zum IMPRESSUM
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zum
Neudenken:
Anschauende Urteilskraft
1a Als ich die Kantische Lehre [a] wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wollte mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben, wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den Gegenständen anzuheften trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft,[b] untersagt ihm eine bestimmende ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:
1b ,Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen geht, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen. - Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres diskursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (intellectus ectypus), und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit, auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden, diese auch keinen Widerspruch enthalte.'
1c Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur, zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche [c], Typische rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu bestehen.
Johann Wolfgang v.Goethe
aus «Werke - Sechster Band»; S.433f
 
2 Das ist aber beim Typus wirklich der Fall.[d] Daher kann er kein Mittel des Beweises liefern, sondern bloß die Möglichkeit an die Hand geben, jede besondere Form aus sich zu entwickeln. Unser Geist muß demnach in dem Erfassen des Typus viel intensiver wirken als beim Erfassen des Naturgesetzes. Er muß mit der Form den Inhalt erzeugen. Er muß eine Tätigkeit auf sich nehmen, die in der unorganischen Naturwissenschaft die Sinne besorgen und die wir Anschauung nennen. Auf dieser höheren Stufe muß also der Geist selbst anschauend sein. Unsere Urteilskraft muß denkend anschauen und anschauend denken. Wir haben es hier, wie Goethe zum erstenmal auseinandergesetzt, mit einer anschauenden Urteilskraft zu tun. Goethe hat hiermit im menschlichen Geiste das als notwendige Auffassungsform nachgewiesen, wovon Kant bewiesen haben wollte, daß es dem Menschen seiner ganzen Anlage nach nicht zukomme.
 
Rudolf Steiner
aus «Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...»; S.110
Unsere Anmerkungen
a] Immanuel Kant verfasste nicht nur seine berühmte «Kritik der reinen Vernunft», sondern auch eine «Kritik der praktischen Vernunft» und eine «Kritik der Urteilskraft».
b] also ein betrachtendes, von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitendes Beurteilungsvermögen
c] vgl. »TzN Feb.2007«
d] dass man nämlich von einem bestimmten Gedanken beweislos wissen kann, nur durch die unmittelbare Überzeugung (Evidenz)
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn201711.htm