FML JANSA
«Aus meinem Leben»
VI E
DER ERSTE WELTKRIEG
Bei der 18.Gebirgsbrigade und beim XXVI.Korpskommando
an der russischen Front
1.IIII.1917 - 9.X.1917
Nach mehr als 6½jährigem Aufenthalt auf dem Balkan glaubte ich diesen endgültig zu verlassen, als ich in Skoplje den Zug über Belgrad nach Budapest bestiegen hatte. Die Zeit im hervorragend zusammenarbeitenden Stab von GdI.v.Below war für mich die schönste Generalstabsverwendung gewesen, nicht nur weil ich in diesem Stabe eine besonders geachtete, eigenständige Stellung innehatte, sondern weil ich auch selbständig Taten setzen konnte zur Sicherung einer wichtigen Kriegsfront. Trotzdem war ich froh, endlich aus der Verwendung in hohen Stäben heraus zur Truppe an die Front zu kommen. Das war der positive Erfolg meiner Beschwerde, die schließlich auch eine Tat war, zu der sich nicht viele Generalstabsoffiziere entschlossen hätten, aus Sorge um ihre Karriere. Gewiß hatte nur ein anonymes Unterorgan das ungerechte, nicht chiffrierte Telegramm des k.u.k.Militär-Generalgouvernements Belgrad an mich verfaßt; doch verletzte es mich so tief, weil ich schon aus meiner bewundernden Hochachtung für unseren genialen Chef des Generalstabes, FM Conrad, immer und aus ganzem Herzen österreichische Interessen vertreten hatte und zwar so, daß diese und der österreichische Generalstab höchste Anerkennung fanden. Ich bedurfte dieserhalb wirklich keiner Ermahnung!
Der Chef des Militär-Generalgouvernements Baron Rhemen war ein General der Infanterie. Also mußte die Beschwerde-Entscheidung der Armee-Oberkommandant treffen. Das war seit November 1916 Kaiser und König Karl persönlich - ob es allerdings klug war, dieses einen Mann ganz ausfüllende hohe Kommando selbst zu übernehmen und den in der Armee hochgeschätzten Erzh.Friedrich zusammen mit Conrad abzusetzen? Dies zu erwägen war zwar nicht Sache eines kleinen Hauptmanns, doch während einer endlos langen Bahnfahrt gingen mir halt allerhand Gedanken durch den Kopf. Kamerad Broz hatte mir mitgeteilt, daß der Kaiser die Beschwerde zu meinen Gunsten entschieden habe; anderseits war meine Ablösung als Verbindungsoffizier und die Zurückstellung meiner Auszeichnung doch als eine Maßregelung aufzufassen. Justitia regnorum fundamentum! So hatte ich es als Leutnant und Wachkommandant am Burgtor in Wien gelesen. Galt das auch für den neuen Kaiser, wenn er im selben Atemzug einem Offizier Recht gab und ihn deshalb maßregelte? War eigentlich der neue, mir gänzlich unbekannte Chef des Generalstabes Baron Arz für seinen Generalstabsoffizier eingetreten? Den neuen Chef der Operationsabteilung und Sous-Chef Obst.Frhr.v.Waldstätten kannte ich aus der Kriegsschulzeit: als Hilfslehrer im operativen Generalstabsdienst hat er uns wegen seiner allzu großzügigen, sehr von sich eingenommenen Art wenig imponiert. Ich überlegte, ob ich von Budapest aus einen Abstecher zum AOK nach Baden machen sollte, um mich dort zu melden und so quasi in Erinnerung zu bringen? In meiner Ordre hieß es wohl, daß ich über die Personalsammelstelle Debrecen zur 18.Gebirgsbrigade einzurücken hatte. Aber der eine Tag Zeitverlust von Budapest über Wien nach Baden und zurück hätte wohl keine Rolle gespielt. Doch verwarf ich diesen Gedanken, denn ich wollte nicht den Eindruck erwecken, ich sei gekränkt oder ordenssüchtig. Ja, wenn Conrad noch Chef gewesen wäre, so hätte dessen armeebekanntes Rechtsgefühl mich vielleicht nach Baden geführt; so aber stieg ich in Budapest von Keleti auf den Nyugati Bahnhof um und fuhr ohne Aufenthalt nach Debrecen, wo ich zeitlich morgens ankam.
