zum IMPRESSUM
Merkblatt-
Beilage 31:
Zum sozialen Organismus
Rudolf Steiner
1a Man kann heute von «Sozialisierung» als von dem reden hören, was der Zeit nötig ist. Diese Sozialisierung wird kein Heilungsprozeß, sondern ein Kurpfuscherprozeß am sozialen Organismus sein, vielleicht sogar ein Zerstörungsprozeß, wenn nicht in die menschlichen Herzen, in die menschlichen Seelen einzieht wenigstens die instinktive Erkenntnis von der Notwendigkeit der Dreigliederung des sozialen Organismus [a]. Dieser soziale Organismus muß, wenn er gesund wirken soll, drei solche Glieder gesetzmäßig ausbilden.
1b Eines dieser Glieder ist das Wirtschaftsleben. Hier soll mit seiner Betrachtung begonnen werden, weil es sich ja ganz augenscheinlich, alles übrige Leben beherrschend, durch die moderne Technik und den modernen Kapitalismus in die menschliche Gesellschaft hereingebildet hat. Dieses ökonomische Leben muß ein selbständiges Glied für sich innerhalb des sozialen Organismus sein, so relativ selbständig, wie das Nerven-Sinnes-System im menschlichen Organismus relativ selbständig ist. Zu tun hat es dieses Wirtschaftsleben mit all dem, was Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum ist.[b]
1c Als zweites Glied des sozialen Organismus ist zu betrachten das Leben des öffentlichen Rechtes, das eigentliche politische Leben. Zu ihm gehört dasjenige, das man im Sinne des alten Rechtsstaates als das eigentliche Staatsleben bezeichnen könnte. Während es das Wirtschaftleben mit all dem zu tun hat, was der Mensch braucht aus der Natur und aus seiner eigenen Produktion heraus, [...] kann es dieses zweite Glied des sozialen Organismus nur zu tun haben mit all dem, was sich aus rein menschlichen Untergründen heraus auf das Verhältnis des Menschen zum Menschen bezieht. Es ist wesentlich für die Erkenntnis der Glieder des sozialen Organismus, daß man weiß, welcher Unterschied besteht zwischen dem System des öffentlichen Rechtes, das es nur zu tun haben kann aus menschlichen Untergründen heraus mit dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, und dem Wirtschafts-System, das es nur zu tun hat mit Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum. Man muß dieses im Leben empfindend unterscheiden, damit sich als Folge dieser Empfindung das Wirtschafts- von dem Rechtsleben scheidet, wie im menschlichen natürlichen Organismus die Tätigkeit der Lunge zur Verarbeitung der äußeren Luft sich abscheidet von den Vorgängen im Nerven-Sinnesleben.
1d Als drittes Glied, das ebenso selbständig neben die beiden anderen Glieder sich hinstellen muß, hat man im sozialen Organismus das aufzufassen, was sich auf das geistige Leben bezieht. Noch genauer könnte man sagen, weil vielleicht die Bezeichnung «geistige Kultur» oder alles das, was sich auf das geistige Leben bezieht, durchaus nicht ganz genau ist: alles dasjenige, was beruht auf der natürlichen Begabung des einzelnen Individuums, was hineinkommen muß in den sozialen Organismus auf Grundlage dieser natürlichen, sowohl der geistigen wie der physischen Begabung des einzelnen menschlichen Individuums. Das erste System, das Wirtschaftssystem, hat es zu tun mit all dem, was sein muß, damit der Mensch sein materielles Verhältnis zur Außenwelt regeln kann. Das zweite System hat es zu tun mit dem, was da sein muß im sozialen Organismus wegen des Verhältnisses von Mensch zu Mensch. Das dritte System hat zu tun mit all dem, was hervorsprießen muß und eingegliedert werden muß in den sozialen Organismus aus der einzelnen menschlichen Individualität heraus.
