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Fortsetzung |
der Tagebuchnotizen 1945 |
geschrieben 2006 |
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[Freitag] 29.Juni 1945: Nun also waren
wir nach der abenteuerlichen Flucht aus der Tschechei glücklich nach
Erfurt,
daheim, gelandet. Papa
hat uns mit einem sehr erleichterten "na, da seid ihr ja endlich"
begrüßt und den quicklebendigen Christoph
in seine Arme geschlossen, während ich unruhig durch die Wohnung ging
und dann fragte: wo ist denn die Herta??
Da wurde Papa sehr verlegen und teilte mir schweren Herzens mit, daß
Herta vor zwei Tagen, als sie hörte, daß die Russen im Anmarsch
seien, mit einer Gruppe von Bekannten mit allem Schmuck und wertsachen nach
dem Westen abgereist sei. Sie wollte auch Papa mitnehmen, aber der wollte
unbedingt auf mich und seinen Enkel warten, gegen Hertas Einwand, die könnten
ja in der Cyriakstraße zu den "Florers" ziehen. [vgl. im
Gegensatz dazu «Aus meinem Leben», Kap.XI]
Das freilich lehnte ich dann nach meinen Erfahrungen mit meiner Schwägerin
Trude
auf dem Familiensitz in Weipert-Neugeschrei
rundweg ab. [...] |
Aber wie sollte es nun weitergehen? Ich war
heimgekommen völlig mittellos, arm wie eine Kirchenmaus, die Tschechen
hatten Fabrik und alles Vermögen enteignet und uns nur mit dem Allernötigsten,
vor allem für die Kinder, ausreisen lassen. Noch waren die Amerikaner
in Erfurt. Am nächsten Sonntag gingen wir in die Brühler Kirche
zur hl. Messe. So viel ich mich erinnern kann, hatten wir damals noch die
brave alte Köchin Emmy, bei der konnte ich derweil den Christoph lassen.
Am Weg zur Kirche fiel mir in der Brühlerstraße plötzlich
ein Schild auf : "Emma Krüger, Hebamme". Da blieb ich stehen
und erklärte Papa fest entschlossen: ich werde Hebamme. Das ist ein
freier Beruf, da kann ich den Christoph bei mir behalten. Schon am andern
Tag meldete ich mich zum nächsten Termin für einen Hebammenkurs
in der Landesfrauenklinik an. Dort bekam ich im ungeheizten "Gartenhaus"
ein Bett mit noch zwei Kandidatinnen, |
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die auch ihre Männer im Krieg verloren
hatten. |
Indessen hatte man Papa zwangsweise eine Flüchtlingsfamilie
in die Wohnung gesetzt, so daß ich nicht einmal zu Hause schlafen
konnte. Papa aber sparte sich, selbst fast verhungert, jedes Gramm Butter
vom Mund ab, für den Enkel. Ich konnte das nicht mehr anschauen und
habe meine engelsgute Schwiegermutter [...] um Rat gebeten. Da hat sie mir
vorgeschlagen, den Christoph zu den Nonnen ins Marienstift zu geben, sie
würde die Kosten übernehmen. Diese rettende Lösung möge
Gott ihr vergelten. So zog ich doch einigermaßen beruhigt in die Klinik
ein. Das alles spielte sich im Herbst ab. Ich konnte den Jungen noch einigemale
abholen zum Arzt für eine Bestrahlung mit Höhensonne. |
Am unvergeßlichen 19.November,
an Karls Geburtstag, holte ich ihn zum letztenmal ab; der der Weg durch
den Brühlergarten mit dem Ententeich begeisterte den Buben, so daß
ich den Heimweg in das Stift sehr verzögerte, aber Christoph muß
geahnt haben, daß es nach dem Abschied beim Arzt nun länger währen
würde bis zum Wiedersehen mit der Mami. Als ich ihn schweren Herzens
wieder den guten Schwestern übergeben mußte, hat er so geweint
und gebrüllt vor Angst, daß ich mich in die Kapelle flüchtete