Den Personalsammelstellen oblag die Anweisung einzeln Reisender und kleiner Transporte, wie sie am raschesten ihre Bestimmungsstation erreichen konnten. Diese Einrichtung bestand hinter jeder Armee und war aus Geheimhaltungsgründen getroffen worden, damit nicht jederman wisse, wo sich jede Truppeneinheit befand. Ich erwartete daß die Personalsammelstelle am oder nächst dem Bahnhof sein werde und war baß erstaunt, am Bahnhofskommando zu erfahren, daß sich die Personalsammelstelle am anderen Ende der Stadt, am Simonyi út in einer schönen Villa friedensmäßig bequem eingerichtet hatte. Der Bahnhofkommandant lud mich ein, bei ihm am Bahnhof zu frühstücken, da der die Personalsammelstelle führende Husaren-Oberst erst ab 9h amtiere; die 18.Gebirgsbrigade stehe in Kirlibaba, wohin ich mit einem Mittagszug am gleichen Tage nur im Szamostal aufwärts bis Betlen kommen könne; dort müsse ich zu Fuß oder mit einem Fuhrwerk über den Rodna-Sattel weiter. Das war also die strenge Geheimhaltung in Ungarn! Die Personalsammelstelle in ihrer Villa war überflüssig. Man erfuhr alles nötige bereits am Bahnhof, höchstwahrscheinlich nicht nur ich, sondern jederman, auch wenn er spionieren wollte.
Da ich bis Mittag reichlich Zeit hatte und Debrecen nicht kannte, machte ich mich bei schönem Frühlingswetter auf den Weg zum Simonyi út, nicht ahnend, daß ich später einmal als Ehemann mit Frau und Kindern gar oft diesen Weg zum Nagy erdö, zu Onkel Adám und Tante Jolán gehen würde.
Der Husarenoberst war ein kriegsverletzt rekonvaleszenter, liebenswürdiger Herr, der mir genau Auskunft über meinen neuen Frontbereich geben konnte, weil an den Südflügel der Brigade die 11.Kavalleriedivision anschloß, in deren Verband er verwundet worden war. Er kredenzte mir ein Glas Tokayer und gab mir Grüße an seine Kameraden auf.
Dann promenierte ich den langen Weg zurück zum Bahnhof und besah mir unterwegs die große, einen weiten Platz abschließende Calvinische Kirche, vor der Ludwig Kossuth 1848, also vor 69 Jahren, die Dynastie für abgesetzt erklärt und damit eine Jahrfolge von Wirrungen und Irrungen eröffnet hatte, die Ungarn 1918 auf den rein magyarischen Teil reduzierte und fast genau hundert Jahre später dem Sowjetkommunismus auslieferte.
Beim Bahnhofkommando bekam ich zu essen, erbat die Nachsendung meiner folgenden Pferde und fuhr mit der eingleisigen Bergbahn durch das schöne Waldland, dessen kühle Frische mich eine Genesung von meinem Darmleiden erhoffen ließ. In Betlen schlief ich auf Stroh und freute mich auf die Wanderung am nächsten Tag.