1e Ebenso wahr, wie es ist, daß moderne Technik und moderner Kapitalismus unserm gesellschaftlichen Leben eigentlich in der neueren Zeit das Gepräge gegeben haben, ebenso notwendig ist es, daß diejenigen Wunden, die von dieser Seite her notwendig der menschlichen Gesellschaft geschlagen worden sind, dadurch geheilt werden, daß man den Menschen und das menschliche Gemeinschaftsleben in ein richtiges Verhältnis bringt zu den drei Gliedern dieses sozialen Organismus. Das Wirtschaftsleben hat einfach durch sich selbst in der neueren Zeit ganz bestimmte Formen angenommen. Es hat durch eine einseitige Wirksamkeit in das menschliche Leben sich besonders machtvoll hereingestellt. Die beiden andern Glieder des sozialen Lebens sind bisher nicht in der Lage gewesen, mit derselben Selbstverständlichkeit sich in den sozialen Organismus einzugliedern. Für sie ist es notwendig, daß der Mensch aus den oben angedeuteten Empfindungen heraus die soziale Gliederung vornimmt, jeder an seinem Orte; an dem Orte, an dem er gerade steht. Denn im Sinne derjenigen Lösungsversuche der sozialen Fragen, die hier gemeint sind, hat jeder einzelne Mensch seine soziale Aufgabe in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft.[c]
aus «Die Kernpunkte der sozialen Frage»; S.61ff
Andere Stimmen
Fragment 404
Der Staat ist eine Person wie das Individuum. Was der Mensch sich selbst ist, ist der Staat den Menschen. Die Staaten werden verschieden bleiben, solange die Menschen verschieden sind. Im wesentlichen ist der Staat wie der Mensch immer derselbe.
Novalis
aus «Gesammelte Werke - Zweiter Band»; S.193
13a [...] Mit der Djet verlassen wir das Reich des Re [d] und betreten das des Osiris [d], des Gottes der Toten, der selbst ein Toter ist und als solcher in unwandelbarer Vollkommenheit fortdauert. Das bringt auch sein Beiname Wannafre [Wanafri] - »Der in Vollendung Existierende« - zum Ausdruck. So wie die Neheh-Zeit [e] mit dem Sonnengott und dem Werden, so war die Djet-Zeit [e] mit Osiris und dem Sein verbunden.
13b Es war die Zeit der Rechenschaft und der Verantwortung. Dem lag eine moralische Konstruktion zu Grunde, die auf der Überzeugung basierte, dass jeder Mensch für sein Handeln und Unterlassen zur Rechenschaft gezogen wird. Hier erscheint die Zeit als ein Zusammenhang von Tat und Folge, der nach ägyptischer Vorstellung durch die Ma'at [d] - der Begriff stand für Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung - garantiert wurde. Die Menschen, so die Idee, müssen die Ma'at in ihrer Lebensführung verwirklichen, und zwar dadurch, dass sie aneinander denken und füreinander handeln. Ma'at war der Zentralbegriff einer kooperativen Ethik. Wenn alle aneinander denken, zum Beispiel empfangene Wohltaten und eingegangene Verpflichtungen nicht vergessen, und füreinander handeln, dann lohnt sich das Gute und rächt sich das Böse, dann entsteht der Sinnzusammenhang von Tun und Ergehen. Dieser wirkt nicht automatisch wie ein Naturgesetz, sondern nur im Raum der gegenseitigen Erinnerung und Aufmerksamkeit, des Aneinanderdenkens und Füreinanderhandelns. Sinn oder Nichtsinn der Welt waren also eine Frage des Eingedenkseins oder der Vergessenheit. Wir können die moralische Konstruktion der Zeit daher als Gedächtniszeit bezeichnen.
