erscheinen der Zeit
c] Das Zeiterleben beschreibt R.STEINER auch im Zusammenhang mit den wiederholten Erdenleben, während das Lebendige nur durch Aneignung eines inneren Zeitbegriffs erfahren werden könne.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201006.htm