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Im Spannungsfeld:
Die neue Ethik

 

Einleuchtend ist, dass die geforderten Experimente am Menschen in Widerspruch geraten mussten mit "antiquierten" Vorstellungen über ihn. Die Akzeptanz der Gentechnik hing also von der Überwindung solcher Vorstellungen ab. Deshalb wurde eine neue Ethik geschaffen, welche die Gentechnik berücksichtigt. Verführerisch wird sie Bioethik getauft. Will sie der selbstgestellten Aufgabe gerecht werden, muss sie ein neues Menschenbild schaffen. Bevor wir auf es eingehen, noch eine Bemerkung: Als James Watson [a] 1988 die Leitung des "Office of Genome Research" übernahm, entschied er, einen Teil der Gelder der Genom-Forschung für die Bioethik einzusetzen. Das "war ebenso einmalig wie die Tatsache, dass Bioethik zum festen Bestandteil eines biologischen Forschungsprogramms gemacht wurde."(1) Ein interessantes Symptom ist die fulminante finanzielle Unterstützung für Versuche der Bioethik durch dieselben Quellen, mit denen einst auch die Atomforschung unterstützt wurde. Diese Institutionen hatten wohl den Eindruck, dass sie mit solchen Projekten den Fortschritt, so wie sie ihn begriffen, am meisten fördern könnten. Die neue Bioethik will die alte Ethik, welche für die Akzeptanz der Forschungsergebnisse unzeitgemäß geworden ist, aus dem Feld schlagen.

Obwohl doch Lederberg [b] den Menschen als ein Tier mit sozialem Instinkt charakterisiert hat, deklariert ihn die Bioethik als Person [c]. Aber wie sieht diese Person aus? Ihre Grundvoraussetzung ist, dass alle ihre Eigenschaften, äußere wie innere, in den Genen lokalisiert sind. Die Individualität entspricht demnach einer komplizierten Chemie. Wie ein Erdteil soll das menschliche Genom gewissermaßen "kartografiert" werden. Der Gedanke, dass die Individualität, ihren Intentionen gemäß, sich eine spezielle Leiblichkeit schafft, also auch ein bestimmtes Genom, [d] wird umgekehrt. Das Genom bestimmt die Individualität. Damit der Begriff der Person für die Bioethik geklärt werden kann, wird alle Aufmerksamkeit auf jenen Punkt gerichtet, wo die Person ein erstes Bewusstsein von sich selbst erreicht. Damit sieht die Bioethik sich selbst in der großen philosophischen Tradition des Abendlandes. Und es klingt vertraut, wenn es heißt: "Menschliches Leben ist daher nicht biologisch, sondern im Lichte dieses Personenseins zu verstehen und zu bewerten."(2) Die Frage taucht auf: "Wo beginnt das eigentliche Menschliche, und wo hat deshalb der Schutz des Menschen vor den Interessen der Wissenschaft oder der Ökonomie eine ethische Grenze zu ziehen?"(3) Sie bedarf für praktische Entscheidungen einer Antwort.

Einer der prägnantesten Vetreter der Bioethik ist Peter Singer. In seinem Buch «Praktische Ethik»(4) trennt er den Menschen in ein Gattungswesen und die Person, um den Begriff des Menschlichen genauer zu definieren. Ausgehend von der Frage ‚Weshalb ist Töten verwerflich?' kommt er über diese Trennung des einheitlichen Menschen zu dem Schluss: "Die biologischen Fakten, an die unsere Gattung gebunden ist, haben keine moralische Bedeutung."

Durch diesen "Kunstgriff" will er plausibel machen, dass der Mensch als Gattungswesen nichts anderes ist als eine Pflanze oder ein Tier. Lässt man sich auf diese Zweiteilung gedanklich ein, hat das überraschende Folgen. Die rein biologische Seite des Menschen erscheint in dieser Sicht gegenüber Pflanze und Tier keineswegs bevorzugt. Rhetorisch brillant heißt es: "Einem Leben nur deshalb den Vorzug zu geben, weil das Lebewesen unserer Gattung angehört, würde uns in die Position bringen wie die Rassisten, die denen den Vorzug geben, die zu ihrer Rasse gehören." Also ist derjenige, der daran festhält, dass nur der ungeteilte Mensch eine Wirklichkeit widerspiegelt, ein Rassist! Und ebenso der, welcher von einem Naturrecht spricht, das mit der Geburt eines Menschen entsteht! Solche Auffassungen werden als ein Relikt mittelalterlicher Theologie diffamiert.

Im Gegensatz zum Gattungswesen wird die Person an einigen Kriterien festgemacht: "Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangenheit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüpfen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier." "Nimmt man einem dieser Menschen ohne seine Zustimmung das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft. Tötet man eine Schnecke oder ein einen Tag altes Kind, so durchkreuzt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben." Damit haben sie nach Singer kein Recht auf Leben. Ihre Tötung widerspricht keiner Moral. Beispielsweise ist die prä- oder postnatale Beinflussung des Gehirns eines Embryos deshalb moralisch unbedenklich wie überhaupt jede gentechnische Manipulation, weil man es bei dem Objekt ja nur mit einem Gattungswesen und keineswegs schon mit einer Person zu tun hat.