Jan Assmann
in »Spektrum der Wissenschaft« 7/2010; S.2
14a Der Gastfreund aus Athen: Ich meine folgendes: Ist um die Herrschaft im Staat Krieg ausgebrochen, so wird die siegreiche Partei sich stets aller Mittel in dem Maße bemächtigen, daß sie die Überwundenen und deren Nachkommenschaft von allem Anteil an der Regierung gänzlich ausschließt und lebenslänglich wacht, daß keiner von diesen sich wieder aufschwingt und Gelegenheit bekommt, die erlittene Unterdrückung zu rächen. Von solchen Verfassungen behaupte ich, daß sie keine Verfassungen sind, so wenig es rechte Gesetze sind, die nicht für das gemeine Beste des Staates gemacht sind. Gesetze, die nur das Privatinteresse einiger weniger bezwecken, nenne ich nicht Verfassung oder Staatsgesetz, sondern Machenschaft einer Clique, und alles darauf gegründete Recht ist an sich null und nichtig. Denn wo jemand sich bei der Regierung über ein Gesetz [ὁ νόμος (ho nómos)] hinwegsetzt, wo das Gesetz ohne Kraft und Ansehen ist, da sehe ich den Staat seinem Untergang nahe. Wo hingegen das Gesetz der oberste Herr der Herrschenden ist und diese des Gesetzes Knechte sind, da sehe ich Wohlstand und soviel Gutes blühen, wie jemals einem Staate von den Göttern beschert worden ist.
[...]
14b Der Gastfreund aus Athen: Meine Herren! Der Gott, der nach uralter Sage der Anfang, das Mittel und das Ende aller Dinge ist, geht immer den geraden Weg und handelt überall der Natur der Dinge gemäß. Sein stetes Gefolge ist die Gerechtigkeit [ἡ δικαιοσύνη (he dikaiosýne)], die an allen Strafe [f] übt, die das göttliche Gesetz außer acht lassen. Dieser Gerechtigkeit folgt demütig und sittsam nach, wer glücklich werden will.
Platon
«Nomoi», 4.Unterredung
aus W.SCHÄTZEL: «Der Staat»; S.16f
15 Die Dreigliederung des sozialen Organismus ist eine Aufgabe, ein Erfordernis der neuesten Zeit. Vor dem 19.Jahrhundert wäre weder die Konzeption der Dreigliederungsidee, wie sie Rudolf Steiner (1861-1925) vertrat, möglich gewesen, noch waren die Vorbedingungen für ihre Durchführung gegeben. Von jeher stand das menschliche Bewußtsein im Mittelpunkt der Evolution, damit der Mensch stufenweise aus einem von seiner geistigen Führung völlig abhängigen Wesen zu immer größerer Selbständigkeit und höherer Eigenverantwortlichkeit aufsteigen kann. Verknüpft damit ist eine Auseinandersetzung mit dem Egoismus, der im Menschen zusammen mit seinen Begabungen veranlagt ist. Indem sich das Bewußtsein im Lauf der sich ablösenden Zeitalter wandelt, ändert sich auch die Gestaltung der Umwelt durch den Menschen entsprechend. Diese Metamorphose zeichnet sich auf dem Gebiet des Gemeinschaftslebens in den sich umbildenden sozialen Strukturen ab.
Wolfgang Latrille
aus «Assoziative Wirtschaft»; S.9
16a Denkt man die Analogie ‹Staat als Organismus› konsequent zu Ende, rückt sie das Individuum an die Stelle der einzelnen Zelle. Mittelgroße Sozialstrukturen wären ‹Gewebe›, der Staat das allbeherrschende Ganze. So wenig wie aber ein Organismus die Freiheit der Zelle dulden kann - und wenn sie auftritt wie beim Krebs, als Krankheit bekämpfen muss -, so wenig gewährt der ‹organismische› Staatsgedanke Freiraum für die autonome Individualität. Der ideale Staat ist daher im Grunde nur im Tierreich zu finden: bei Bienen, Termiten, Ameisen oder ‹Staatsquallen›, wo jedem Exemplar - vom Individuum kann nur uneigentlich die Rede sein - sein Platz durch das arbeitsteilige Gesamtsystem zugewiesen wird.
16b Am Begriff des Ameisen- oder Termitenstaates wird noch ein weiteres Problem ersichtlich. Zweifellos diente der Begriff ‹Staat› seit Plato zur Beschreibung sozialer Gestaltungen. Er wurde später auf das Tierreich übertragen, durchkreuzte sich hier gewissermaßen mit dem Begriff ‹(Über-)Organismus› und wurde nun, mit neuer Bedeutung ‹aufgeladen›, auf menschliche Bildungen rückübertragen. Dabei stellte man fest, dass das menschliche Zusammenleben den Vollkommenheitsgrad eines Termitenstaats nicht erreicht - schuld war der ‹lästige› Egoismus des Individuums, das sich selbst bestimmen will!
