![]() |
||
zur Übersicht | ||
Text zum Neudenken: |
||
Erinnerung und Imagination | ||
1 [...] Im gewöhnlichen physischen Bewußtsein hat der Mensch sein Erdenleben nur als Erinnerung in seiner Seele vorhanden. Was ist darum die Erinnerung?[a] Sie ist etwas, das in Bildern besteht, in Bildern, die allerdings durch ihre eigene innere Wesenheit hinweisen auf die Erlebnisse, die der Mensch seit seiner Geburt oder seit einem Zeitpunkte, der etwas darnach liegt, durchgemacht hat. Aber es sind doch Bilder, von denen aus den Erkenntnissen des gewöhnlichen Menschenlebens, so wie es heute der Mensch auf Erden hat, nicht gesagt werden kann, daß sie unabhängig vom Leibe ein Dasein zu entfalten imstande sind. Die heutige physische Wissenschaft hat ja durchaus recht, wenn sie den Menschen hinweist darauf, wie diese Erinnerungsbilder abhängig sind von der Konstitution des physischen Leibes. Sie hat recht, wenn sie darauf hinweist, wie diese Erinnerung in den allerersten Lebensjahren für den Menschen noch nicht vorhanden ist, wie sie sich heranentwickelt mit dem physischen Organismus, wie sie auch wieder heruntersinkt, wenn der physische Organismus des Menschen selbst seiner Abendröte entgegengeht. Und sie kann auch aus gewissen Krankheitserscheinungen, aus Untersuchungen des physischen Organismus bei erkrankten Menschen nach dem Tode konstatieren, wie der Ausfall des Gedächtnisses bedingt ist durch gewisse physische Organisationsglieder. Gewiß, die Wissenschaft ist in solchen Dingen heute nicht zu einem Abschluß gekommen; aber derjenige, der in den Geist der betreffenden physisch-wissenschaftlichen Ergebnisse eindringt, kann schon durchschauen, wie einmal doch der Zeitpunkt kommen wird, wo für die gewöhnlichen Erinnerungsbilder wird aufgezeigt werden können, wie sie gebunden sind an den physischen Menschenorganismus. Aber das, was wir so in Rückblick auf unser Leben, gewissermaßen aus dem Strome dieses Erlebens, den wir rückwärts anschauen, wie als einzelne Erinnerungsbilder heraufwogend haben, das ist nicht gemeint, wenn gesagt wird, daß imaginative Erkenntnis [b] das Erdenleben des Menschen, insofern es ein geistig-seelisches ist, in einem großen Tableau vor sich hat. Dasjenige, was man da in der imaginativen Erkenntnis überschaut, sind wahrlich nicht solche abstrakte Erinnerungsbilder, wie sie das gewöhnliche Gedächtnis bewahrt. Es stellt sich vielmehr vor die imaginative Erkenntnis ein in sich tätiges, organisches Erleben, das nicht bloß jene Passivität hat, wie die Erinnerungsbilder, sondern das eine innerliche Kraft hat, wie die Wachstumskräfte, die in unserem Organismus tätig sind, wenn wir die Stoffe der Außenwelt, die wir zu unserer Nahrung aufnehmen, auf eine - nun, man darf schon sagen - wunderbare Weise in dasjenige verwandeln, was wir brauchen, damit es unseren Organismus konstituiere. Was da schaffend, schöpfend in uns lebt und webt, das ist etwas anderes als dasjenige, was auf eine mehr passive Weise bloß in unseren Erinnerungsbildern ist. Schauen Sie hin auf die Gedanken. Sie durchhellen unser Bewußtsein; gewiß, wir verdanken dem Gedankenleben innerhalb unseres Erdendaseins Unendliches. Wir werden durch es eigentlich erst zu Menschen und werden uns durch diese Gedankenbilder unserer Menschenwürde erst voll bewußt. Aber es sind eben doch flüchtige Bilder, gebunden an den physischen Menschenorganismus, wie die Flamme an den Brennstoff der Kerze. Das, was der imaginative Erkenner überschaut als das geistig-seelische Leben, das zugrunde liegt dem physischen Erdendasein, dasjenige, was er überschaut als ein wunderbares großes Tableau, das ist nichts Passives, das ist ein innerlich Lebendiges, das ist ein solches, das uns zwar geistig-seelisch entgegentritt, von dem wir aber durch unmittelbare seelische Anschauung ebenso wissen, wie es ist, wie wir durch das Auge wissen, was ein rot gefärbter äußerer Gegenstand ist. Und wir können sagen in der imaginativen Erkenntnis, daß wir nicht nur Gedanken haben, die aufblitzen in unserem Bewußtsein, sondern daß wir uns geradezu bewußt werden solcher Kräfte, die an unserem Organismus arbeiten. | ||
