Judith Florer
TAGEBUCHNOTIZEN
Kopie vom 28. Juni 1996
der Handschrift von 1945
1
1.April 1945, Ostern
Die Amerikaner stehen vor Eisenach, die Russen vor Wiener Neustadt (Österreich!), Sopron (Ödenburg) ist gefallen. In wenigen Tagen, vielleicht Stunden, habe ich Papa und Herta schon an den Feind verloren. Wir schreiben unsere letzten Briefe. Abends hören wir die Proklamation der "Werwölfe", das bedeutet die Entfesselung der niedrigsten Instinkte. Wir sind Freiwild geworden vor den entfesselten Banden. Ich kann nicht schlafen und nehme mir den Jungen, Christoph, mit ins Bett.
2.April:
Liesl schreibt aus Prag, dort ist es noch ruhig. Prof. Kindermanns Mahnung: Kinder, hoffen und beten!
3.April:
Noch sind die Amerikaner nicht in Erfurt, aber die Russen in Baden bei Wien. Herta schreibt vollkommen ruhig aus Jena, Papa etwas unruhiger und voll Sorge um uns aus Erfurt. Und bei uns ist alles noch so friedlich, jedes kleine Ding so wertvoll in dieser Ungewißheit, wir sitzen auf einem Pulverfaß, wie damals in Wien 1938. Wenn es doch nur schon ausgelitten wäre, die Ungewißheit ist das Schwerste: Bereit sein ist alles!
1o.April:
Ein herrlicher Sonntag. Trude ist am Land hamstern, ohne Erfolg. Seit einigen Tagen ziehen Kolonnen von Truppen Richtung Karlsbad. Bei uns werden seit heute Panzersperren geschippt, wilde Gerüchte: Wir sollen Aufmarschgebiet werden. Wien ist gefallen, die Russen nehmen Richtung Brünn Prag.
13.April:
Gegen Abend bricht eine Panik aus. Panzerspitzen sollen Chemnitz erreicht haben, der Volkssturm wird innerhalb einer Stunde eingezogen, Frauen stehen zitternd und blaß vor Angst auf der Straße und gegen das Verbot der Polizei werden noch am späten Abend Lebensmittel gekauft.
2
14.April:
Die Leute haben sich beruhigt. Der Volkssturm kommt wieder heim, Hitler Bilder werden abgeräumt, es ist zu Ende. Die Amerikaner haben von Chemnitz auf Dresden gedreht, das erhöht unsere Sorge, wenn sie uns liegen lassen, kommen doch noch die Russen an.
15 u.16.April:
Im Laufe des Vormittags wird Panzeralarm gegeben, die Spannung steigt fast ins Unerträgliche. Aber die Lage beruhigt sich wieder.
17.April:
Jeder Tag bringt mindestens eine neue Aufregung: um 10 Uhr vormittgas kracht es fürchterlich. Tiefflieger. Bordwaffenbeschuß. Ein Auto auf der sächsischen Seite wird beschossen, ein Soldat ist tot, ein Haus ausgebrannt. Nun sind wir sehr ängstlich, lassen die Kinder nicht mehr in den Garten.
18.April:
Seit gestern haben die Tiefflieger auf der Straße nach Komotau schon 8 Lokomotiven zerschossen. So fährt kein Zug mehr, keine Lebensmittel, die werden nachts mit dem Auto geholt, keine Post mehr. [Trudes 2.Tochter] Gina ist krank, seit gestern 39 Grad Fieber. Die Russen haben gestern den Angriff auf Berlin begonnen, die Amerikaner stehen vor Chemnitz und haben schon sudetendeutschen Boden überschritten. Christoph hat auch Fieber und ist müde und schwach. Im Wald beim Friedhof wird schwere Artillerie aufgefahren, so scheint es mit der Verteidigung von Weipert ernst. Annaberg wird als offene Stadt erklärt und Berlin ist von den Russen schon zu 3/4 eingeschlossen, von Dresden sind sie noch 20 km entfernt. Der Weiperter Priester, vor kurzem aus dem KZ entlassen, ist an Fleckfieber gestorben. Vor 14 Tagen war ich noch in seiner letzten Messe, er ahnte wohl sein Ende, denn den Bazillus hatten sie ihm doch im KZ vor der Entlassung gespritzt!!
30.April:
Mussolini in Mailand hingerichtet, in Wien regiert der rote Dr Karl Renner und Himmler "Reichsführer SS" bietet die Kapitulation Deutschlands an alle 3 Mächte an und außerdem die Auslieferung der Leiche Hitlers, so ein Schurke. Alarm gibt es keinen mehr, ich glaube, es wird schon mehr Sieg gefeiert als gekämpft.
3
Marianne, unser Kindermädchen, holt mich zum Radio: "Hitler ist tot!" So hat also dieses Drama, dieses dunkle Kapitel deutscher Geschichte fast ein Ende. Nahezu alle Männer der Partei sind plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden.
4.Mai:
Prag und Hamburg als Lazarettstadt erklärt. So darf Prag unzerstört stehen bleiben, welche Hoffnung!
Sonntag 6.Mai:
Aufruhr in Prag. Sender Prag II von "Aufständischen" besetzt. Wir sitzen den ganzen Tag am Radio, stündlich neue Meldungen. In Prag wird gekämpft, Wlassow Truppen gegen die Deutschen. Zwischen der tschechischen Regierung und Frank (SS Protektor!) Verhandlungen, aber man bekommt kein klares Bild.
7.Mai:
Waffenstillstand, d.i. die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, von General Jodel unterzeichnet. Gegen Amerika, England, Rußland und Frankreich. Prag dementiert diese Meldung zweimal, abends um 20 Uhr schweigt der Sender, um 22 Uhr scheinen sie es begriffen zu haben. Also ist Prag als einzige Stadt stehen geblieben. Bei uns große Unruhe. Russen und Amerikaner sollen in Chemnitz sein. Wie werden wir diese Nacht durchhalten? Werden wir überhaupt noch besetzt, von wem?? Schuschnigg, unser guter österr. Kanzler, gerettet, ebenso befreit aus dem KZ Léon Blum, Hjalmar Schacht. Goebbels Leiche mit der Leiche seiner Frau und Kinder in Berlin aufgefunden, Todesursache: Vergiftung.
8.Mai:
F r i e d e n ! Aber was für ein Frieden. Wir wissen immer noch nicht, was mit uns wird. Die Russen stoßen von Chemnitz nach Osten. Sepp kommt aus Teplitz auf der Flucht vor den Russen. Panik in Neugeschrei und Weipert, die Russen sollen in Annaberg sein.
