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Nachdenken:
Gewalt und Gerede
[...] In solchen Zeiten [a] verdunkelt sich der Bereich der menschlichen Angelegenheiten; er verliert die strahlende, ruhmstiftende Helle [b], die nur dem öffentlichen, das sich im Miteinander der Menschen konstituiert, eignet, und die unerläßlich ist, soll Handeln und Sprechen sich voll entfalten, d.h. über das Gehandelte und Gesprochene hinaus die Handelnden und Sprechenden mit in Erscheinung treten lassen. In diesem Zwielicht, in dem niemand mehr weiß, wer einer ist,[c] fühlen Menschen sich fremd, nicht nur in der Welt, sondern auch untereinander; und in der Stimmung der Fremdheit und Verlassenheit gewinnen die Gestalten der Fremdlinge unter den Menschen, die Heiligen und die Verbrecher, ihre Chance.
Ohne diese Eigenschaft, über das Wer der Person mit Aufschluß zu geben, wird das Handeln zu einer Art Leistung [d] wie andere gegenstandsgebundene Leistungen auch. Es kann dann in der Tat einfach Mittel zum Zweck werden, so wie Herstellen ein Mittel ist, einen Gegenstand hervorzubringen. Dies tritt immer dann ein, wenn das eigentliche Miteinander zerstört ist oder auch zeitweilig zurücktritt und Menschen nur für- oder gegeneinander stehen und agieren, wie etwa im Kriegsfall [e], wenn Handeln nur besagt, bestimmte Gewaltmittel bereitzustellen und zur Anwendung zu bringen, um gewisse, vorgefaßte Ziele für sich selbst und gegen den Feind zu erreichen. In solchen Fällen, von denen die Geschichte der Menschheit so viel zu erzählen weiß, daß man sie lange Zeit für die eigentliche Substanz des Geschichtlichen überhaupt hielt, ist Sprechen in der Tat „bloßes Gerede”, nämlich ein Mittel unter anderen für die Erreichung des Zweckes, ob dies Mittel nun dazu dient, dem Feind Sand in die Augen zu streuen, oder dazu, sich selbst an der eigenen Propaganda zu berauschen. Das Reden ist hier bloßes Gerede, weil es überhaupt über nichts mehr Aufschluß gibt, also dem eigentlichen Sinn des Sprechens geradezu zuwiderläuft; aber auch das eigentliche Handeln mit Waffengewalt, bei der ja dann die Entscheidung liegt, vollzieht sich so, daß die einmalige Identität der Handelnden selbst in ihm keine Rolle mehr spielt; der Sieg oder die Niederlage sind, jedenfalls im modernen Krieg, Leistungen [f] positiver oder negativer Art, und sie sagen über Sieger und Besiegte nicht mehr aus, als andere Leistungen auch.
Hannah Arendt
aus «Vita activa»
Zusatz 1: Vater Krieg
Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen; die einen läßt er Sklaven werden, die anderen Freie.[g]
Heraklit
Frag. B53
Zusatz 2: Wohin Ideenarmut führt
Man reicht aus, ohne daß man Ideen [h] hat, in Zeiten von Revolutionen und Kriegen, man kann aber nicht ausreichen ohne Ideen in Zeiten des Friedens; denn werden die Ideen in Zeiten des Friedens rar, dann müssen Zeiten von Revolutionen und von Kriegen kommen.
Rudolf Steiner
am 24.XI.1918 (aus «GA 185a»)
Unsere Anmerkungen
a] Zeiten der politischen Korruption, des Verfalls und des Untergangs - Diese Zeilen wurden 1958 in Chicago veröffentlicht.
b] vom Heldenepos bis zur Publicity bzw. von Homer bis CNN
c] Im diffusen (unbewussten) Licht wird der Mensch unkenntlich. Statt seiner treten als Personen missdeutete Popanze (Spukgestalten) auf; oder es werden solche erzeugt.
d] auch Dienstleistung
e] Ob ein Krieg wirklich nur „die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln” (C.v.Clausewitz 1834) ist, wird immer wieder neu zu hinterfragen sein, gerade dann, wenn solches Fragen hemmungslos als Kapitulation oder Verschwörungstheorie diffamiert wird. Was sind denn völkerrechtswidrige Angriffskriege anderes als Kriegsverbrechen, auch wenn man meint, dass Angriff die beste Verteidigung sei?
f] vgl Anm.c - Folgerichtig wurde und wird auch immer wieder versucht, den Kriegsdienst zu privatisieren (zB. Söldnerheere, käufliche Heerführer, neuerdings Leasing von Kriegsgerät mit Bedienungspersonal). Ob das geplante und heftig umstrittene GATS (General Agreement on Trade and Services) derlei berücksichtigt?
g] Dieses vermutlich um 500v in Ephesos geäusserte Gedankenfragment mag aus Lebensbedingungen der Frühantike verstanden werden. Bis heute jedoch inspiriert es gewisse Menschen, ihr Heil in der bewaffneten Auseinandersetzung zu suchen - vgl. José ORTEGA y GASSET zur Gewalt.
h] Ideen erhält der Mensch (als Geistwesen) aus der Sphäre der Urbilder oder Formen. Ohne Verbindung zu dieser Sphäre trocknet ein Ideenbecken (think tank) rasch aus; eine unbewusste Verbindung hingegen kann diesen mit widermenschlichen Ideen füllen.
https://wfgw.diemorgengab.at/tzn200303.htm