und mir schluchzend die Ohren zuhielt. Das Weinen des Kindes höre ich
heute noch so manchesmal. Aber ich hoffte ja auf Besuche, die vorgesehen
waren. |
Indessen machte mir der Hebammenkurs trotz Hunger
und beißender Kälte im "Gartenhaus" viel Freude! 4
Tage nachdem ich Christoph im Heim abgegeben hatte, wollte ich ihn voll
Sehnsucht besuchen, aber die Schwestern haben mich abgewiesen mit dem Hinweis,
nun hätte sich das Kind endlich eingelebt, ein kurzes Wiedersehen würde
das Abschiedsdrama neuerlich auslösen. Das mußte ich nun einsehen
und fuhr mit dem Fahrrad verzweifelt im Novemberregen durch die Stadt. |
Mitte Dezember versuchte ich wieder einen Besuch;
eine Kollegin hatte mir sogar einen Apfel mitgegeben, wobei man wissen muß,
was ein Apfel in diesem Hungerwinter bedeutet hat. Aber auch diesmal wurde
ich abgewiesen, das Besuchszimmer konnte wegen Mangel an Heizmaterial nicht |
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benützt werden und die Wohnung der Kinder
war wegen Infektionsgefahr von außen für Besucher gesperrt. |
Weihnachten war nicht mehr weit und wir hatten
von Weihnachten bis Jahresende Ferien von der Klinik, alle konnten nach
Hause fahren, nur ich hatte in unserer Wohnung durch die Einquartierung
kein Bett mehr zum schlafen, war also nur tagsüber bei Papa. Für
den Weihnachtstag war im Kinderheim Besuchszeit angesagt. Die Christmette
in der Brühlerkirche war um 6 Uhr morgens, natürlich war ich dort.
Vorher hatten wir uns noch mit der einzigen katholischen Ärztin, Dr
Gertraud Hoffmann,
verabschiedet, mit guten Wünschen für ein gutes, wenn auch karges
Fest. Sie wollte in den Dom gehen. Als ich dann gegen 9 Uhr nach der Christmette
mich auf das Fahrrad schwingen wollte, um in unsere Wohnung zu Papa zu fahren,
sah ich zu meinem Schrecken Papa am Gittertor der Klinik stehen, leichenblaß.
Im ersten Moment fragte ich nach Herta, ob sie vielleicht zum Fest kommen
wollte, und den schon seit Wochen in Erfurt hausenden Russen in die Hände
gefallen wäre. Papa schüttelte den Kopf. In dem Moment rief die
Pförtnerin der Klinik aufgeregt: Frau Florer, wo sin Sie denn gewesen,
ich suche Sie schon im ganzen Haus, man hat Ihr Kind ins Krankenhaus gebracht!
Papas leichenblasses Gesicht drängte mich zu der entsetzten Frage,
mit der ich das Schlimmste auszuschließen hoffte: Ist der Christoph
tot? Er nickte und ich konnte mir nur vorstellen, daß er aus dem Fenster
gefallen sei. Eine Mitschülerin hatte mir doch erzählt, ihn am
Vortag noch unter den Kindern gesehen zu haben. War es eine Verwechslung?
Atemlos und nur noch mit einem Funken Hoffnung eilten wir in das nahe gelegene
katholische Krankenhaus, wo man uns sofort in die Halle führte, wo
schon andere tote Kinder auf der Bahre lagen. Und dort lag tatsächlich,
es war also keine Verwechslung, Christoph still und sanft wie ein kleiner
Engel. Dann der Arzt, den ich um Auskunft bat, er fragte mich, ob ich die
Mutter sei, anscheinend kam ihm meine Ruhe unerklärlich vor. Als ich
das bejahte, bat er mich um die Erlaubnis, das Kind obduzieren zu dürfen,
Das wollte ich sogar selbst, um die armen, schwer erschütterten Schwestern
von jeder Schuld frei zu wissen. |
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Dann rannte ich nach Hause um den Photoapparat,
ich wollte ein Bild vom Kind, solange die Miene noch aussah wie schlafend.