Trude fährt nach Oberwiesenthal und will noch am Abend mit den Kindern fort. Wir reden ihr mit aller Mühe diesen Wahnsinn aus, sie ist völlig außer sich. Die Nacht sind wir noch lange auf, aber die Gemüter beruhigen sich, die Nacht ist ruhig. Sepp und Luzie (Trudes Freunde) allerdings ziehen noch abends fort.
9.Mai:
Die ersten Russen in Weipert. Aber es geschieht nichts weiter.
4
1o.Mai: Christi Himmelfahrt.
Die Kirche gesteckt voll!! Wir flaggen w e i ß .
11.Mai:
In Weipert ist schon tschech. Zivilverwaltung, die den ehemaligen christlich sozialen Bürgermeister einsetzt. Ein Zug mit vielen deutschen Soldaten und Zivilleuten lädt in Neugeschrei aus. Mittag 4 Soldaten bei Barkholts, abends 4 zivile Herren bei uns. Sie wollen heim nach Hamburg. Wir sitzen in beinahe froher Runde beisammen und allmählich löst sich auch die Spannung und Gehetztheit aus den Gesichtern dieser Männer. Wie gejagtes Freiwild ziehen und fliehen sie. Wir aber haben in ihnen viermal Christus aufgenommen: Emmaus! Darum ist diese Zeit schier untragbar schwer, damit wir umso mehr Gutes tun dürfen.
20.Mai: Pfingstsonntag.
War es zu Ostern, daß ich mit diesem Heft begonnen habe oder war es vor Jahren? Ist der Krieg zu Ende, oder beginnt er erst jetzt für uns? Die Russen ziehen in Scharen durch unser Land. Man lebt so in Angst, daß niemand mehr hören will, was in der weiten Welt geschieht, ja die nächste Umgebung berührt uns wenig, die Sorge geht von Haus zu Haus! Wie hat dieser Krieg begonnen, mit der Weltkarte, dann kam die Karte von Europa, von Deutschland, von einzelnen Provinzen, der Stadtplan von Berlin - und nun setzen wir die Hoffnung auf die Tatsache, daß wir nicht über dem Bach und auch hier nicht unmittelbar an der Straße wohnen. Die Russen plündern in den Häusern, tragen allen Schmuck weg, nehmen einem auf der Straße Uhren und Ringe ab. Auch Versuche, Frauen zu vergewaltigen, haben einige junge Russenburschen gemacht. So leben wir in ständiger Angst, unseres Lebens kaum sicher. Da waren die Nächte, in denen die Bomber über uns schwirrten kaum so unheimlich wie diese jetzt, wo man alles versperrt, bei jedem Läuten, bei Klopfen, bei Schritten bis in die letzte Faser erzittert. Trude gerät wieder in Panik und zieht mit den Kindern zu ihren Verwandten auf den "Berg". Wir legen uns mit Bartls oben in die Zimmer, aber wir schlafen kaum. Noch nie habe ich die Complet, das kirchl. Nachtge-
5
bet, so innig gebetet: ... Wer im Schutz des Höchsten wohnt ... Pfingsten, daß doch der Heilige Geist uns Kraft gebe und wir im rechten Augenblick das Rechte tun! - - In Prag sollen sämtliche deutschen Wohnungen beschlagnahmt sein. Wie mag es dort aussehen? Hans Rieß, Walter Innitzer und Willi Kreuzig sind heimgekommen.
28.Mai:
Bei herrlichem Wetter wandern Trude und ich nach Bettlern zu den Verwandten, um ein wenig Lebensmittel zu holen. Dort werden wir voll Herzlichkeit empfangen und essen uns erst einmal richtig satt an Brot und Butter, welch ein Fest. Dann liegen wir eine Stunde unter den Obstbäumen im Gras und schlafen uns aus. Reich beladen ziehen wir los und kommen todmüde daheim an. Aber es war ein so beseligender Tag, von dem man viel Kraft schöpfen kann.
29.Mai:
Gott wird sorgen!! Heute erlebe ich es, ein Brief von Papa, aus Prag!! Major Marinkovic, ein ehemaliger österreichischer Offizier, seinerzeit unter Papas Kommando, soeben aus dem KZ Buchenwald entkommen, nimmt Papa nach Prag mit und kann dort mich und auch unsere Wohnung unter den Schutz hoher tschech. Persönlichkeiten stellen, die auch in Buchenwald waren. Ich kann es kaum fassen, in Erfurt alles wohlauf, alle gesund, Cyriakstraße unbeschädigt.
31.Mai:
Ein Brief von Liesl aus Prag. Sie ist nach 24 Stunden Internierung frei gekommen, weil ihre Mutter Wienerin ist. Ich soll mich um die österreichische Staatsbürgerschaft bemühen, dann wäre meine Wohnung in Prag gerettet. Alle deutschen Wohnungen sind versiegelt und werden an geschädigte Tschechen vergeben. Marek ist wieder österr. Gesandter, den kennt Papa.
1.Juni:
Nachmittag melden wir uns alle beim russischen Ortskommandanten, der alle Einwohner aufnimmt. Die Männer sind nett, ein Mädchen benimmt sich besonders laut und frech, sie will zeigen, daß sie jetzt hier Königin ist. Nachher sind wir bei Tante Marie Kreuzig. Hans Bittner ist wieder daheim, Erich und Onkel Walter eingesperrt.
4.Juni:
Täglich gibt es neue Aufregung, Neugeschrei ist umstellt, sie suchen angeblich SS Leute. Ein
6
Gerücht jagt das andere, nach neuestem sollen wir neutrale Freizone werden, vor allem das Bädereck um Karlsbad. Ich glaube nichts mehr, ich warte ab.
8.Juni:
Nachricht aus Prag, unser Gesandter Marek ist selbst in Haft, Trude bringt böse Nachrichten von Herrn Illing(?) aus Prag. Dort sei Revolution, es herrsche der Mob. Die Partisanen werden auf Böhmen losgelassen. Trude will unbedingt fort. Abends tagt der "Kriegsrat" mit Walter Innitzer und Luzie. Räder, Anhänger, jeder nimmt vorne ein Kind, so wollen wir Montag den 18.Juni los. Es gibt eine schlaflose Nacht voll Gedanken und Plänen. Aber wo bekomme ich ein Fahrrad her??