16c Es ist nun bezeichnend für die ‹Philosophie› des Staatsorganismus, dass sie sich einer derart aufgeladenen Begrifflichkeit bedient - aber sich nirgendwo der Mühe unterzogen zu haben scheint, ihren Staatsbegriff genau zu definieren: Lebensraum eines Volkes, einer Nation, einer Gesellschaft, eines Reichs, einer Kulturgemeinschaft, eines Wirtschaftsraums? All dies zieht einen Graben zwischen solchen Spekulationen und Rudolf Steiners Auffassung vom sozialen Organismus, der eine klare Gliederung enthält und darin dem Staat nur die Funktion eines Teiles zuspricht, nämlich als Gebilde des Rechtslebens.
16d So wird verständlich, wenn Steiner sagte: «[...] mit all diesen Analogie-Spielereien hat dasjenige, was hier [mit der Dreigliederung des sozialen Organismus] gemeint ist, absolut nichts zu tun.» (‹Die Kernpunkte der sozialen Frage›, GA 23, S.59f.) Anlässe waren Bücher von Karl Meray-Horvath und Albert Schäffle [g]. Zudem war Rudolf Kjellén [g] zur Auffasssung gekommen, dass der Mensch «eine Zelle des Staatsorganismus» sei. In der Konsequenz müsste man, so Steiner, «die Menschen köpfen, denn sie können nicht mit ihrem Kopfe solch einem Staate angehören, [...] da sie mit ihrem Geistigen hinausragen müssen über das Staatswesen.» (‹Die geistigen Hintergründe des Ersten Weltkrieges›, GA 174b, S.229): Das Seelische und Geistige des Menschen entzieht sich der Staatsorganisation. Eine richtige Staatswissenschaft werde es daher erst geben, wenn man berücksichtigt, «wie viel man organisieren kann im irdischen Zusammenleben und wie viel über die Organisation frei hinausgehen muss». (A.a.O., S.219)
16e Der Staat als ein eigenständiger Organismus - solche Vorstellungen stehen Steiners geisteswissenschaftlicher Erkenntnis diametral gegenüber. Verglichen werden mit einem Organismus könne nur «das Leben der Menschheit auf der ganzen Erde. Und die einzelnen Staaten darf man nur mit Zellen vergleichen.» (A.a.O., S.228) Steiner nahm noch einen weiteren Anlauf zur Charakterisierung: Man könne den Staat vergleichen mit einem Organismus, doch «niemals mit etwas anderem als einem Pflanzenorganismus», aber «der Mensch müsste herausstehen». Er könne «nur in seiner unteren Verankerung in das Staatsleben hineinragen» (ebd.). Hier ist zu beachten, dass Steiner den einzelnen Pflanzenorganismus immer so beschrieb, dass er kein Eigenständiges ist, sondern nur ein Teil der ganzen Pflanzendecke der Erde - wie ein Haar auf dem Kopf!
16f Organismische Staatsideen waren nicht nur Gedankenspiele von Biologen, sie ‹wucherten› auch in der Atmosphäre des deutschen Imperialismus: Bismarcks Reich [h] wurde als Organismus verstanden, der wachsen müsse. Diese Ideen wurden ihrer Zeit gemäß mit darwinistischen Inhalten aufgeladen: Staaten müssen sich im Kampf ums Dasein bewähren! [i] Verknüpft mit dem verschwommenen Begriff der ‹Geopolitik›, rechtfertigte dieses Denken die aggressive ‹Lebensraum›-Politik der Nationalsozialisten. Heute verleiht die Systemtheorie dem organismischen Ansatz ein blutleeres Leben, wobei nun vor allem die Prozesse von Wirtschaftunternehmen im Zentrum stehen.