Papa hatte ich gebeten, in die Cyriakstraße zu gehen und meine Schweigermutter
zu verständigen, während ich zu Pfarrer Müller lief. Es war
der Morgen des Weihnachtsfestes, er hatte gerade Besuch, aber ich sagte
zur Haushälterin: Ich muß ihn s o f o r t sprechen! Da kam er
herüber: Aber Frau Florer, was ist denn? Ich schrie ihm förmlich
ins Gesicht: Der Christoph ist tot! Da ließ er mich wortlos stehen,
verabschiedete seine Gäste nebenan und kam sofort zu mir. Ich konnte
ihm nur einen kurzen Bericht geben, wußte ja selbst nicht, was wirklich
geschehen war. Dann holte ich Papa in der Cyriakstraße ab und wir
gingen fast wortlos nach Hause in unsere Wohnung. Mir war, als wäre
ich nicht mehr ich selbst, ich hatte keine Tränen, ich spürte
mich nur irgendwie von einer höheren Macht getragen. Papa hatte für
den Abend Gäste eingeladen und wollte das gleich absagen, aber ich
habe gemeint, das hilft auch nichts, lassen wir alles so wie geplant, nur
sollte Papa den Gästen erst am Heimweg mitteilen, was geschehen war.
So ist es dann auch abgelaufen. |
Als Randbemerkung: Unsere Gäste waren übrigens
außer einer alten Dame das Ehepaar Schmidinger. Er war Österreicher
und Opernsänger an der Erfurter Oper. Das Ehepaar war kinderlos und
sie wünschten sich sehr ein Kind. Tatsächlich wurde ihnen im Elendsjahr
1946 eine Tochter geboren, der sie auf Grund der so schrecklichen Hunger-
und Kältezeit den Namen "Dolores" gaben. Aus ihr wurde dann,
das habe ich erst in den 70er Jahren erfahren, die bekannte Kabarett Schauspielerin,
in Wien bestens bekannt: Dolores Schmidinger! |
Am nächsten Tag habe ich die Todesanzeige
aufgesetzt. Es war mir ein Anliegen, meinen ungläubigen Bekannten im
Text zu sagen, wie besonders tief einen der Glaube an Christus in solcher
Lage trägt. Das hat dann auch so mancher Kollegin zu denken gegeben. |
Als ich später den Arzt nach einer Diagnose
fragte, meinte |
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er nur, das Kind hätte eine totale Blutvergiftung
gehabt, das Blutbild sei von Leukozyten überschwemmt gewesen, wohl
als Folge einer Angina. Erst nach vielen Jahren habe ich durch meine Freundin
Irene Körnig,
die mir damals noch unbekannte Amtsärztin des Heimes, erfahren, daß
es sich um eine toxische Diphterie gehandelt hatte, die innerhalb von wenigen
Stunden zum Tod führt. Damals sind mehrere Kinder daran gestorben.
Wir haben dann mit Pfarrer Müller die Ansprache zum Begräbnis
ausgearbeitet, ich wollte auf keinen Fall Worte des Trostes, er sollte auf
das Geschenk des Himmels eines getauften Kindes hinweisen, das mir nun als
kleiner Engel unverlierbar nahe war. Das Engelamt haben wir für den
28.Dez., dem Fest der Unschuldigen Kinder, festgelegt. Das war dann für
mich der Moment, wo die Nerven bloßlagen. Die Kirche war noch weihnachtlich
geschmückt. Plötzlich ging die Türe auf und von einer Schwester
geführt kamen die kleinen Spielgefährten von Christoph vor die
mit Kerzen erleuchtete Krippe und sangen mit ihren hellen Stimmen das Lied
"Zu Betlehem geboren ist uns ein Kindelein" Sicher hatte das Christoph
auch schon im Advent mit ihnen geübt. Das war dann doch zu viel für
mich, aber auch so, daß sich endlich ein Strom von Tränen löste. |
Nach dem Engelamt [...] gingen wir heim und
meine Schwägerin versuchte in der ganzen Stadt, N ä g e l zu finden,
damit wir den kleinen Holzsarg auch verschließen konnten. Den Sarg
hatte mit Mühe Walter Innitzer, unser lieber Christophorus von der
Flucht über die Mulde von den Russen in die amerikanische Zone, auftreiben
können. Es war ja der so entsetzlich kalte erste Nachkriegswinter.