9.Juni:
Trude ist in Weipert und organisiert 4 Räder!! Wir sind daheim unfähig zu arbeiten, wir denken und überlegen. Abends fahre ich mit Trude zu Kannebergers nach Blechhammer. Die Fahrt ist eine gute Übung und erfrischt, aber mein Entschluß zur Flucht wird immer wankender. Wie wird der Winter? Kohlen?? Milch für Christoph? Erdäpfel? Ich bin arm wie eine Kirchenmaus, kein Geld, kein Kleid, die nötigsten Sachen für Christoph, kann ich das Papa zumuten? Und warum? Es ist doch gar kein zwingender Grund da. Ich schreibe noch in der Nacht einen völlig konfusen Brief an Liesl nach Prag, ich weiß nicht mehr was tun.
Montag 11.Juni:
Ein toller Tag. Ich stelle mich um 1/4 7 Uhr früh um Brot an, um 1/2 10 bekomme ich 2 kg. Selig gehe ich heim, unterwegs lese ich den neuesten Anschlag: Alle Reichsdeutschen müssen innerhalb von 24 Stunden, also bis morgen 18 Uhr aus Weipert über die Grenze. Mein Herz steht still: Marianne, das Kindermädchen. Als ich heimkomme, ist Trude noch in der Stadt. Es nützt kein Weinen, es muß sein. Ich rase auf dem Rad nach Bärenstein zur Autospedition. Sie können Marianne heute Abend um 18 Uhr bis Chemnitz mitnehmen. Trude eilt nach Pleil, um Marianne abzumelden. Ich besuche noch Liesi Bittner, wo ich erfahre, daß Dr Günther bis 16 Uhr sein ganzes Haus räumen muß. Dann noch
7
ein Sprung zu Tante Marie Kreuzig und zu Gamnitzers, Freunde von Karl. Willi G. schenkt mir eine Zigarette, die ich gierig annehme, ich habe noch nichts gegessen. Dann mit dem Rad schnell nach Hause, Gott sei Dank, die Kinder schlafen. Marianne packt, Trude ist in Pleil. Ich esse erst einmal, dann versuche ich, die Küche in Ordnung zu bringen. Um 1/2 5 h starten wir mit Marianne zur Grenze. Die Kinder bleiben bei Bartls und Schmiedls. Unten, an der Grenze, klappt n i c h t s ! Weder Grenzüberstrittsschein, noch das Rad, außerdem müssen alle Reichsdeutschen bei Christophhammer über die Grenze (bei der Preßnitz!). Auch als wir Russen um Hilfe bitten, sind wir machtlos. Also: zurück! Ich gehe zum Dechanten und treffe dort Ing. Schreiter, der eben aus Prag kommt. In Prag regiert die Straße, die Regierung ist machtlos. Krejci und Moravec (?) gelyncht. Nun schreibe ich mein kleines Paradies in Prag endgültig ab. Der Gynäkologe Knaus, mein Arzt, steht unter den ersten 50 "Kriegsverbrechern". Trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung, zu warten. Trude und Walter Innitzer drängen fort. Allein kann ich nicht bleiben. Mein Kopf ist wie ein Mühlrad.
12.Juni:
Neueste Erwägung: Walter fährt allein mit Gepäck nach Erfurt, hält Umschau, spricht mit Papa und gibt uns Nachricht. Er müßte dann bis Chemnitz entgegenkommen und uns abholen. Herta käme auch ein Stück entgegen. Der Gedanke ist verlockend, so gingen wir sicher und warten auch hier noch einige Tage ab. Aber können wir Walter Innitzer diese 3 malige Fahrt zumuten? Nachmittags: In der Stadt werden stündlich neue Leute verhaftet. Es ist furchtbar. Liesi mit Rottraut, Tante Paula mit Anneliese, Tante Resi mit den beiden Kindern Evi und Ruthild sind alle in der Turnhalle, im "Umsiedlungslager". Rottraut hat schweren Keuchhusten! Wir haben keine Zeit zu verlieren, Walter kann unmöglich fahren.
Mittwoch 13.Juni:
Else Kanneberger hilft uns statt Schwester Marianne, die gestern Abend doch noch glücklich über die Grenze gekommen ist. Wo mag sie heute sein?
8
Von Mama Anna kommt ein Brief aus Erfurt vom 6.Juni, acht Tage nur alt. Dort scheint alles gut und ruhig, nur wenig zu essen. Trotzdem, wir müssen fort von hier. Gestern wurde ich übrigens von einem ca 15(!) jährigen Russen mit dem Motorrad angefahren, dabei ging Trudes Fahrrad kaputt. Nachmittag gehen wir zum Radmechaniker, der uns sehr mitfühlend hilft, so viel er kann. Bei Gamnitzers knobeln wir dann folgenden Plan aus: Walter soll nach Schönbach und dort mit Hilfe von Vit. B einen amerikanischen Passierschein nach Erfurt für uns alle holen, denn wir wissen gar nicht, wo die Russen, wo die Amerikaner zur Zeit stehen. Und mit den Kindern in ein Auffanglager? Aber wie nach Schönbach (Eger) kommen? Soeben kommt Walter mit seiner Frau zurück, in der Karlsbader Gegend soll es einfach himmelschreiend sein, am Tag die Tschechen, in der Nacht die Russen ... In Schlackenwerth werden alle Intelligenzler abtransportiert. PG dürfen 7, andere 1oo RM mitnehmen. Ärzte dürfen vorläufig bleiben.
Donnerstag, 14.Juni:
Mit Walter Innitzer starten wir schon zu Mittag in die Stadt zu Besprechung wegen Schönbach. Dort soll Walter uns den amerikanischen Passierschein holen. Der Dechant, über dessen Hilfe es gehen soll, sagt anfangs zu, dann lehnt er jedoch ab. Wir verstehen es, das Wohl der Gemeinde steht am Spiel.
Freitag 15.Juni:
Ich packe all meine Sachen zusammen. Dokumente, wobei ich wichtige Papiere von Karl finde, die mir nützen können. Ich verbrenne sämtliche Briefe und Photos und persönliche Dinge. Filme und Bücher packe ich zusammen, die bekommt Willi Gamnitzer. (à propos: Aus den damals verlagerten Büchern habe ich im Jahre 1966 mein Prager Gästebuch, wie durch ein Wunder, wiederbekommen!!) Die Villa von Marianne Bartls Chef soll restlos geräumt werden, eine Familie muß in der Turnhalle bleiben, die anderen dürfen zurück in den Ort. Liesi ist mit Rottraut bei den Schwiegereltern, weil die Kleine mit dem Keuchhusten schwer krank ist. Abends gibt es viele Sorgen wegen der Firma Kanneberger und wilde Gerüchte erzählen
9
von Partisanen. Schlafen tun wir schon lange nicht mehr richtig.
