Judith Florer
Post scriptum
zu den Tagebuchnotizen 1945
1
Herta habe ich in Erfurt nicht mehr angetroffen, sie war wenige Tage vorher, als es hieß, die Russen kommen, mit Sack und Pack und Schmuck nach Süden, nach Tübingen auf und davon. Sie hat auch den Christoph nicht mehr lebend gesehen, die Todesnachricht fand sie in Tübingen unter ihrem Türspalt.
Ich habe dann in Erfurt die Ausbildung als Hebamme begonnen, es war eine furchtbare Zeit. Die Russen kamen ca 14 Tage nach unserer Ankunft nach Erfurt, die Amerikaner hatten ihnen die "Zone" überlassen.
Papa todkrank, verhungert, Christoph mußte ich nach den Weiperter Erfahrungen mit Trude in ein katholisches Kinderheim geben, wofür mir meine engelsgute Schwiegermutter noch das Geld gab. Ich hatte ja keinen Pfennig mehr und Papa war auch bettelarm. Am 19. November habe ich Christoph im Kinderheim abgegeben und ihn damals zum letztenmal lebend gesehen. Die guten Schwestern versagten mir jeden Besuch, zuerst, damit Christoph nicht wieder aufgewühlt werde, nachdem er sich so schwer eingewöhnt hatte, das anderemal, weil das Besuchszimmer nicht zu heizen war, es gab ja überhaupt nichts mehr. Die armen Schwestern haben sich dann nach Christophs Tod die bittersten Vorwürfe gemacht, so daß ich sie trösten mußte, sie hatten es ja nur gut gemeint, wer konnte ahnen, daß so eine Epidemie ausbrechen würde, damals sind 5 Kinder gestorben!
Es bildete sich eine neue Gemeinschaft um die zwei Ärztinnen Dr Hoffmann und Irene Körnig (bis auf den heutigen Tag: Irene, Brigittes [gesch.Dietrich und Mechthilds verh.Schmerbauch] Mutter, wird am 23. Juli 1996 85 Jahre alt, Brigitte war damals gerade 1o Jahre alt). Die beiden Ärztinnen haben mich dann über Christophs Tod getragen und meine innigst geliebte und verehrte Schwiegermutter Anna (wie hat sie unter Trudes Herzenskälte gelitten), Christophs Tod hat ihr dann das Herz gebrochen.
1946 ist Papa nach Österreich zurückgekehrt, zunächst nach Graz, das damals englische Zone war. Ich habe
2
mein Hebammendiplom abgewartet und bin ihm dann im Februar 1947, wieder auf ganz abenteuerliche Weise nach Österreich gefolgt. Aber das ist dann noch eine eigene Geschichte. Wenige Tage nach meiner Abreise aus Erfurt ist meine gute Schwiegermutter gestorben, der letzte geliebte Mensch aus der Familie meines Mannes. So bin ich, 27 Jahre alt, nach dem Verlust meiner ganzen jungen Familie und meines gesamten Hab und Gutes wieder nach Hause gekommen nach Österreich zu Papa, um mein "zweites Leben" zu beginnen.
Und auch dieses zweite Leben hat der gütige Gott unter Seinen Schutz genommen und mich geführt. Die stigmata des ersten Lebens sind freilich nicht zu tilgen. Es ist doch ein erfülltes Leben daraus geworden.
Kreuz über ihrem Bett in Wien © 2013 by DMGG
suivant
https://jan.diemorgengab.at/jufl01ps.htm