Am 29.Dezember haben wir dann Christoph in die kalte Erde gebettet,
es war halb Erfurt beim Begräbnis. Ich habe noch die Taufkerze auf
das Grab gestellt - die war natürlich am anderen Tag schon gestohlen,
war ja auch eine "Wärmequelle". Nachher versuchte ich meine
arme Schwiegermutter zu trösten, sie war ja eine tiefgläubige,
demütige Frau. Vater Michael aber war nicht zu trösten, er konnte
es nicht verstehen, daß ausgerechnet in der einzigen katholischen,
nicht nazistischen Familie alle männlichen Nachkommen nicht überlebt
hatten: Trudes 1.Kind, der kleine Bernhard war als Säugling gestorben,
Trudes Mann Franz Dick gefallen, Karl vermißt und nun auch sein Liebling,
der "kleine Karli" gestorben. |
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Er hat lange gehadert. |
Meine klinischen Ferien waren nun auch zu Ende,
am 31.Dez.45 bin ci wieder zum Dienst angetreten. Da kam Frau Dr
Gertraud Hoffmann ahnungslos auf mich zu und fragte, ob ich schöne
Weihnachten gehabt hätte. Daraufhin habe ich mich wortlos verzogen,
aber die Stationsschwester rief dem "Fräulein Doktor" entsetzt
zu: Ja wissen Sie denn nicht, was geschehen ist? Schließlich hat mich
Gertraud aufgefangen und es wurde daraus eine lebenslange Freundschaft.
Da ich in der eiskalten Gartenbude nicht schlafen konnte und durch mein
nächtliches Weinen auch die anderen störte, hat mir die verständnisvolle
junge Oberin der Hebammenschule erlaubt, in dienstfreien Nächten im
Dienstzimmer von Dr. Hoffmann zu schlafen. Als Gertraud wenig später
in die nahe gelegene orthopädische Abteilung versetzt wurde, durfte
ich sogar auswärts bei ihr schlafen. Dort gab es - herrlich - einmal
am Tag eine dicke heiße Suppe! An einem stillen Abend hat mir Gertraud
dann einmal die 3.Station des Kreuzweges von Romano Guardini
vorgelesen: Jesus fällt zum erstenmal unter dem Kreuz - und steht wieder
auf und geht weiter! |
Natürlich war ich jeden freien Tag am Friedhof, im
Frühjahr wurde er zu einem herrlich blühenden Garten mit üppigen
Weißdornsträuchern. |
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Im Sommer 1946 hatte ich dann die Gelegenheit, einen
Kindertransport als Kinderpflegerin in den Westen zu begleiten, also ganz
offiziell die sonst abgeriegelte "Zonengrenze" zu überfahren.
Dort kam ich verstaubt und schmutzig in Krefeld
bei Toni
an. Seine Mutter war ganz entsetzt, die hatte ja keine Ahnung, was das für
eine abenteuerliche Reise mit den Kindern zu ihren Eltern war. Alles noch
verlagerte Schützlinge, um sie vor den Bomben im Rheinland zu retten! |
Toni habe ich dann gebeten, als Taufpate mir eine Grabplatte
mit einem Christophorus zu suchen, die er dann bei einer wunderbaren jungen
Künstlerin, Marga Grove,
bestellte. Diese Platte lag 1o Jahre in Erfurt auf Christophs Grab, dann
haben die Behörden der DDR alle Kindergräber aufgelassen. So habe
ich diese schöne Platte im Jahre 1966 (!!) aus der DDR mit viel "Schmäh"
den dortigen Beamten abgebettelt und innerhalb von wenigen Stunden die Freigabe
erkämpft. Die gute Liese, Friedrikes Mutter, die damals noch in Erfurt |
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wohnte, hat sie mir dann mit viel Liebe mühevoll
verpackt und nach Wien
abgeschickt, wo sie über das österreichische Zollamt wieder von
unserem guten Walter Innitzer verzollt und freigegeben wurde. Nun liegt
sie am Hietzinger Friedhof zu Füßen von Papa [und Mama]
und wird auch mich einmal zudecken. |
Wieder Sommer 1946: Zum ungläubigen
Erstaunen meiner Mitschülerinnen und auch der Ärzte bin ich vom
Westen wieder in die Russenzone zurückgekehrt, diesmal nicht offiziell,
sondern auf geheimen Schleichwegen. Es gab immer wieder liebe "Schlepper",
die einen, natürlich gratis, ein Stück weiterbrachten, natürlich
zu Fuß. Einmal hat mich allerdings ein Russe aufgegriffen, aber ich
konnte mich mit einer Autouhr, die Leuchtziffern hatte (!!), loskaufen.