2 [...] Alle Tätigkeit selbst des genialsten Bildhauers ist ein Geringfügiges gegen das, was aus dem innerlich Geistig-Seelischen kraftvoll in plastischer Tätigkeit durch das Kind ausgeführt wird, indem es sein Gehirn plastisch ausbildet. Wer dieses bedenkt und durchschaut, bekommt erst eine richtige Anschauung von der hier waltenden, geheimnisvollen Weisheit,[c] von einer Weisheit, die eine kraftvolle ist, nicht nur eine solche, die in einem Menschenkopfe bewahrt wird, um sich über die Welt aufzuklären, sondern von einer Weisheit, die in sich einen Kräfteorganismus geistig-seelischer Art enthält, der gewissermaßen stündlich weiter die äußere Organisation des Kindes durchdringt und es erst zum vollen Menschen macht. Versuchen Sie nur einmal, im Geiste sich ein flüchtiges Bild von dem zu machen, was da arbeitet weisheitsvoll und großartig so, daß der Mensch eben durchaus nicht mit seinem Verstande und seiner intellektualistischen Weisheit nachkommen kann, was da arbeitet in dem Kinde, was lange Jahre arbeiten muß aus dem Unbewußten heraus, zum Beispiel noch den Wunderbau der menschlichen Sprache dem Menschen eingliedert, versuchen Sie einmal sich ein Bild zu machen - allerdings wird es nur ein abstraktes Bild werden - von diesem weisheitsvollen Wirken bis herauf zu dem Zeitpunkte, wo der Mensch sich soweit bewußt wird, daß er sich seines Verstandes bedienen kann. Dann, möchte ich sagen, schafft dieser Verstand eine ephemere Weisheit nach jener Weisheit, die den Menschen zuerst aus innersten Weltenkräften heraus gebildet hat. Aber wir müssen uns auch klar sein, daß, wenn wir, ich möchte sagen, in der Oberschicht unseres Wesens den menschlichen intellektuellen Verstand ausbilden, in den Unterschichten unserer menschlichen Wesenheit fortwaltet dasjenige, was in der Kindheit weisheitsvoll als ein wundervoller Plastiker unseren Organismus ausgestaltet. Dasjenige, was da so zugrunde liegt als ein System, als ein Organismus von Kräften, das überschaut in einem einheitlichen Tableau die imaginative Erkenntnis. Diese imaginative Erkenntnis also hat nicht vor sich abstrakte Erinnerungsbilder, von denen man nicht sagen kann, ob sie sich erhalten, wenn der Organismus in seine Elemente zerfällt, weil sie an diesen Organismus gebunden sind, sondern diese imaginative Erkenntnis hat dasjenige System von Kräften vor sich, das diesen Organismus aufbaut, also nicht an ihn gebunden ist, das so wenig wie die schaffende geniale Kraft des Bildhauers etwa gebunden ist an den Stoff. Damit der Stoff werden kann, was er wird, muß erst die bildende Kraft des Bildhauers darüber kommen. Damit der Mensch werden könne als physischer Organismus, was er ist im Erdendasein, müssen diese durchaus außerphysischen, übersinnlichen Kräfte als eine hinter dem physischen Dasein des Menschen waltende geistig-seelische Organisation zugrunde liegen. | ||
Rudolf Steiner | ||
Stuttgart am 14.X.1922 ♄ (aus «GA 218»; S.30ff) | ||
Unsere Anmerkungen | ||
a] siehe R.Steiner zu Erinnerung u. Gebärde | ||
b] vgl. Mbl-B.33a | ||
c] vgl. R.Steiner zur Weisheit | ||
nach oben oder zur Übersicht | ||
red.16.VI.2024 - WfGW, 1090 Wien / AT | ||
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202406.htm |