Samstag 16.Juni:
Erst jetzt fällt mir ein, daß gestern unser Verlobungstag war, 1941! Damals war Krieg, und doch welch ein Frieden gegen heute. Vormittag erfahren wir auf der russischen Ortskommandantur, daß wir auf den Grenzübertrittsschein einen Passierstempel bis zu den russ.amerik. Linien bekommen. Das bedeutet schon viel. Bei Tante Marie erfahren wir, daß heute alle aus der Turnhalle fortgeschafft wurden, Richtung Christophhammer, also zur Grenze. Wo mögen Tante Paula und Anneliese und alle heute wohl schlafen? Fred Ploner ist von seinem Spähtrupp bis gegen Leipzig zurück und berichtet, daß drüben alles viel ruhiger sei, die Amerikaner gegen Westen abrücken u. gestern ca bei der Mulde waren. Kontrolle bei den Russen fast keine, bei den Amerikanern schon schärfer. So dreht sich nun bei uns alles um den "národni výbor" (tschech. Behörde) und um die lächerliche Strecke bis Bärenstein. Wenn wir nur schon über der Grenze wären. Aber -- Gott wird sorgen!
17.Juni:
Christophs 2.Geburtstag! Welch ein Fest vor einem Jahr, welch ein Gnadentag vor zwei Jahren!! Und heute? Toller Trubel. Alles wird gepackt, man darf nicht denken, nur noch beten! Wie schwer trennen wir uns doch von all diesem irdischen Kram, vom geringsten Stück. Trude noch schwerer als ich. Diese Stunden sind ein Wettlauf mit dem Schicksal. Morgen! Nur noch diese beiden Tage in Freiheit vor den Feinden, dann führe uns Gott wieder in die Heimat. Heute Vormittag haben sie Elsls Schwester Hilde Engelstädter-Kanneberger geholt. Mit dem 4 jährigen Jungen, auch in die Turnhalle. Am Dienstag werden sie dann abtransportiert, über die Grenze und dort losgelassen. Ohne Lebensmittelkarten, ohne irgendein Papier, mit 30 kg Gepäck, womöglich mit Prügel ... So werden sie einfach auf die Landstraße vertrieben, gehetzt, gejagt wie Freiwild. Und es kommen a l l e dran. Es geht
10
nur darum wann? Um die Firma steht es ganz schlecht, es wird kaum etwas zu retten sein. Ja, nun werde ich ganz arm und mittellos mit dem Kind zu meinem Vater heimkommen, wenn!! Gestern kam ein ganzer Zug von Partisanen, sie hatten die schriftliche Genehmigung, in Weipert 14 Tage lang zu plündern! Aber die Russen haben sie sofort zurückgeschickt, sie durften nicht einmal aussteigen. Russen bekamen Verstärkung gegen die Tschechen!! Im übrigen hilft der ganze Ort zusammen, um uns zu helfen, es ist rührend. Die Glaser Annl näht, Tante Anna bäckt, Tante Marie bügelt, Tante Paula wäscht, alle, alle helfen. Gott lohne es ihnen.
Montag 18.Juni:
Dank sei Gott, es ist geschafft. Wir haben die Papiere, Trudes unschlagbare Energie hat sogar für Walter den Schein erstanden. Der Tag an sich vergeht in Angst und Sorge um das Ergebnis. Aber da die meisten Dinge fertig sind, werden nur mehr Kleinigkeiten gerichtet. Gegen Abend gehe ich noch Abschiedsbesuche machen, allmählich löst sich die Spannung und nun erst wird einem die Furchtbarkeit dieser Tage voll bewußt. Der Abschied von all diesen Freunden und Verwandten ist wohl der letzte für dieses Leben! (notabene: Manche habe ich tatsächlich erst nach 50 Jahren in Athen zu Trudes 80.Geburtstag wiedergesehen!! Auch die letzte Verbindung zu meinem geliebten Prag und allen dortigen Freunden ist abgerissen.) Prälat Prof. Kindermann, unsere Säule an Hoffnung schreibt an Liesl: Phil.1,3-11!, und er weint bei dieser Stelle. (In den 60er Jahren gab es ein Wiedersehen mit ihm in Wien, er wurde noch Weihbischof von Hildesheim!) --- Als ich von den Besuchen heimkomme, waren schon die Tschechen dagewesen, wegen der Wohnung. Sie waren anständig, wir sollten noch alles ausräumen, was nur geht. So verzögert sich die Abreise um einen Tag. Der Plohner Fred fährt auch mit uns.
Dienstag, 19.Juni:
Zum letztenmal sitze ich in meinem Zimmer, seinerzeit Karls Zimmer, das nun leer und ausgeräumt ist, kein Teppich, kein Bild, Dreck in Haufen. So haben wir das ganze Haus aufgelöst, gepackt,
11
was nur möglich war. Das Gepäck ist zum bange werden, wie bekommen wir das nur alles von der Stelle?? Über die Grenze wird es noch gehen, aber drüben muß noch vieles dran glauben. Die Gefahr eines Unfalls mit dem vollbepackten Rad und noch dazu vorne ein Kind. Walter mit Beate, Trude mit Gina, und ich mit Christoph! Die Räder sind schon "drüben", so ist alles bereit, morgen soll es losgehen.