Papa hatte sie mir einmal aus seinem Handel mit Autozubehör geschenkt.
Die hat mich dann gerettet. Der primitive Russe war so begeistert, hatte
noch nie so etwas gesehen - und ließ mich, weiter unbelästigt,
laufen! |
Wie ich dann plötzlich in der Klinik wieder
aufgetaucht bin, haben mich alle für verrückt gehalten; die dachten
doch, ich hätte mich endgültig in den Westen abgesetzt. Aber ich
wollte doch unbedingt meine Ausbildung mit der Prüfung und Zulassung
als Hebamme abschließen. Das ist mir Ende 1946 auch gelungen. |
Schließlich aber wurden die Russen immer
lästiger.Mich haben sie zweimal bei einer Razzia von der Straße
weg festgehalten und nachdem schon ein ganzer Trupp "unter der nächsten
Laterne" stand, wurden wir in das Bahnhofhotel abgeführt, dort
perlustriert und ich Gott sei Dank wieder freigelassen. Aber so mancher
ist von so einer Razzia nicht mehr heimgekehrt. Anfang 1946 wurde es auch
für die Eltern von Gertraud gefährlich; ihr Vater war Präsident
der Eisenbahndirektion in Schlesien gewesen, so daß sie nach dem Westen
geflohen sind. Auch Papa hat im Frühjahr 1946 Erfurt verlassen und
ist nach Graz
heimgekehrt. Ich wollte noch bleiben, bis ich mein Abschlußexamen
hatte, und dann nachkommen. Nun waren Gertraud und ich allein zurückgeblieben,
was uns noch enger zusammenführte. So ging das Jahr 1946 bei Hunger
und Kälte hin. Ein Briefwechsel war schon wieder möglich und die
Nachrichten von Papa aus Graz, daß er nicht mehr so hungern mußte,
haben mich sehr getröstet. Wenigstens ihm ging es langsam besser. |
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Im Dezember 1946 hatte ich mein Examen
in der Tasche, aber was nun? In der Klinik hatte ich kein Quartier mehr,
ging also auf Herbergsuche bei einigen befreundeten Familien, vergeblich.
Endlich kam ich zu Frau Dr Körnig, bei der mich Gertraud eingeführt
hatte, außerdem hatte Prälat Graf Plettenberg, der Seelsorger
im Marienstift, Dr Körnig gebeten, sich der "armen jungen Frau"
anzunehmen. So zog ich bei Irene Körnig ein. Ihr Gatte, Dr Körnig,
war wohl aus der Russischen Gefangenschaft heimgekehrt, aber eines Tages
wurde er auf die russ. Kommandantur gerufen - und kam erst 1948 wieder zurück;
da hatten die Russen irgendwo einen Arzt gebraucht. Ich habe ihn leider
nicht mehr kennengelernt, da war ich schon wieder in Österreich. Irenes
ältere Tochter war damals 1o, Ev 3 Jahre alt. Die älteste Tochter
Ursula war kurz vorher, noch in Berlin,
an einer Meningitis gestorben. Wenn Irene noch im Dienst war, lief ich mit
den Kindern um den Eßtisch herum, um sie ein wenig in der kalten Wohnung
zu erwärmen. Nach einer lebenslangen Freundschaft ist Irene 2003 92
jährig in Heiligenstadt
gestorben, Brigitte und Ev sind schon pensionierte Ärztinnen mit etlichen
Enkelkindern. Ich bin mit der Familie immer noch in Verbindung. |
Aber zurück zu 1947. Meine Heimkehr
nach Österreich war gar nicht so einfach, denn ich war durch meine
Heirat jetzt deutsche Staatsbürgerin. Papa versuchte in Graz alles,
um mir wieder die österr. Staatsbürgerschaft zu verschaffen, dazu
war aber meine Anwesenheit Voraussetzung. So bin ich im Februar bei Eiseskälte
in einem von den Russen immer wieder gestürmten (zwecks Diebstahl)
pumpvollen Zug in das mir völlig unbekannte Berlin gefahren, um dort
den österr. Konsul um Hilfe zu bitten. Geschlafen hatte man damals
in der Halle des Bahnhofs am Boden auf Matratzen und kaum einer Decke. Am
nächsten Tag fragte ich mich in der völlig zerstörten Stadt
zum österr. Konsulat durch, aber der Mensch dort war entweder ebenso
hilflos wie ich oder ein Kommunist. Jedenfalls konnte oder wollte er mir
nicht zu einem Visum verhelfen. Ich war so wütend, daß ich ihm
zurief: "Auch gut, ich schreibe Ihnen am 1.April aus Wien eine Karte!"
