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Neudenken:
Negative Theologie
87 Die heilige Unwissenheit [sacra ignorantia] hat uns die Unaussprechlichkeit [ineffabilitas] Gottes gelehrt,[a] und zwar wegen seiner unendlichen Erhabenheit über alles, was sich benennen läßt. Weil dies unbedingt wahr ist, sprechen wir richtiger von ihm, wenn wir alles Geschöpfliche abstreifen und verneinen. Der große Dynonisius [b] wollte ihn darum weder Wahrheit [veritas] noch Vernunft noch Licht noch irgendetwas von dem genannt wissen, was man aussprechen kann. Seinem Beispiel folgten Rabbi Salomon und alle Weisen.[c] Gemäß dieser negativen Theologie [negativa theologia] ist er deshalb weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist. Er ist nur der [d] Unendliche. Die Unendlichkeit [infinitas] als solche aber ist weder Zeugen noch Gezeugt werden noch Hervorgehen. Hilarius von Poitiers [e] hat darum bei der Unterscheidung [distinctio] der Personen die scharfsinnige Wendung gebraucht: „Im Ewigen Unendlichkeit, Idee im Bild, Ausübung in der Gabe”. Er wollte damit sagen, daß wir zwar in der Ewigkeit [aeternitas] nur die Unendlichkeit zu sehen vermögen, die Unendlichkeit aber, die Ewigkeit ist, trotzdem wegen ihrer Negativität nicht als erzeugend aufgefaßt werden kann, wohl aber die Ewigkeit, da die Ewigkeit die affirmative Bezeichnung für die Einheit [unitas], d. h. die reine Gegenwart [praesentia maxima] ist. Sie ist deshalb Ursprung ohne Ursprung [principium sine principio]. ,Idee im Bild' bedeutet Prinzip vom Prinzip, ,Ausübung in der Gabe' bedeutet Hervorgang aus beiden.
88 Das alles ist durch die früher angestellten Überlegungen deutlich geworden. Obschon nämlich die Ewigkeit Unendlichkeit ist, so daß die Ewigkeit nicht in größerem Maße Sache des Vaters ist als die Unendlichkeit, so wird doch in der Art der Betrachtung die Ewigkeit dem Vater zugeschrieben und nicht dem Sohn oder dem Heiligen Geist, die Unendlichkeit jedoch nicht einer Person mehr als der anderen. Betrachtet man nämlich die Einheit, so ist die Unendlichkeit Vater; betrachtet man die Gleichheit [aequalitas] der Einheit, so ist sie Sohn; betrachtet man die Verbindung [conexio], so ist sie Heiliger Geist. Betrachtet man die Unendlichkeit schlechthin, so ist sie weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist. Dabei ist freilich die Unendlichkeit und ebenso die Ewigkeit irgendeine der drei Personen und umgekehrt jede Person Unendlichkeit und Ewigkeit. Für die Betrachtung jedoch gilt das, wie gesagt, nicht. Denn unter dem Gesichtspunkt der Unendlichkeit ist Gott weder Eines noch vieles. Vom Standpunkt der negativen Theologie findet sich in Gott nichts als Unendlichkeit. Ihr zufolge ist er darum weder in dieser noch in der künftigen Welt erkennbar, da jedes Geschöpf, welches das unendliche Licht nicht zu erfassen vermag, ihm gegenüber Finsternis ist. Er ist vielmehr nur sich selbst bekannt.
89 Daraus erhellt, daß in theologischen Aussagen Verneinungen [negationes] wahr und positive Aussagen [affirmationes] unzureichend sind. Ebenso sind die negativen Aussagen umso wahrer, je mehr sie Unvollkommenheiten vom schlechthin Vollkommenen abwehren, so wie es wahrer ist, daß Gott nicht Stein ist, als daß er nicht Leben oder Vernunft ist, und wahrer, daß er nicht Trunkenheit, als daß er nicht Tugend ist. Bei den bejahenden Aussagen gilt das Umgekehrte, denn die Aussage, die Gott Vernunft und Leben nennt, ist wahrer als die, welche ihn als Erde, Stein oder Körper bezeichnet.
Das alles ist auf Grund der früheren Überlegungen klar. Wir ziehen daraus den Schluß, daß die genaue Wahrheit im Dunkel [tenebrae] unserer Unwissenheit in der Weise des Nichterfassens aufleuchtet. Das ist die belehrte Unwissenheit [docta ignorantia], die wir gesucht haben. Durch sie allein vermögen wir, wie gezeigt, dem größten dreieinigen Gott in seiner unendlichen Güte [bonitas] je nach dem Rang der Wissenschaft [doctrina] von der Unwissenheit nahe zu kommen, um ihn aus all unserer Kraft immerdar dafür zu preisen, daß er uns sich selbst als unfaßbar gezeigt hat.
Nicolaus Cusanus
in «De docta ignorantia», lib.I, cap.XXVI
aus «Philosophisch-theologische Werke Band 1», Buch I; S.111f
Unsere Anmerkungen
a] als reines Wollen, das nichts will (vgl. „Du willst”)
b] siehe Dionysios Areopagites
c] besonders rigoros Mohammed
d] eigentlich das Unendliche (infinitum statt patriarchal infinitus)
e] Hilarius, ein Kirchenlehrer des IIII.Jahrhunderts
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn202001.htm