16g Die biologistische Sicht macht blind dafür, dass Kultur im eigentlichen Sinne in spezifisch menschlichen Fähigkeiten wurzelt, die nicht dem bloßen materiellen Selbsterhalt dienen. Die Organismus-Analogie schließt Kulturtätigkeit als ‹Selbstzweck› aus, aber ohne sie kann der Mensch nicht er selbst sein, auch wenn er damit im Sinne energieeffizienter Regelkreise ‹Verschwendung› betreibt.
16h Es kann also nur darum gehen, soziales Leben nicht durch biologistische Analogien begreifen zu wollen, sondern beim sozialen Organismus «nach dessen eigenen Gesetzen zu forschen», so Steiner in ‹Die soziale Frage› (GA 328, S.28). Denn schlimmer noch als Irrtümer sind Halbwahrheiten wie das Analogon von Staat und Organismus.
Michael Kalisch
in »das Goetheanum« 29/2010; S.2
17a Unter amerikanischer Führung trafen die Siegermächte [1918] in Paris zusammen und überführten die ehemaligen Kolonien nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker [k] in Nationalstaaten. Diese Völker lebten deswegen aber nicht freier als vorher, denn ihre Gesellschaften erhielten nur eine neue Form, in der sämtliche Lebensbereiche - von der Wirtschaft über die geistige Arbeit bis zur Politik - unter dem staatlichen Machtmonopol zusammengefasst wurden. Vom Anspruch her hieß das: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, d.h. die Impulse der französischen Revolution, in nationaler Einheit verwirklichen zu wollen. Tatsächlich wurde der daraus hervorgehende Einheitsstaat zum Sachwalter der Ökonomie, die er gegen die abhängige Bevölkerung durchzusetzen hatte. Der einheitliche Nationalstaat wurde das Credo, die grundlegende Organisationsform der neuen Ordnung, die ihren ersten Ausdruck 1920 in der Gründung des Völkerbundes [l] fand, und die bis heute besteht.
17b Das war die Situation, in der die Idee der Dreigliederung heranwuchs. Rudolf Steiner versuchte sie schon zu Kriegszeiten an die führenden Kräfte Deutschlands heranzubringen. Da gab es zwar offene Ohren, aber kein wirkliches Verständnis. Auch nach dem Krieg nicht. Warum? Weil die von Steiner vorgebrachten Anregungen nicht bei der Neuordnung der äußeren Machtverhältnisse und auch nicht beim Versuch der revolutionären Abschaffung des Privateigentums stehenblieben, sondern tiefer in die geistigen Widersprüche und in die Krankheitsursachen des sozialen Körpers vordrangen.
17c In dem von Rudolf Steiner verfassten Werk ›Die Kernpunkte der sozialen Frage‹ erreichte die Idee der Dreigliederung im April 1919 die Öffentlichkeit. Steiner erklärte, dass dem »Einheitsfanatismus« des Staatsmonopols, salopp formuliert, das Monopol der Person entgegengesetzt werden müsse: die Selbstbestimmung des einzelnen Menschen, seine Würde als Mensch, die allseitige Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten als soziales Wesen. Im einheitlichen Nationalstaat werde das soziale Leben dagegen auf vollkommen falsche Bahnen gebracht, auf denen die Menschen zu bloßen Objekten einer vom Staat dominierten, nur am Profit orientierten Wirtschaft erniedrigt würden.
Kai Ehlers
in »die Drei« 6/2019; S.50f
18a Die moderne Sozialphilosophie hat den gedanklichen Zugang zur sozialen Lebenswelt erschlossen.⁵ Aber manchem erscheint der begriffliche Weg zunächst noch abstrakt. [...] Wenn man das Prinzip des Hebels oder der Waage begreift, kann man die Wirkweise eines Systems kommunizierender Röhren erfassen. Von dort aus kann man dann die Beziehungen und Prozesse des Flusslaufs denkend durchdringen. Der Organismus eines Flusses bildet ein reales Bild und einen Übergang zu wirklichen Lebensprozessen. So kann man allmählich von der Erfassung mechanischer Zusammenhänge zu denen des Lebens aufsteigen. Im Folgenden wird ein erster Schritt mit der Anschauung des sozialen Zusammenhangs als Gefüge vieler Waagen, als Mobile gewagt.