Mittwoch 20.Juni:
Schon am frühen Morgen beginnt ein wildes Treiben. Um 1/2 9 sind die beiden Finanzer da und untersuchen unser Gepäck wohlwollend und oberflächlich. Aber Tschechen darf man nie trauen, als wir bei der Kunzmühle über die Grenze wollen, bocken sie. Viel hin nund her, schließlich ruft der Oberinspzient bei der Zollbrücke an und bittet um eine günstige Abfertigung. So fahren wir mit dem Kutscher Glaser los, es ist ein trauriger Zug, alle weinen. An der Zollbrücke geht alles wider Erwarten glatt, der Schlagbaum geht hinter uns nieder und trennt uns für lange Zeit von der Heimat. Die weißen "Friedensbinden" fliegen im Bogen davon. Nun stehen wir erst mal mit einem Haufen Gepäck auf der Straße. Anneliese und Evi kommen uns gleich entgegen. An der Flüchtlingsmeldestelle holen wir unseren Antrag zum Passierschein, der in Annaberg ausgestellt werden soll. Trude und Walter sind hineingefahren, um ihn uns zu holen. Unten in Bärenstein stellen wir zunächst unser Gepäck ein und bringen die Kinder nach Niederschlag, wo wir uns bis heute Nacht häuslich einrichten. Ich bleibe daheim und hüte die Kinder. In Neugeschrei aber ist nach uns die Sintflut hereingebrochen. Die Wohnung, alle Zimmer, alle Kästen wurden sofort versiegelt, Frau Bartl haftet mit ihrem Kopf, daß alles so bleibt. Und auch sie selbst muß räumen, obwohl wir gestern alles für sie versprochen bekamen. So sind die Tschechen, feig, hinterhältig und falsch.
Donnerstag 21.Juni:
Wir starten um 4 Uhr früh mit den Kindern auf den Rädern zum Bahnhof, und haben das unerhörte Glück, daß wir samt allem Gepäck mitkommen
12
bis Chemnitz. In Chemnitz beginnt das ganze erst. Von der Stadt steht buchstäblich kein Haus mehr. Es ist ein furchtbarer Eindruck, aber wir haben keine Zeit für Gefühle. Vollbepackt wie die Eseln ergeben wir ein mitleiderregendes Bild. Ja, nun sind wir auch so weit. Walters Anhänger tut nicht mit, so verlieren wir viel Zeit und bis Mittag haben wir nur die 4 km von Chemnitz bis zur Autobahn geschafft. Ein Haus nimmt uns voll Liebe auf, wir dürfen für die Kinder Brei kochen und sie todmüde ins Bett legen. Phantastisch tapfer verhalten sich die Kleinen, keines weint, keine Hose naß. Dann aber beginnt ein Gewitterregen und wir sitzen erst einmal fest. Ob wir heute noch bis Glauchau kommen? Um ca 1/2 5 h deutscher Sommerzeit starten wir, obwohl es immer noch regnet. Endlich sind wir auf der Autobahn, aber sie geht bergauf und wir müssen viel schieben, es ist eine wahnsinnige Anstrengung. Zweimal gelingt mir das Aufsitzen nicht, das Rad mit dem Gepäck und dem Kind ist einfach zu schwer. Wir liegen beide mit Christoph auf der Straße! Aber es ist nichts passiert, und ich lasse mir nun beim Aufsitzen immer helfen. Christoph ist so tapfer, fast hat er Spaß an der Fahrt und schaukelt gefährlich hin und her, bis er endlich einschläft und ich ruhiger fahren kann. Trotzdem wir kaum schnaufen können, wird die erste Ausfahrt auf einstimmigen Beschluß überfahren. Allmählich klärt es auf, die Bahn wird flacher, wir schöpfen neue Kräfte und überfahren auch die 2. Ausfahrt. Dann eine kurze Rast, wir könnten in einem Dorf unterkommen, aber die Leute sagen uns, daß wir Glauchau trotz unseres Gepäcks noch erreichen können. So fahren wir weiter. Es ist schon 8 Uhr abends. Nun geht die Bahn ständig bergab, das Wetter ist klar geworden, die Fahrt wird trotz unserer Müdigkeit zum Vergnügen. Christoph quängelt am Anfang, aber mit einem Stück von Tonis Schokolade beruhigt er sich. Schließlich wird ihm die Fahrt zu langweilig und er döst allmählich ein. Kurz vor Glauchau ist die Autobahn abgesperrt, unten fließt die Mulde, jenseits herrscht der Amerikaner,
13
aber nach Glauchau dürfen wir ungestört hinein. Kein Mensch hat uns auf der ganzen Fahrt angehalten. Mit meinen allerletzten Kräften schiebe ich nun weiter, wir sind alle ziemlich am Ende. Bergauf, bergab suchen wir die Wettinerstraße, wo Trudes Freundin wohnt. Als wir es endlich, 20 Minuten vor der Sperrstunde geschafft haben, ist es in ganz Glauchau das einzige von Russen besetzte Haus!! Ich kann nicht mehr weiter, die Kinder sind todmüde - aber wir müssen. Wir suchen beim kathol. Pfarrer Hilfe, aber der schaut nur vom Fenster des 2.Stockes auf uns herunter, weist uns in verletzendem Ton ab und schickt uns zur Polizei. Schnapp, und das Fenster ist wieder zu. Wir stehen mit den Kindern zum erstenmal im Leben hilflos auf der Landstraße, vom Turm schlägt die Uhr 10, es ist Sperrstunde.
Aber es gibt außer dem Pfarrer doch noch wirkliche Christen in dieser Stadt. Die Verwalterin vom gegenüber liegenden Schloß beobachtet unsere Ratlosigkeit und nimmt uns auf. Selbst eine Sudetendeutsche hat sie eine richtig energische "Gusche", in einer halben Stunde sind wir mit Matratzen und Decken in einer Wachstube untergekommen. Trude und ich sind am Ende, ich fange an zu weinen, nun, wo alles gut gegangen ist. Schon am ersten Tag bis Glauchau!! Walter nimmt uns in einer einfach rührenden Vatergüte die Kinder ab, die nun nicht mehr wissen was tun vor Müdigkeit. Endlich liegen sie, auch wir waschen uns. Dann sitzen wir noch mit Trude und Walter im Schloßhof und halten Kriegsrat. Endlich liegen wir alle auf einem Lager, die 2 Kinder in einem Bett, Trude, Walter und Fred am Boden, ich mit Christoph wieder auf einer Pritsche.