Die Waldkarpathen erheben sich in diesem Teil bis 2000 m und tragen einen schönen Baumbestand. Gegen Mittag erreichte ich die Paßhöhe Rodna, die etwa 1200 m hoch lag und eine große mit Gras bestandene baumlose Fläche umschloß, welche von den Soldaten Rotunda genannt wurde. Auf ihr fand ich den ganzen Train meiner Gebirgsbrigade, der wegen der leichteren Versorgung der Reitpferde und Tragtiere dort abgestellt worden war. Der mir von Sarajevo her bekannte Train-Rittmeister Berounsky begrüßte mich als seinen vorgesetzten Generalstabsoffizier mit großer Herzlichkeit. Ich aß mit ihm die hervorragend zubereitete Mahlzeit aus der Kochkiste und besah mir anschließend alle Trains. Sie sahen gepflegt aus, waren aber des geringen Hafers wegen nur wenig leistungsfähig. Viele, auch die sonst sehr widerstandsfähigen bosnischen Pferde, hatten die Räude überstanden, eine böse, die Behaarung angreifende und das Blut irritierende, den ganzen Körper auf Monate hinaus schwächende Seuche. Berounsky lieh mir ein Reitpferd mit einem berittenen Pferdewärter, damit ich nicht zu Fuß in Kirlibaba einrückte, wohin er meine Ankunft telephonisch avisierte.
Bei rasch einfallender Abenddämmerung empfing mich vor dem Schulhaus nächst der Kirche der 2.Generalstabsoffizier, Oblt.Klepp zugeteilt dem Generalstab, und führte mich zum Brigadekommandanten Obst.Kemmel, der meine Einrückungsmeldung freundlich entgegennahm. Da die Zivilbevölkerung aus dem Frontbereich abgeschoben worden war, standen uns alle sauberen Häuschen des kleinen Walddorfes zur Verfügung. Der Brigadestab bestand außer den schon Genannten aus dem tüchtigen Reserve-Oberlt.Groak, der alle materiellen, die Versorgung betreffenden Arbeiten versah, dem Brigadearzt, dem Telephon- und dem Pionieroffizier. Schließlich gehörte dem Stab als zugeteilter Offizier und Stellvertreter des Brigadiers ein Obstlt.Klempa an.
Nach dem einfachen Abendessen begannen die beiden Stabsoffiziere und der Regimentsarzt ihre tägliche Tarockpartie, während ich mich mit meinen Gehilfen Klepp und Groak zu eingehender Orientierung zurückzog.
Die Gliederung der Brigade war mir bekannt; sie war unverändert so geblieben, wie ich sie Anfang des Krieges vom 6.Armeekommando aus formiert hatte. Sie gehörte zur 59.Infanteriedivision, deren Kommandant der gestrenge, aus dem Generalstab hervorgegangene FML Kletus Pichler war. Zur Zeit gehörte diese Division in den Verband des I.Korps, zu dessen Kommandanten vor kurzem der bisherige Generalstabschef des Erzh.Eugen, FML Alfred Krauß, ernannt worden war. Weiter umschloß uns das 7.Armeekommando unter FM Kövess, das wieder dem Heeresgruppenkommando Erzh.Joseph unterstand, dessen Generalstabschef der deutsche GM.v.Seeckt war.
Die Frontstellung der Brigade war alles eher als ideal. In den vorangegangenen hin- und herwogenden Kämpfen hatte sich die Brigade noch ostwärts der goldenen Bistrica an dem steil aufwärts strebenden Berghang behaupten können, während die Gipfelhöhe des 1400 m hohen Dadul in russischem Besitz geblieben war. Der Dadulhang war bewaldet. Die Talsenkungen zweier kleiner Wasserläufe nördlich und südlich des Dadul gehörten noch zum Brigadebereich, an den nördlich die 40.Honvéd-Inf.Div. und südlich die 11.Honvéd-Kav.Div. zu Fuß anschlossen.