5 Vgl. exemplarisch Jürgen Habermas: ›Theorie des kommunikativen Handelns‹, Frankfurt a.M. 1981.
S.62
18b Eine Gesellschaft ist umso humaner und fruchtbarer, je freier sich die drei Gebiete [Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben] in ihrem Verhältnis zueinander bewegen können. Dafür müssen sie getrennt sein und zugleich zusammenhängen, d.h. sie müssen in einem höheren Punkt miteinander verbunden sein, um sich gegenseitig das geben zu können, wodurch sie allein lebensfähig sind. Jedes Gebiet kann nur von dem leben, was die beiden anderen ihm geben können. Sie sind voneinander abhängig. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs ist das Bild des Mobiles geeignet. Geprägt wurde diese Metapher von Jürgen Habermas. In der Beantwortung einer Umfrage der französischen Zeitung ›Le Monde‹ sprach Habermas darüber, wie es möglich wäre, »das in der entfremdeten Alltagspraxis stillgelegte Zusammenspiel des Kognitiv-Instrumentellen mit dem Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven wie ein Mobile, das sich hartnäckig verhakt hat, wieder in Bewegung zu setzen«⁷. Mit anderen Worten handelt es sich um die Frage, wie die Kräfte von Wissenschaft, Kunst und Religion wieder miteinander verbunden und zur fruchtbaren Wechselwirkung gebracht werden können.
Auch die Gesellschaft erscheint »wie ein Mobile, das sich hartnäckig verhakt hat«. Um das Mobile der Gesellschaft in Bewegung bringen zu können, müssen ihre Glieder entflochten werden. Die so verschiedenen Fragen nach dieser Entflechtung und zugleich nach der Verbindung der künstlerischen, der wissenschaftlichen und der moralischen Vernunft sind im Bild des Mobiles vereint. Sie hängen ohnehin zusammen. Denn die Reduktion der Vernunft auf ihre wissenschaftliche Ausprägung ist Folge und Mitursache zugleich des gesellschaftlichen Schlamassels. In den präziseren Worten des Soziologen: »Die kognitiv-instrumentelle Vereinseitigung des modernen Begriffs der Rationalität spiegelt die objektive Vereinseitigung einer kapitalistisch modernisierten Lebenswelt.«⁸
7 Jürgen Habermas: ›Untiefen der Rationalitätskritik‹, in ders.: ›Die neue Unübersichtlichkeit‹, Frankfurt a.M. 1985, S. 136f.
8 Ebd.
S.63f
Martin Kollewijn
in »die Drei« 6/2019
Unsere Anmerkungen
a] vgl. Mbl.4
b] vgl. Mbl-B.9
c] Von „oben” eingeführte oder gar diktierte Lösungen müssen daher ins menschliche Elend führen, gleichgültig ob sie ideologisch von „links” oder von „rechts” her begründet werden.
d] Die Gottheiten (Beherrscher des Mittags, somit des Zenith) und Osiris (Beherrscher der Mitternacht, somit des Nadir) galten als Wahrer der Maat, deren Ausdruck nachts Rē in Osiris war und tags Osiris in Rē.
e] Die beiden altägyptischen Zeitformen der Dschet, vollendeten Dauer, und des Nechech, verlaufenden Geschehens, bedingen einander (vgl. R.STEINER: Ewigkeit und Augenblick); sie drücken ein anderes Zeiterleben aus als das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dreigeteilte.
f] im Sinne des Ausgleichens (siehe auch »TzN Mär.2007«)
g] Schäffle war Soziologe und Volkswirtschaftler, Kjellén Geograph und Staatsrechtler.
h] Steiner war 10 Jahre alt, als Bismarck sein Deutsches Reich erschlich und erzwang (vgl. Mbl.1).
i] vgl. Mbl-B.26
k] nach den akademischen Ideen von US-Präsident Woodrow Wilson
l] Der Völkerbund (League of Nations, Société des Nations) war vom 1.I.1920 bis zum 18.IIII.1946 eine zwischenstaatliche Organisation mit Sitz in Genf.
Anhang A: Projektionsfiguren
https://wfgw.diemorgengab.at/WfGWmblB31.htm