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Zitatensammlung
Teil 1
Zitat von Rudolf STEINER zum
VOLKSSEELENWIRKEN
1 Nun habe ich schon einige Jahre vor Ausbruch dieses Krieges versucht, durch den Zyklus über die einzelnen Volksseelen [GA 121] und ihre Wirkung auf die einzelnen Menschen in den verschiedenen europäischen Gebieten ein wenig Licht zu werfen darauf, wie sich die einzelnen Nationen gegenüberstehen, und daß da wirklich verschiedene Kräfte bei den verschiedenen Völkern herrschen. Heute wollen wir dasjenige, was dort gesagt ist, noch durch ein paar andere Gesichtspunkte ergänzen.
2 Unsere materialistische Zeit denkt allzu abstrakt. Vor allen Dingen wird so etwas in unserer materialistischen Zeit gar nicht berücksichtigt, daß es im Leben eine wirkliche Entwickelung gibt, daß der Mensch heranreifen lassen muß dasjenige, was in ihm ist, damit es eben nach und nach reif werde zum wirklichen Urteil. Der Mensch - das wissen wir ja und es ist genügend ausführlich dargestellt in «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» [in «GA 34»] - macht eine Entwickelung durch so, daß ungefähr in den ersten sieben Jahren sein physischer Leib, vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre der Ätherleib und so weiter ihre besondere Entwickelung finden. Wird schon dieser Fortschritt in der Entwickelung des einzelnen Menschen wenig berücksichtigt, so wird die parallele Erscheinung, die gleichbedeutende Erscheinung noch viel weniger berücksichtigt. Die Vorgänge, die sich innerhalb der einzelnen Volkszusammenhänge abspielen, werden ja gelenkt und geleitet - das wissen wir schon alle aus der Geisteswissenschaft - von Wesenheiten der höheren Hierarchien. Wir sprechen im wahren Sinne des Wortes von Volksseelen, von Volksgeistern. Und wir wissen, daß zum Beispiel der Volksgeist des italienischen Volkes inspiriert dasjenige, was wir Empfindungsseele nennen; daß der französische Volksgeist inspiriert dasjenige, was wir Verstandes- oder Gemütsseele nennen, daß die Bewohner der britischen Insel inspiriert werden durch die Bewußtseinsseele; in Mitteleuropa wird inspiriert dasjenige, was wir das menschliche Ich nennen. Damit wird nun aber kein Werturteil gefällt über die einzelnen Nationen, sondern es wird nur gesagt, daß das so ist. Daß zum Beispiel eine Inspiration des Volkes, das die britische Insel bewohnt, darin beruht, daß es als Nation alles das in die Welt hereinbringt, was durch Inspiration der Bewußtseinsseele von Seiten des Volksgeistes bewirkt wird. [...] Selbstverständlich, der einzelne Mensch erhebt sich über dasjenige, was ihm durch seine Volksseele wird, und das ist ja gerade die Aufgabe unserer anthroposophischen Gesellschaft, daß sie den einzelnen Menschen heraushebt aus der Gruppenseelenhaftigkeit, daß sie ihn zum allgemeinen Menschentum erhebt. Aber dabei bleibt doch bestehen, daß der einzelne Mensch, insofern er in einem Volkstum steht, von diesem Volkstum in der Richtung inspiriert wird, daß zum Beispiel der italienische Volksgeist zu der Empfindungsseele spricht, der französische Volksgeist zu der Verstandes- oder Gemütsseele, der britische Volksgeist zu der Bewußtseinsseele. Wir haben uns also vorzustellen, daß gleichsam über dem, was die einzelnen Menschen in den einzelnen Nationen beginnen, der Volksgeist schwebt. Aber wie wir sehen, daß beim Menschen schon eine Entwickelung vorhanden ist, wie man beim einzelnen Menschen sagen kann: Das Ich kommt in einer gewissen Weise zur Entwickelung, zu einer besonderen Entwickelung in einem bestimmten Zeitraum des Lebens, so kann man auch mit Bezug auf die Volksseele im Verhältnis zu ihrem Volk von einer Entwickelung sprechen, richtig von einer Entwickelung. Nur ist diese Entwickelung etwas anders als beim einzelnen Menschen.