Gott fügte es, daß ich tatsächlich am 1.April in Wien angekommen
bin und in der Wohnung von |
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Cousine Annie
Unterkunft fand. |
Also aus Berlin ebenso abenteuerlich zurück
nach Erfurt. Dort bekam ich dann vom guten Pfarrer Müller eine offizielle
Zuzugsgenehmigung nach dem Westen. Das ging so: Er stammte aus einem Ort
in der Westzone (amerikansch), kannte dort den Bürgermeister, der ihm
zu Hilfszwecken "Blanko"-Zuzugsgenehmigungen gegeben hatte; und
mit so einer Zuzugsgenehmigung konnte ich offiziell die russische "Zone"
verlassen. Man reiste damals von "Stützpunkt zu Stützpunkt",
ich zunächst nach Frankfurt
in die amerikanische Zone zu einer Bekannten aus der Erfurter Klinik. Dort
blieb ich ein paar Tage, schlafen konnte man gegen Bezahlung in einem zum
"Not-Hotel" ausrangierten Eisenbahnwaggon am Bahnhof. Hilde, meine
Kollegin aus der Erfurter Klinik, war schon früher zu ihren Eltern
nach Frankfurt geflohen. Sie verschaffte mir ein Ersatzvisum in die "englische
Zone", wo ich in Essen
Gertraud wiederfand. Sie war Anfang 1947 nach dem Westen zu ihren Eltern
geflohen. Gertraud versuchte nun, sich in Essen eine Arztpraxis einzurichten,
das war gar nicht so einfach; indessen arbeitete sie in einem Krankenhaus,
wo ich bei ihr wohnen konnte. Dort konnten wir fast 14 Tage ungestört,
ohne Angst, eine gute Zeit miteinander verbringen. Leider erreichte mich
dort aber die Todesnachricht meiner so guten und geliebten Schwiegermutter.
Es war vorauszusehen: als ich mich in Erfurt von ihr verabschiedete, lag
sie sehr geschwächt mit einer Grippe im Spital und wir wußten
beide, daß es ein Abschied für immer war. [...] |
Im total zerstörten Essen hatten wir dennoch
eine schöne Zeit ohne Angst vor den Besatzungsmächten. Wir gingen
öfters in den nahe gelegenen Borbecker Wald, um Holz für die Eltern
von Gertraud in Warendorf
in Westf. zu sammeln; Gertraud organisierte noch ein paar Kohlenbriketts.
Das alles annte man damals "fringsen" nach dem Kölner Kardinal
Frings,
der in einer Predigt sagte, in solcher Not könne man sich holen, wo
immer man es finde! Das alles brachten wir dann in einem alten Koffer zu
Gertrauds Eltern, die |
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ja auch elend gefroren haben. Am Heimweg besuchten
wir noch in Münster das frische Grab von Kardinal Clemens August Graf
von Galen,
dessen berühmte Predigten gegen den Naziterror ich in Prag
mit der Schreibmaschine vervielfältigt hatte, um sie dann an die Front
weiterzuschicken. Das war damals auch kein ungefährliches Unternehmen,
denn ich wurde wegen der Besuche des nachmaligen Weihbischofs von Hildesheim,
Prälat Dr Adolf Kindermann,
von den Nazis überwacht. Christoph stand, während ich an der Maschine
saß, in seinem Ställchen und rasselte neben mir strahlend mit
einer alten Zeitung, einem seiner Lieblingsspielzeuge. |
In Essen konnte mir dann Gertraud einen Ausweis
verschaffen, mit dem ich als "wohnhaft" in der englischen Zone
offiziell nach Stuttgart
weiterfahren konnte, weiter nach Süden Richtung Österreich. In
Stuttgart erhielt ich schon durch Hertas Vermittlung, die ja in Tübingen
studierte, eine Identitätskarte von einer Mitstudentin Hertas, die
mir leicht ähnlich sah und als wohnhaft in der englischen Zone zum
Studium täglich nach Tübingen in die franz. Zone fuhr. Mit dieser
geborgten I-Karte bin ich dann ohne Anstand von Stuttgart nach Tübingen
gefahren. Aber wer in Tübingen nicht da war, das war Herta. Sie wollte
in Wien unbedingt beim großen "Schmidtprozeß", in
dem Papa als Zeuge geladen war, dabei sein. Den Freunden in Tübingen
hatte sie hinterlassen, wenn ich kommen sollte, möge ich auf sie warten,
denn "ohne sie" käme ich ja doch nicht über die Grenze
nach Österreich! Ich wartete lange, so lange, bis mir das Geld ausging.