Freitag, 22.Juni:
Herrlich haben wir geschlafen, aber trotzdem tun mir noch alle Knochen weh. Trudes Freundin kommt auch. Dann starten Trude und Walter zunächst um den "Ausreisestempel", ich mache Innendienst, kehre die Stube, koche und hüte die Kinder. Mit dem Amerikaner aber wird es eine harte Nuß. Walter und Trude erzählen tolle Dinge. Wir alle aber sind
14
voller Zuversicht. Man muß wohl erst alles verlieren, um dann für jede Kleinigkeit dankbar sein zu können. So ist mein heutiges Gebet ein heißes Dankgebet, daß der HERR uns so weise bisher geleitet hat. Deus providebit, immer wieder! Wundervoll haben wir uns hier eingerichtet. Die Stube ist bewohnbar und fast gemütlich. Abends kommen Walter und Trude mit Leni, reichbeladen mit herrlichen Schätzen: Einem Tauchsieder, Kochtopf, einem Löffel, einer Büchse Kondensmilch, Kompott und eine große Schüssel Pudding. Nachdem wir die Kinder zum mindesten schlaffertig gemacht haben, decken wir am Schloßhof unseren Tisch. Eine Reihe von Bänken ist aufgestellt für die morgige Festmesse, vorne der Feldaltar. - Walter hat Suppe gekocht, dann gibt es als Nachtisch Thunfisch mit Brot, Unsere Laune und Stimmung ist so gelöst und glücklich wie schon seit Wochen nicht mehr. Wir sind uns der Tragik unseres Schicksals gar nicht bewußt. Wir nehmen das ganze Unternehmen nicht wie eine Flucht, sondern wie eine frohe Fahrt. Aus dem gegenüberliegenden Trakt des Schlosses beobachten uns diskret der "Generalbevollmächtigte Vertreter des Grafen Schönburg-Glauchau" und ein hochwürdiger Herr. Dann treibt uns ein Gewitter zurück in die Stube, wir plauschen noch eine Weile mit der "lustigen Witwe", Frau Langhammer, die uns so gütig aufgenommen hat, dann noch allein so recht gemütlich. Daß wir mit Walter und Fred in einer Stube schlafen, rührt uns wenig, wir sind wie eine schöne große Familie zusammengewachsen.
Samstag 23.Juni:
Nach einer Frühmesse in der so schönen Schloßkapelle komme ich so richtig glücklich "heim". Die Sonne strahlt, das Schloß ist so schön. Was tut es, daß wir wie aussätzige Bettler in der dunkelsten Stube neben Polen hausen. Was tut es, daß auch mein Herz nach Kultur und Zivilisation lechzt, daß auch wir einmal "Herrschaft" waren - zur Seligkeit führt der jetzige Weg schneller. Vormittag sind wir mit den Kindern bei Trudes Freundin Leni Grieb, die sich am Dachboden eine Notwohnung eingerichtet [hat], weil im übrigen Haus die Russen wohnen. Aber mich überfällt
15
nun die ganze Müdigkeit der letzten Zeit, ich kann mich kaum mehr aufrecht halten.
Am Morgen mußten sich alle Flüchtlinge, die nach dem Westen wollen, beim Arbeitsamt wegen eines Passierscheines registrieren lassen. Aber [am] Nachmittag bringt Walter eine trostlose Kunde, frühestens heute Abend, wahrscheinlich erst Montag oder Dienstag, wenn nicht noch später soll es diese Passsierscheine geben. Wie lange sollen wir noch hier sitzen, dieses Warten, die Ungewißheit, es nimmt jede Kraft. So schön ist dieses kleine Städtchen, das Villenviertel atmet eine wohlhabende Kultur aus. Jetzt erst merke ich, daß wir in einer anderen Welt gelebt haben, wir sind ja nie aus dem Haus gekommen, ich als Innenminister schon gar nicht, so sind wir verkommen und es fällt gar nicht so leicht, sich in dieser mitteleuropäischen Welt wieder zurecht zu finden. Das Haus von Scholzens-Grieb erinnert so an Zimmermanns in Erfurt, mein Gott, wie wird Inge-Mutti schauen, wenn ich mit dem "Süßen" ankomme, wie sie Christoph immer genannt hat. Nach einem herrlichen Mittagessen, Trude bäckt Omeletten, schlafe ich wie tot. Dann werden die Kinder in den Sandhaufen verfrachtet und ich habe eine Stunde Zeit für mein Brevier. Die Kapelle ist so traut, man spürt die Ruhe, die auf einen einströmt, wenn sie auch noch nicht tief dringt. Die Spannung ist noch zu groß. Aber vesper und complet bringe ich in Ruhe zu Ende.
Johannes des Täufers Geburtsfest und morgen hat Mutti und Wolfgang, mein Patenkind, Geburtstag. Ihnen soll mein Sonntagsopfer gehören, heute war ich bei meinen geliebten 4 Prager Leutchen. Wäre das schön, mit ihnen zusammen wieder einmal "Chorgebet" und wissen, daß wir nur eines beten: wie wird es nun in Erfurt werden? Ob dort wieder ein "Kreis" zustande kommt? Und wenn dann alles läuft, dann müssen wir wieder fort, wie halt immer. - Eben kommt Walter hereingeradelt, die Scheine können noch heute Abend kommen, aber bis spätestens morgen abends 21 Uhr werden alle ausgegeben, die heute angenommen wurden. Montag neue Annahme.
16
Wir sind unter den ersten Nummern, so schöpfen wir wieder neue Hoffnung. Dann könnten wir Montag ganz früh abfahren, das wäre herrlich.
24.Juni, Sonntag:
Mit den Passierscheinen klappt es noch immer nicht, wir werden von Stunde zu Stunde vertröstet, trotzdem steigt unsere Stimmung von Stunde zu Stunde. Die erste Messe verschlafe ich, dann gehe ich mit Walter um 1/2 9 in die Gemeinschaftsmesse für Kinder. Der "menschenfreundliche" Pfarrer hält eine grobe, aber nicht schlechte Predigt. Um 3/4 10 ist Hauptmesse im Schloßhof, wunderbar schön, bei klarem Sonnenschein. Vor dem Mittagessen fahre ich mit Walter zu einem Spähtrupp an die berühmte Brücke. Dort erfahren wir, daß wir mit unserem russischen Schein glatt durchkommen. Also wieder eine neue Hoffnung. Dann gibt es zu Mittag eine Erbsensuppe, die sich essen läßt. Mit Erdäpfeln und Speck und vor allem viel! Plumpsatt schlafe ich, dann gehe ich in die Kapelle zur vesper und komme gerade zum Chorgebet der Schwestern zurecht. Wie schön, daß sie das Salve Regina singen, da steigt gleich wieder das Heimweh nach Prag und meinen Prager Freunden auf. Aber ich spüre, in Glauchau, daß mich ihre Gedanken und Gebete auch hier begleiten. [Am] Nachmittag gibt es ein herrliches Kaffeetrinken mit 2 riesen Kuchen, die uns die gute Frau Langhammer gebacken hat. Dann steigt am Abend mit den Kindern ein Pfänderspiel bei Regen, und am Abend sitzen wir in fröhlicher Runde bei Griebs; unten im Garten singen die Russen ihre melancholischen Steppenlieder, monoton und klagend, sie passen nicht in unser Land. Frau Dr John(?) bietet uns noch ein Liegebett an, wir holen dazu noch 2 Bänke aus der Freiluftkirche, darauf werden nun alle Matratzen in einer Höhe gelegt. Militärisch sind die Betten für sieben Mann aufgestellt. Reihenfolge: Christoph, ich, Fred, Walter, Trude, Gina, Beate, Gute Nacht!