3 Nehmen wir zum Beispiel herausgreifend das italienische Volk. Da haben wir also dieses Volk, und dann die zu diesem Volke gehörige Volksseele. Die Volksseele ist ein Wesen aus der übersinnlichen Welt, ist der Welt der höheren Hierarchien angehörig. Sie inspiriert die Empfindungsseele, und das geschieht nun immer, solange das Volk lebt, das italienische Volk - weil wir von diesem Volk sprechen -, aber sie inspiriert die Empfindungsseele in den verschiedenen Zeiten in der verschiedensten Weise. Es gibt Zeiten, in denen die Volksseelen die Angehörigen der einzelnen Nationen so inspirieren, daß diese Inspiration gleichsam seelisch geschieht. Da schwebt die Volksseele in höheren Regionen des Geistes, und ihre Inspiration geschieht so, daß sie nur in seelische Eigenschaften hinein inspiriert. Dann gibt es Zeiten, wo die Volksseelen weiter herunterschweben und stärker in Anspruch nehmen die einzelnen Angehörigen der Nationen, wo sie sie so stark inspirieren, daß nicht nur der Mensch sie in seine seelischen Eigenschaften hereinbekommt, sondern wo sie so stark wirken, daß bis in die körperlichen Eigenschaften hinein der Mensch von den Volksseelen abhängig wird. Solange ein Volk unter dem Einflüsse der Volksseele so steht, daß sie nur die seelisch-geistigen Eigenschaften inspiriert, ist noch der Typus des Volkes nicht so ausgeprägt. Da wirken die Kräfte der Volksseele nicht so, daß der ganze Mensch bis in das Blut hinein ergriffen wird. Dann kommt eine Zeit, wo man gleichsam schon in der Art, wie der Mensch aus den Augen schaut, aus den Zügen, die sein Gesicht trägt, entnehmen kann, wie der Volksgeist hineinwirkt. Das prägt sich aus, daß die Volksseele sich tief herabgesenkt hat; sie nimmt stark und intensiv den ganzen Menschen in Anspruch.
4 Beim italienischen Volke war es so, daß der Zeitpunkt, von dem ich gesprochen habe, wo der Volksgeist sich tief heruntersenkt, wo er so hineinwirkt, daß man in einzelnen Menschen den Abdruck finden kann, in der Mitte des 16. Jahrhunderts ungefähr war, so um 1550 herum. Dann wiederum schwebte die Volksseele gleichsam zurück, und von dieser Zeit an vollzieht sich das durch Vererbung auf die Nachkommen. Man kann also sagen: Das intensivste Zusammensein des italienischen Volkes mit seiner Volksseele war um 1550 herum. Da hat sich die italienische Volksseele am tiefsten heruntergesenkt, da hat dieses Volk der italienischen Halbinsel seinen präzisesten Charakter bekommen. Gehen wir zurück in die Zeit vor 1550, da sehen wir, daß die Charakterzüge durchaus nicht so ausgeprägt sind, daß einem das so stark entgegentreten könnte, wie von 1550 an. Da beginnt eigentlich erst das Charakteristische, was wir eben als Italienertum kennen. Da ist sozusagen die eigentliche Ehe erst geschlossen worden zwischen der italienischen Volksseele und der Empfindungsseele des einzelnen Menschen, der der italienischen Volkheit angehört.
5 Für das französische Volk - ich rede also nicht von dem einzelnen Menschen, der sich über das Volkstum erheben kann - trat der ähnliche Zeitpunkt, wo also der Volksgeist sich am tiefsten heruntersenkte und das Volk ganz durchdrang, ungefähr um 1600 ein, im Beginne des 17. Jahrhunderts. Da ergriff der Volksgeist ganz die Verstandes- oder Gemütsseele.
6 Für das britische Volk trat der Zeitpunkt ein in der Mitte des 17. Jahrhunderts, etwa um 1650 herum. Da bekam erst das britische Volk seinen äußerlichen britischen Ausdruck.
7 Wenn Sie solche Dinge wissen, dann wird Ihnen manches erklärlich sein, denn Sie können jetzt zum Beispiel in einer ganz andern Weise die Frage aufwerfen: Wie ist es mit Shakespeare in England? - Shakespeare hat in England gewirkt, bevor der britische Volksgeist am intensivsten gewirkt hat auf das englische Volk. Daher ist es, daß er nicht in England ordentlich verstanden wird. Bekanntlich gibt es dort Ausgaben, in denen alles ausgemerzt ist, was nicht ganz im Geschmack der Gouvernanten ist. Es ist Shakespeare sehr häufig im alleräußersten Sinne moralisiert. Und wir wissen ja, daß das tiefste Verständnis Shakespeares herbeigeführt worden ist nicht in England, sondern in der mitteleuropäischen Geistesentwickelung.