Das kleine Dorf Kirlibaba lag im Tal der goldenen Bistrica, an der Straße, die von Ungarn über den Rotunda-Paß heranführte und sich im Bistrica Tal nach Nord und Süd gabelte. Auf diesen Straßen bewegte sich der ganze Nachschub; nicht nur für unsere Brigade, sondern auch für die 40.Honvéd-Inf.Div. und die 11.Honvéd-Kav.Div. Zu dieser war auf der Straße eine schmalspurige Lokomotiv-Feldbahn gelegt worden, deren Züge nur nach Einbruch der Dunkelheit fuhren. Die Russen konnten die Strecke bei Tag vom Dadul aus einsehen und beschossen sie bei Nacht mit Artillerie, ohne größeren Erfolg; die normal entstehenden Schäden konnten rasch behoben werden. Bergauf zur 40.Honvéd-Div. wurde der Nachschub vom Feldbahnhof in Kirlibaba mit Pferdefuhrwerken besorgt.
Für die Versorgung der Truppen meiner Brigade in ihrer Höhenstellung führte von Kirlibaba eine primitive Seilbahn hinter die Mitte der Stellung. Russische Artillerie aller Kaliber war bei Tag und Nacht bemüht diese Seilbahn und unser Kommando zu zerstören. Gefährlich waren für uns nur die russischen Gebirgsgeschütze, die mit ihrer stark gekrümmten Flugbahn nahe an Kirche und Schulhaus herankamen, während die größeren Kaliber über uns hinweg Löcher in den westlich der goldenen Bistrica aufragenden Talhang schossen, ohne Schaden anzurichten.
Auch hier war ich an eine tote Front gekommen, das nie abreißende Artilleriefeuer ausgenommen. Im März war in Rußland nach den vielen Mißerfolgen die Revolution ausgebrochen: zweidreiviertel Jahre Krieg hatten genügt, um das Zarentum zu stürzen. Russland war einer der Hauptschuldigen am Kriegsausbruch. Ohne die andauernde Stützung durch Rußland hätten die kleinen Serben nie gewagt, so frech gegen die Monarchie zu agieren; selbst der schamlose Mord am Erzherzogpaar in Sarajevo wurde von Rußland gedeckt; ohne diese Deckung hätte Serbien die österreichischen Forderungen nicht zurückweisen können. Jetzt hatte also die russische Dynastie den Lohn für ihre Duldung der jahrelangen subversiven Tätigkeit gegen Österreich-Ungarn erhalten! Was in Rußland vor sich ging, blieb uns natürlich in der ersten Zeit verborgen. Der neue Staatschef und Minister Kerenski hatte die Entente seiner Treue versichert, und tatsächlich gingen die Kämpfe in Galizien und Wolhynien weiter. An anderen Teilen der Front soll die Infanterie gesagt haben, daß sie nicht mehr angreifen, sondern nur ihre Stellungen halten werde. Bei der russischen Artillerie und den Fliegern sollen viel französische und englische Offiziere als Instruktoren eingeteilt gewesen sein, die natürlich im Interesse ihrer Staaten den Kampf aufrecht erhielten. An meiner Front waren die Russen für eine an anderen Frontteilen von uns versuchte Friedenspropaganda durch Hinüberrufen, Zeitungen, Lautsprecherreden auf Grammophon ganz unzugänglich. Solche Versuche beantwortete die Infanterie stets sofort mit Maschinengewehrsalven; ihre Artillerie schoß ohnehin andauernd viel. Darum stellten wir an unserer Front die Propaganda ganz ein.