Montag 25.Juni:
Wir sind noch immer in Glauchau. Scheinbar waren wir gestern zu froh. Heute ist die Lage
17
verzweifelt. Es werden Passierscheine ausgegeben, aber unsere haben sie vermasselt, Schlamperei! Und wir bekommen nun keine neuen, weil der Russe die Grenze hermetisch absperrt. Kein Stempel, kein Ausweis gilt heute. Nur bei den Amis gilt der Passierschein, den wir nun auch nicht haben. Es ist zum verzweifeln. Fast könnten wir den Mut verlieren, Walter läßt auch den Kopf recht hängen. Nun ist er mit Trude fort und will über die Furt einen Spähtrupp bis Merane fahren. Mein Gott, wie kommen wir nun heim, die gesparten Lebensmittel werden erschreckend weniger...
Dienstag, 26.Juni:
Nachdem alle Versuche um eine offizielle Möglichkeit fehlgeschlagen sind, starten wir um 1/2 8 früh mit Fred und allen Kindern und Sachen zur Furt. Ungesehen erreichen wir das andere Ufer (der Mulde), nachdem Trude und ich uns vorher in der Kapelle noch den Segen für dieses gewagte Unternehmen geholt haben. Walter ist wahrhaft ein Christophorus. Oft geht er hin und rüber, holt ein Rad nach dem anderen, ein Kind ums andere. Der Fluß ist an dieser Stelle nicht tief, aber sehr reißend, so daß Trude und ich schwer zu kämpfen haben, mit den Rucksäcken hinüberzukommen. Endlich ist es geschafft, wir ziehen unsere Schuhe und Strümpfe wieder an, winken Fred noch einen Abschiedsgruß, er bleibt bei den Russen. Dann schlagen wir uns zur Deckung in die Büsche, ein paar Kugeln pfeifen in der Gegend herum, aber wir kommen gedeckt zur Straße und haben zum zweitenmal eine unheilvolle Grenze hinter uns. Nun haben wir das Schlimmste geschafft. Bald haben wir die Autobahn erreicht und nach einer kurzen fröhlichen Rast fahren wir gegen Gera. Mittagstation in einem netten Dorf im Gasthaus. Wir kochen den Kindern den letzten Haferflockenbrei, wir haben nur mehr Brot und Salz. Aber es schmeckt. Gegen 19 Uhr sind wir in Gera - große Pleite. In Köstritz ist Typhus ausgebrochen, die gerade Strecke nach Caaschwitz, zu Schwester Mariannes Elternhaus, ist gesperrt. Wir müssen einen gräßlichen Umweg fahren, der einfach unbeschreiblich ist und unsere letzte Kraft
18
kostet. Durch Wald und Wiese, steinige, ganz steile Hohlwege hinauf und wieder hinunter, und immer noch hat es kein Ende. Ich kann nicht mehr, die Tränen rinnen mir übers Gesicht, während Christoph seine Händchen tröstend an mich schmiegt. Aber ich beiße die Zähne zusammen, wir müssen weiter, es wird schon dunkel, wo sollen die Kinder bleiben? Im vorletzten Dorf (Reichardsdorf) geht es nicht mehr. Wir stellen unser sämtliches Gepäck in einem Haus unter und fahren leer, nur mit den Kindern weiter. Wieder durch Wald, bergauf, querefeldein und über Wiesen, endlich, die letzten paar 100 m noch Straße, dann sind wir da.
Und nun beginnt das dunkelste Kapitel unserer Wanderschaft: Der Empfang ist eisig, wir sind unwillkommen, "ja, für eine Nacht", unmöglich länger. Wir bekommen keinerlei Hilfe. An allen Mienen ist es zu lesen, wie ungelegen wir kommen, Herz gilt hier nicht. Das sind Leute, die nur ihr Geschäft, ihren Vorteil kennen, Menschlichkeit liegt ihnen ganz fern. Trotzdem baden wir noch ganz schnell die Kinder, zu essen bekommen wir nicht einen Bissen. Um jeden Tropfen Wasser müssen wir bitten, obwohl alles da ist. Marianne ist noch die beste. In ihrem Bett, neben das wir noch eine Couch schieben, versuchen wir zu schlafen, wie die Heringe, 6 nebeneinander. Mein Gott, wie schön war es doch in Glauchau. Wir halten schweren Kriegsrat. Wir haben ja nicht das geringste Gepäck hier, so müssen wir mindestens warten, bis Trude und Walter es geholt haben. Familie Riedl meint: so fahren Sie doch erst ohne Gepäck mit den Kindern nach Erfurt!! Obwohl sie sehen, daß wir in kurzen Hosen, ohne Decke, ohne alles da sind, müde und aufgerieben bis zum letzten; Gina hat übrigens Keuchhusten und müßte sich dringend ausschlafen. In der Nacht geht ein Gewitter nieder und am Morgen gießt es in Strömen! Hoffnungslos.