So begab ich mich frech zur Kommandantur der Franzosen und verlangte als
Flüchtling aus der russischen Zone und als Altösterreicherin einen
Passierschein nach Österreich. Auf die Frage, wie ich denn überhaupt
in die franz. Zone gekommen sei, habe ich zum letztenmal geschwindelt, habe
ihm erklärt, ich hätte mich einfach in Stuttgart in den Zug gesetzt
und sei nach Tübingen gefahren. Kontrolle hätte es keine gegeben.
Ich konnte Hertas Bekannte doch nicht verraten. Der Beamte glaubte mir kein
Wort, verlangte meine letzten 2oo DM und ich hatte meinen Ersatzpaß
nach Österreich! In Bregenz
wußte ich Cousine Annie, die würde mir dann schon weiter- |
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helfen. Sie war am dortigen Mädchengymnasium
als Professorin tätig. Also am nächsten Tag auf nach Lindau,
zunächst wehmütiger Abschied von Deutschland und allen meinen
lieben Freunden, weiter nach Bregenz. Dort traf ich kurz die Annie, die
mich zunächst auf den Pfänder schickte, bis sie in der Schule
frei sei, dann würde sie mich holen. Also in die Gondel und hinauf
auf den Pfänder ... Dort kommt mir sogleich die Wirtin der Pfänderdohle
entgegen, ob ich die Frau Florer sei, wenn ja, dann werde ich am Telefon
verlangt. Trotz meiner Zweifel bin ich zum Telefon: Herta war dran und schon
unterwegs herauf zum Pfänder; von Wien kommend, hatte sie, so wie ich,
die Annie kontaktiert, ob sie etwas von mir wüßte. Die hat sie
dann gleichfalls auf den Pfänder geschickt, und dort haben wir uns
nach zwei langen Jahren zum erstenmal wieder gesehen. Für mich war
es ein Schock, Herta hatte sich ganz verändert; sie hat auch mit keinem
Wort nach Christophs Tod gefragt oder wie es mir auf der Reise ergangen
war durch die vier Zonen, n i c h t s ! |
Nach einigen Tagen in Bregenz mit Annie haben
wir uns wieder getrennt, Herta zurück nach Tübingen, ich nach
Wien, wieder mit erworbenen Passierscheinen über einen bekannten alten
Offizier von Papa, wieder durch 4 Besatzungszonen bis Wien, wo ich fassungslos
vor den Trümmern des Stephansdomes, der Oper und des geliebten Burgtheaters
in Tränen ausgebrochen bin. Es war tatsächlich der 1.April
1947. Wenige Tage später bin ich nach Graz zu Papa, endlich war
ich wieder daheim und geborgen. |
Ein ganz neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. |
Notabene, ich weiß heute nicht mehr, woher
ich das Geld für dieses abenteuerliche Unternehmen hatte, aber sicher
hat mir meine gute Schwiegermutter einiges an Reisegeld mitgegeben, und
die übrigen Freunde [haben] mir ausgeholfen. |
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Geschrieben in den Weihnachtstagen 2006 in Erinnerung
an das unvergeßliche, dramatische Jahr 1945 und im Gedenken an meinen
geliebten Mann Karl Florer, der seinen Sohn gar nicht mehr erlebt hatte. |
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