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Text zum Neudenken: |
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Die russische Sophia | ||
1 Sehr russisch ist Bulgakows [a] sophianische Aufwertung der Maria. Er verwirft die einseitige christologische Deutung der Sophia [b] in der byzantinischen Lehre und sieht in der Maria die hypostasierte [c] Maria im kreatürlichen Bereich. Damit wird der Maria als »Herz der Welt« und der »universalen Menschheit« eine kosmologische Würde verliehen, wie es dem tiefen russischen Empfinden entspricht. Aus diesem Grunde sind die russischen Sophienkirchen der Maria geweiht im Unterschied zu den byzantinischen, die Christus geweiht sind, wie die Hagia Sophia [d] im Konstantinopel (Istanbul). Maria, als Sophia, ist der »Grund der Welt« und zugleich »die Kraft ihrer Verklärung«. | ||
2 Bei diesen wenigen Anhaltspunkten oder Stichworten müssen wir es belassen. Sicher ist Bulgakows Forderung: »Das westliche Christentum hat die Pflicht, uns kennenzulernen«, berechtigt, aber gerade die spekulative Sophiologie ist nicht zu trennen von der russischen Volksfrömmigkeit und ihrer Ikonographie. Darin gründet sie, und davon nährt sie sich. Andererseits führt die theologische Spekulation in so abstrakte Gefilde, daß es schwer fällt, sie nachzuvollziehen. Die russischen Sophiologen haben eine herrliche Sophia entworfen und sie dabei so sehr vergeistigt, daß unser [e] Denken und Fühlen ihr kaum zu folgen vermag. | ||
3 Drei große Geschenke haben wir der russischen Sophiologie zu verdanken. Zum ersten hat sie die Schöpfung geheiligt, indem sie Sophia als vermittelnde Gestalt zwischen Gott und der Welt in den göttlichen Heilsplan stellt. Mit dieser Sophianität der Schöpfung wirkt sie einem verheerenden Versäumnis des westlichen Christentums entgegen. Die russische Sophia gibt der profanierten, versachlichten Welt ihre göttliche Würde zurück. Die Natur ist ihr Leib, den sie vor dem Chaos [f] bewahrt und zur Einigung mit dem Göttlichen führt. Dies ist ihr Auftrag und ihr innerstes Wesen. | ||
4 Zum zweiten hat die russische Sophiologie, wie wir besonders bei Bulgakow sehen, die im westlichen Christentum vergleichsweise blasse Jungfrau Maria aufgewertet. Sie ist auch bei den Russen nicht Göttin, aber ihre Nähe zu Sophia, der göttlichen Weisheit, bzw. ihre Identität mit ihr verleiht ihr eine Göttlichkeit, die nur durch spitzfindigste theologische Abgrenzungen von einer wahren Göttin zu unterscheiden ist. Sie ist die göttliche Weisheit, Barmherzigkeit und Liebe. Ihr Charisma ist kosmisch. Ohne sie hat weder die Erde noch die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Geist [g] Bestand. Diese sophianische Maria der russischen Intuition ist wahrlich größer als die reine Magd unserer Überlieferung. Vor allem evangelische Christinnen und Christen, die zur Maria kaum ein Verhältnis haben, werden für diesen Entwurf dankbar sein. | ||
5 Drittens bringt die russische Sophiologie uns die Ikone nahe als eine Quelle der Sophiaweisheit⁶°. Wo die Theologie sich in abstrakter Begrifflichkeit verliert, regt das von allem Zufälligen und jedem individuellen Künstlerwillen gereinigte Urbild der Ikone zu meditativer Betrachtung an. Die Sophia ist wahrhaft groß und göttlich in der berühmten Nowgoroder Ikone. Vielleicht geht uns bei der Versenkung in ihre Gestalt mehr auf als beim Durchdenken schwieriger philosophischer Positionen. In den Ikonen waltet eine Intuition, die tiefer reicht als der Diskurs, und sie können sich weiter vorwagen. Was ist die Ikone der Gottesmutter, »die das Getreide wachsen läßt«, anderes als die christliche Wiedergeburt der Mutter des Korns, der griechischen Demeter?[h] Die bildnerische Darstellung erfüllt das Symbol mit sinnlichem Leben, macht aus der Abstraktion etwas Konkretes, aus der Vorstellung eine Wirklichkeit. | ||
S.145f | ||
60 Siehe P. Florenskij, Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland (Urachhaus, Stuttgart 1988). Auszüge daraus in: Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens. [Ein Lesebuch. Hg. von Sieglinde und Fritz Mierau (Kontext Verlag, Berlin 1991), S. 100f.] | ||
S.232f | ||
Susanne Schaup | ||
aus «Sophia» | ||
a] Sergej Nikolajewitsch Bulgakow war Pope, Mystiker und Ökonom. | ||
b] siehe R.Steiner zum Begriff Sophia | ||
c] in irdische Erscheinung getretene | ||
d] dank Erdoğans Wahn dzt. wieder zu einer Moschee umgewidmet | ||
e] im vorliegenden Fall feministisch-theologisches | ||
f] siehe R.Steiner zu Chaos u. Kosmos | ||
g] vgl. E.Bock zu Maria u. Heiligem Geist | ||
h] vgl. J.Sijmons zur Zeitenwende in Eleusis | ||
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