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Neudenken:
Wirklichkeit des Guten
1 Es gibt eine Wirklichkeit, die außer der Welt liegt, das heißt, außer Raum und Zeit, außerhalb der geistigen Welt des Menschen, außerhalb jeden Bereichs, der den menschlichen Fähigkeiten zugänglich ist.
2 Dieser Wirklichkeit entspricht im innersten Herzen des Menschen jene Forderung nach einem absoluten Guten,[a] die dort immer wohnt und in dieser Welt niemals ein Ziel findet.
3 Sie wird auch hienieden offenbar durch die Absurditäten, die unlösbaren Widersprüche, auf die das menschliche Denken immer dann stößt, wenn es sich nur in dieser Welt bewegt.
4 Ebenso wie die Wirklichkeit dieser hiesigen Welt die einzige Grundlage der Fakten ist,[b] ebenso ist die andere Wirklichkeit die einzige Grundlage des Guten.
5 Von ihr allein steigt in diese Welt jedes Gute herab, das dort existieren kann, jede Schönheit, jede Wahrheit, jede Gerechtigkeit, jede Legitimität, jede Ordnung, jede Unterordnung des menschlichen Verhaltens unter Verpflichtungen.
6 Die einzige Vermittlung, durch die das Gute von dorther zu den Menschen herabsteigen kann, sind unter den Menschen jene, deren Aufmerksamkeit und Liebe auf diese Wirklichkeit außer der Welt gerichtet sind.
7 Obgleich diese Wirklichkeit von keiner Fähigkeit des Menschen erreicht wird, hat der Mensch die Macht, ihr seine Aufmerksamkeit und seine Liebe zuzuwenden.
8 Nichts berechtigt jemals zu der Annahme, daß diese Macht einem Menschen, wer immer er sei, entzogen sein könnte.
9 Diese Macht ist hienieden nur insoweit etwas Wirkliches, als sie ausgeübt wird. Die einzige Vorbedingung zu ihrer Ausübung ist die Einwilligung.
10 Diese Einwilligung kann ausgedrückt werden. Oder auch nicht, nicht einmal innerlich; sie kann dem Bewußten nicht deutlich werden, und dennoch in der Seele wirklich stattgefunden haben. Oft findet sie in Wirklichkeit nicht statt, obwohl Worte sie kundtun. Ausgedrückt oder nicht, die einzige hinreichende Bedingung ist, daß sie tatsächlich stattfindet.
11 Wer immer tatsächlich einwilligt, seine Aufmerksamkeit und seine Liebe über die Welt hinaus auf die alle menschlichen Fähigkeiten übersteigende Wirklichkeit zu richten, dem wird auch das Gelingen zuteil. Früher oder später steigt dann Gutes auf ihn herab, das durch ihn hindurch auf seine Umgebung ausstrahlt.
12 Die Forderung nach dem absoluten Guten, die im innersten Herzen wohnt, und die, wenn auch virtuelle, Macht, Aufmerksamkeit und Liebe über die Welt hinaus zu richten und von dorther Gutes zu empfangen, bilden zusammen ein Band, das ausnahmslos jeden Menschen mit der anderen Wirklichkeit verknüpft.
13 Wer immer diese andere Wirklichkeit anerkennt, anerkennt auch dieses Band. Um seinetwillen gilt ihm jedes menschliche Wesen ohne eine einzige Ausnahme als etwas Heiliges, vor dem er zur Ehrfurcht verpflichtet ist.[c]
14 Es gibt nichts anderes, das uns zu einer allgemeinen Ehrfurcht vor allen menschlichen Wesen veranlassen könnte. Welche Formel des Glaubens oder Unglaubens ein Mensch auch gewählt haben mag, der, dessen Herz bereit ist, diese Ehrfurcht zu bekunden, anerkennt tatsächlich eine andere Wirklichkeit als die dieser Welt. Der, dem diese Ehrfurcht tatsächlich fremd ist, dem ist auch die andere Wirklichkeit fremd.
Simone Weil
aus «Zeugnis für das Gute»; S.74f
Unsere Anmerkungen
a] vgl. „Du willst
b] vgl. »TzN Jän.2004«: Anm.b
c] Eher „das ihm Ehrfurcht einflösst” (vgl. R.Steiner zur Verehrung), denn wodurch soll es eine Verpflichtung zur Ehrfurcht geben?
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202006.htm