Dieses Raster, welches die Person bestimmen soll, ist primitiv. Es lässt außer Betracht, wie z.B. das Selbstbewusstsein zustande kommt, Selbstbestimmung möglich wird oder wie es zu erklären ist, dass das Selbstbewusstsein im Schlaf periodenweise schwindet usw. Schon gar nicht wird der Zusammenhang des Wesens, das solche Kriterien noch nicht besitzt, mit jenem, das letztendlich über sie verfügt, geklärt. Die als hypothetisch erklärte Trennung zwischen Gattungswesen und Person wird festgeschrieben, ohne dass ein Versuch unternommen worden wäre, das Verhältnis beider zueinander wirklichkeitsgemäß zu erfassen. Eine Weltsicht, die in Anspruch nimmt, die Entwicklung des Menschen zu höheren Stufen seines Daseins zu befördern, hat keinen Sinn für dessen Entwicklung. Anschaubar wird das, wenn die Bioethik Peter Singers den Sinn des Lebens zu bestimmen sucht. Da heißt es: "Achten wir unsere eigenen Lustgefühle als einen Wert - beim Essen, beim Sex, beim schnellen Laufen oder beim Schwimmen an einem heißen Tag -, dann verlangt der universale Aspekt des moralischen Urteils von uns, die positive Bewertung unserer eigenen Empfindungen auf ähnliche Empfindungen all derer auszudehnen, die solche haben können ... Es läuft darauf hinaus, dass wir ein lustvolles Leben nicht verkürzen sollten." Der "universale Aspekt des moralischen Urteils" sieht also in der Lustempfindung ein zentrales Kriterium personalen Seins.[e]

Interessant ist, wie mit dieser willkürlichen Begriffsbildung umgegangen wird. Bei Behinderten ist demnach das personale Dasein eingeschränkt oder aufgehoben. "Sie zu töten kann daher nicht gleichgesetzt werden mit dem Töten normaler [f] menschlicher Wesen." Wie steht es um die Säuglinge? "Kein Säugling - mag er nun missgebildet sein oder nicht - hat in dem gleichen Maße den Anspruch auf das Leben wie Wesen, die fähig sind, sich selbst als distinktive Entitäten [g] zu sehen, die in der Zeit existieren." Aus dem willkürlich gesetzten Personenbegriff Singers ist also auch die Tötung eines normalen Säuglings "unter dem universalen Aspekt des moralischen Urteils" kein Problem, hat ein Säugling doch noch nicht das personale Menschsein erreicht, das die Tötung als amoralisch erscheinen lässt. Dass ein gesunder Säugling notwendig ist, damit später ein individuelles Ich tätig werden kann, bleibt unberücksichtigt. Die vollzogene Trennung von Gattung und Person zerstört diese Sichtweise, und sie öffnet unter anderem für die Manipulation von Föten Tür und Tor.

Die Bioethik ist mit dem Ziel angetreten, neue Denk- und Verhaltensmuster zu schaffen, die endlich der naturwissenschaftlichen Denkweise entsprechen. Sie sollen jene ablösen, die aus einer überholten Weltanschauung stammen. Das Leben soll durchrationalisiert werden, beispielsweise mit der Behauptung, dass jedes "eingeschränkte" Leben einem optimalen den Lebensraum stiehlt. "Sofern der Tod des geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird." Die neue rationelle Moral verspricht mehr Glückseligkeit auf dieser Welt, wenn sie nur endlich in Kraft tritt. Die willkürliche und durchrationalisiert reduktionistische [h] Methode dieser "Ethik" wird verdeckt durch die "Vision" erhöhter Glückseligkeit auf Erden. Die besondere Sympathie, welche diese neue Ethik begleitet, kommt von einer naturwissenschaftlichen Elite. An der übrigen Bevölkerung (mit Ausnahme der Eltern behinderter Kinder) geht diese besondere Ethik vorbei. Ob der Ungeheuerlichkeiten geht kein Aufschrei durch die Gesellschaft.[i]

Erhard Fucke

1) D.J.Kerles: Die Geschichte der Genetik und Eugenik, zitiert nach Jens Heisterkamp, Der biotechnische Mensch. Genetische Utopien und ihre Rechtfertigung durch "Bioethik", Frankfurt a.Main 1994, S.33
2) H.-M.Sass: Hirntod und Hirnleben in Medizin und Ethik, Stuttgart 1989, zitiert nach Jens Heisterkamp, a.a.O. (Anm.28), S.61.
3) Jens Heisterkamp, ebda., S.61.
4) Peter Singer: Praktische Ethik, Stuttgart 1984.

aus «Im Spannungsfeld des Bösen»

Unsere Anmerkungen

a] Watson hat 1953 gemeinsam mit Crick die DNS-Doppelhelix entdeckt - vgl. »TzN Dez.2003«.
b] Joshua Lederberg, Vererbungsforscher
c] von personare (lat.: hindurchtönen)
d] Die Individualität (aus individuum, lat.: unteilbar) tönt bis in die Leiblichkeit durch, zB. im Antlitz.
e] vgl. STEINER, R.: «Die Philosophie der Freiheit» insb. das Kapitel "Der Wert des Lebens"
f] "normal", also der Norm entsprechend, setzt eine solche Norm voraus, meist ohne diese zu hinterfragen.
g] sich (voneinander) unterscheidende Daseine
h] die Einzelheiten von ihren Zusammenhängen isoliert betrachtende
i] Ein wenig Medienwirbel hat es durchaus gegeben, freilich dank der Behindertenverbände.

red.14.XII.2002
WfGW, 1030 Wien / AT
revid.16.XII.2003