8 Nun werden Sie die Frage aufwerfen: Wann war denn diese Berührung des Volksgeistes mit den Angehörigen des mitteleuropäischen Volkes? - Da ist es allerdings so: Dadurch, daß in Mitteleuropa das Ich das maßgebende ist, daß wirklich eine Art Herabschweben des Volksgeistes stattfindet, dann ein Wiederzurückgehen, dann wieder ein Herunterschweben, wieder ein Zurückgehen, da finden Wiederholungen statt. Und so haben wir in der Zeit ungefähr, in der die wunderbare Sagenwelt des Parzival, des Gral entstanden ist, ein solches Heruntersteigen des Volksgeistes, ein Sich-Vereinigen mit den einzelnen Seelen, ein Wiederzurückgehen und ein nächstes Herunterschweben ungefähr zwischen den Jahren 1750 und 1830. Da wird am tiefsten ergriffen dasjenige, was in Mitteleuropa lebt, von dem, was mitteleuropäischer Volksgeist ist. Seither ist wiederum ein Zurückgehen des Volksgeistes. So sehen Sie, wie eigentlich es ganz begreiflich ist, daß, sagen wir, Jakob Böhme in einer Zeit gelebt hat, in der er gerade wenig vom deutschen Volksgeist haben konnte. Da war nicht die Zeit, in der der Volksgeist sich verband mit den einzelnen Seelen des Volkes. Jakob Böhme ist daher, obwohl er der «Teutonische Philosoph» genannt wird, ein Mensch, der zeitlich unabhängig ist von dem, was sein Volksgeist ist; der gleichsam wie eine entwurzelte Erscheinung dasteht, wie eine ewige Erscheinung innerhalb seiner Zeit. Wenn wir Lessing, Schiller, Goethe nehmen, das sind auch deutsche Philosophen, die wurzeln ganz im deutschen Volksgeiste. Und das ist gerade das Charakteristische, daß diese in der Zeit zwischen 1750 und 1830 lebenden Philosophen im Volksgeiste ganz darin wurzeln. So sehen Sie also, daß es nicht bloß darauf ankommt, daß man nur weiß: Beim italienischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Empfindungsseele, beim französischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Verstandesseele, beim britischen Volke wirkt der Volksgeist durch die Bewußtseinsseele, beim mitteleuropäischen Volke wirkt der Volksgeist durch das Ich, sondern daß man auch wissen muß, daß dieses in gewissen Zeitpunkten geschieht. Und die Ereignisse, die sich abspielen, werden geschichtlich nur erklärbar, wenn man solche Dinge wirklich weiß. Jener Unfug, der als Wissenschaft getrieben wird, wo man die Dokumente hernimmt und nacheinander die Ereignisse aufzählt und sagt, eines müsse man aus dem andern herleiten, dieser Unfug der Geschichtsforscher führt allerdings nicht zu einer wirklichen Geschichte, zu einem Verständnis des Menschwerdens, sondern eben nur, man kann sagen, zu einer Fälschung desjenigen, was in der Menschengeschichte waltet und wirkt.
9 Und wenn man nun sieht, wie in ganz verschiedener Weise auf die einzelnen Völkerschaften - es könnten ja noch andere charakterisiert werden - dasjenige wirkt, was als Kraft diese Völkerschaften treibt, dann sieht man die gegensätzlichen Dinge, die da sind. Und man sieht, daß das, was heute geschieht, wahrhaftig nicht erst in den letzten Jahren geschehen ist, sondern in den Jahrhunderten sich eben vorbereitet hat.
10 Schauen wir hinüber nach dem Osten, nach dem Gebiet, das die russische Kultur trägt. Das ganz Eigentümliche der russischen Kultur ist dieses, daß die russische Kultur erst dann zur Entfaltung kommen kann, wenn einmal der Zeitpunkt eintreten kann, wo die russische Volksseele sich verbindet mit dem Geistselbst - das ist auch schon ausgesprochen in dem genannten Zyklus. Das heißt, es muß ein späterer Zeitraum kommen, in dem dasjenige, was Charakteristik dieser Eigentümlichkeit des europäischen Ostens sein kann, sich erst ausprägen wird. Und das wird dann ganz verschieden sein von demjenigen, was im Westen von Europa oder in der Mitte von Europa sich abwickelt. Vorläufig aber ist es ganz erklärlich, daß dasjenige, was der russischen Kultur zugeteilt ist, überhaupt noch gar nicht da ist, sondern daß die russische Kultur - wie der einzelne Mensch - so zum Geistselbst steht, daß sie sich immer nach oben wendet. Der einzelne Angehörige des russischen Volkes und selbst tiefsinnige russische Philosophen sprechen nicht so, wie in Mitteleuropa das Größte gerade gesagt wird, sondern sie sprechen in ganz anderer Weise.
Wien, 9.Mai 1915 ☉ (aus «GA 159»; S.182ff)
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit115900182.htm