Mittwoch, 27.Juni:
Trude und Walter fahren in strömendem Regen das Gepäck holen. Ich merke "daheim", daß auch der Regen diese Menschen nicht hindert, uns erbarmungslos auf die Straße zu setzen. Stolz dürfen
19
wir ja jetzt keinen haben, da es um das Leben der Kinder geht. Wir bitten!! Gnädig wird uns gestattet, bis 3 Uhr Nachmittag zu bleiben. Trude beginnt nun auch zu weinen. Ich bin innen so tot und leer, ich kann es einfach nicht fassen, daß es so etwas gibt. Sie haben alles, vor mir wird der Speisezettel besprochen. Nicht einmal Kaffee, keine Suppe bieten sie uns an. Das ganze Benehmen ist offenkundig böswillig. Zu Mittag fragt Schwester Marianne, ob sie uns Teller bringen soll. Als wir ihr antworten, wir hätten ja nichts darauf zu tun, geht sie wieder. Die Lage ist eindeutig, wir überlegen, ob wir mit dem Zug wieder nach Gera zurückfahren sollen. Schließlich provozieren die beiden Schwestern noch einen offenen Krach, um uns gleich besser auf die Straße setzen zu können. Wir packen unsere Sachen, Gina erbricht zweimal. In meiner Wut reiße ich Mariannes Kruzifix von der Wand, es hat in diesem Haus keinen Platz. Sie hatte es uns in Weipert abgebettelt. Auch meine schöne Widmung reiße ich aus ihrem Buch, als sie es merkt, wirft sie mir Diebstahl in die Schuhe, das Buch fliegt mir mit Gekeife nach in den Straßendreck. Aber Gott ist doch mit uns. Im Moment, in dem wir starten, hört es auf zu regnen, so fahren wir noch weiter die 10 km bis Eisenberg. Ich fahre ohne ein Wort los, möge der Herrgott ihnen diese Rohheit nicht zu hart vergelten. Auf der Landstraße wird unsere Seele wieder frei, aber die Aufregungen, die schlaflose Nacht, haben uns alle Kraft genommen. Auch die Kinder sind übernächtig. Mit vieler Mühe erreichen wir gegen 17 Uhr Eisenberg. Hier werden wir menschlich aufgenommen. Ich bleibe mit Christoph bei einer Weiperter Frau, der wir einen Brief mitgebracht haben. Da sie einen kleinen Buben hat, zieht Trude wegen Ginas Keuchhusten in die Rotkreuz Unterkunftstelle im Schützenhaus, das nur einige Häuser weiter liegt. Dort kommt sie auch gut unter. Unsere Frau Böhm gibt dem Christoph gleich einen Teller Suppe und ein Butterbrot, das der Kleine mit Heißhunger verzehrt. Den Rest der Suppe darf ich essen, aber ich gebe sie Walter. Der hat sie verdient, der Gute. Bald liegt Christoph im Bett und auch ich kann
20
mich waschen. Es ist wie im Paradies. Dann kommen Trude und Walter und wir essen eine herrliche Erbsensuppe, zu der uns die gute Frau auch noch Butter spendet. Was ist es doch herrlich, wieder einmal so richtig satt zu werden. Die Güte dieser einfachen Menschen tut doppelt gut nach dem Erlebnis in Caaschwitz. Bei der Nachbarin hole ich dann meine Schuhe, die ich schon im Flur ausgezogen habe, weil sie so schmutzig waren. Da bekomme ich sie blitzblank geputzt zurück! Ich bin gerührt über die feine Güte, mit der uns diese Menschen über das Schwere hinweghelfen. Mit Christoph zusammen darf ich nach einer Woche wieder in einem richtigen Bett schlafen, es ist zu schön. So dürfen wir dem Vater im Himmel wieder besonders danken, daß er uns gnädig führt.
28.Juni Donnerstag:
Herrlich haben wir geschlafen. Um 8 Uhr stehen wir auf. Christophs Augen sind so munter. Er bekommt Kaffee mit Brot, dann wasche ich mich, währenddessen kommt schon Walter. Mit einem Passierschein wird es nichts, aber wir bekommen Lebensmittelkarten. Walter erjammert sogar 1 L Milch. Ich nehme Christoph an der Hand und gehe mit ihm einkaufen. Es ist wie im Paradies. Man bekommt fast alles, Brot ohne einen halben Tag anstehen zu müssen!! Butter!!! Wurst!!!! Beladen mit diesen Schätzen gehe ich zu Trude ins Schützenhaus. Dort ist es nett, zweistöckige Betten, neben ihr liegt ein alter Lanzer [Landser], Gina schläft. Walter ist auch schon da und sagt uns, daß eine Frau ihren Passierschein für die Fahrkarte borgen wird. Ich soll allein fortfahren und bei Herta in Jena Quartier suchen. Ungern sage ich es zu, es ist schade, wenn wir uns jetzt trennen. Bevor ich zum Packen gehe, essen wir alle noch eine Schüssel herrlicher Wurstsuppe aus der Volksküche. Wieder einmal herrlich satt! Dann packe ich, Christoph löffelt derweil noch den letzten Rest der Erbsensuppe. Dann schenke ich Frau Böhm zum Abschied einen Armreif aus meinem Schmuck. Am Schützenhaus hole ich die anderen ab, sie wollen mich noch mit Christoph in die Bahn verfrachten und dann auf die Autobahn. Als Walter meine Fahrkarte
21
löst, werden auf einmal alle frei ausgegeben. So kommen wir alle mit. Die Räder versorgt Walter, wir das Gepäck. Herrlich geht es. Der Kamm steigt uns, die Laune steigt auf 1oo Grad, als wir im Zug erfahren, daß wir sofort nach Weimar Anschluß haben. Vor Jena steigen wir aus und fahren mit den Rädern nach Porstendorf, von wo der Zug nach Weimar weitergeht. Aber es wird immer toller: heute fährt der Herrgott selbst mit uns. In Porstendorf erfahren wir, daß heute zum erstenmal am Abend ein Zug von Weimar nach Erfurt fährt!! Wir schnappen 3 x Luft, dann fallen wir uns um den Hals, am Bahnhof; was die Leute von uns denken, ist uns egal. Also von Porstendorf geht es nach Großheringen, umsteigen bis Weimar. In Großheringen trinke ich ein Bier, die Kinder bekommen Kaffee in Milch angerührt. Am Bahnsteig setzen wir Gina auf den Topf, daneben wird gefüttert, es ist idyllisch. Wer jetzt keinen Sinn für Romantik hat!! -- In Weimar In Weimar geht es schief, weil die Räder nicht mitkommen, so muß Walter zurückbleiben und fährt mit dem Rad nach Erfurt. Wir können es noch kaum fassen. Da es keine gepäckaufbewahrung gibt, bleibt Trude mit den beiden Mädchen an der Bahn, ich nehme meinen Rucksack und den Christoph an der Hand und gehe langsam durch die bekannten Straßen. Es ist nun so, daß ich das Haus doch mit Herzklopfen betrete, wie wird es sein?? Fräulein Brassel (die Untermieterin) öffnet mir. Ich schicke zuerst Christoph vor, als Gratulanten für den morgigen Namenstag von Papa. Dann liege ich Papa in den Armen, alles übrige ist Chaos, aber ein schönes Chaos.
Te Deum laudamus!! Herrgott hab Dank, ja es gilt:
Deus providebit, Gott wird sorgen.
eigenhändiger Vermerk am Ende des Typoscripts
suivant oder Post Scriptum
https://jan.diemorgengab.at/jufl01.htm