Der Dienstablauf gestaltete sich für mich so: Schon um 6h früh begann ich mit dem Aufstieg in die Kampfstellung und besuchte die Bataillone in unregelmäßiger Folge, täglich eines, besprach mich mit Offizieren und Mannschaften und überprüfte Waffen, Munition, Schützengräben, Unterstände, Bekleidung, Verpflegung, sanitäre Verhältnisse, Urlaube und religiöse Betreuung. Ich interessierte mich eindringlich für den inneren Dienstbetrieb bei Tag und bei Nacht, die Beurteilung des gegenüberliegenden Feindes, die Maßnahmen für die Ausbildung, die Pläne zur Bekämpfung eines russischen Angriffs, kurz ich versuchte, die eigene Zuversicht und Kampffreude festzustellen. Mit Offizieren und Mannschaften konnte ich leicht sprechen. Die Bataillone II/60, Jäger Nr.3, 15 und 26 waren ungarisch; nur mit den Rumänen des Bataillons III/31 aus Siebenbürgen hatte ich es schwer, weil ich von deren Sprache gar nichts wußte. Das Bataillon hatte jedoch in Mjr.Czernautzan einen hervorragend tüchtigen und zuverlässigen autochtonen Rumänen als Kommandanten, den ich noch aus unserer bosnischen Zeit gut kannte.
Zum Mittagessen kam ich ins Brigadekommando zurück und referierte anschließend dem Brigadekommandanten über meine Eindrücke und Vorschläge zu Verbesserungen. Obst.Kemmel, der zweimal der Woche auch die Truppen besichtigte, war mit meinen Anträgen zumeist einverstanden. Der Nachmittag galt dann der auch im Feld nicht geringen Schreibarbeit und Besuchen bei den hinter unserer Front in Stellung befindlichen Batterien der Brigade-, Divisions- und Korpsartillerie. Eine Meldung und Vorstellung beim Kommandanten der 59.Division erübrigte sich auf Anfrage: den Generalstabchef Obstlt.Keinert kannte ich aus Sarajevo so gut wie er mich; und der Divisionär ließ sagen, er werde ohnedies in nächster Zeit die Brigade besuchen und mich dabei kennenlernen.
Mein Vorgänger als erster Generalstabsoffizier, Hptm.Burda, war ein tüchtiger, tapferer Offizier gewesen, der alle Kämpfe mit der Brigade am Isonzo, in Serbien, Südtirol und Russland bestanden und sich bei den Truppen großes Ansehen und große Beliebtheit erworben hatte. Er war nach der langen Frontdienstzeit bei der Brigade zu einem Armee-Etappenkommando versetzt worden. Im großen Ganzen konnte ich alle von ihm getroffenen Maßnahmen auf taktischem und administrativem Gebiet gutheißen.
Nur die Anschlüsse zu den Nachbarn rechts und links wollten mir nicht gefallen. Nach den vorangegangenen Kämpfen, bei denen die Höhenrücken die ausschlaggebende Rolle gespielt hatten, erschienen mir die Flügelanschlüsse in den beiden Bachrinnen nördlich und südlich des Dadul zu wenig gesichert, ja fast vernachlässigt. Die Kommandanten der beiden Flügelbataillone II/60, Obstlt.Pfisterer, und Jäger 26, Mjr.Paulus, mußten mir darin zustimmen, daß in den beiden Bachlinien geführte russische Angriffe in kürzester Zeit große Erfolge erringen würden, weil sie, im Bistrica-Tal aufs Brigadekommando treffend, die ganze so sorgfältig betreute Höhenstellung auf dem Dadul einfach ausheben, den Nachschub für die beiden Nachbardivisionen durchschneiden und damit deren Stellungen unhaltbar machen konnten. Der Gedanke, den ich den Russen zutraute, zur Abwechslung einmal nicht über den Höhenrücken, sondern durch die beiden Talsenken anzugreifen, war bisher auch von meinen Gehilfen und dem Brigadier nicht erwogen worden. Einmal geäußert gewann er aber nicht nur deren Zustimmung, vielmehr drang Obst.Kemmel auf rascheste Behebung dieser Bedrohung.
Ich verabredete sonach für zwei folgende Abende je ein Zusammentreffen mit den Regimentskommandanten der nördlich und südlich anschließenden Honvéd-Regimenter in den Talsenken, überzeugte sie von der Leichtigkeit eines russischen Vordringens durch diese und bewog beide Herren zur Bereitstellung von Reserven hinter ihren Anschlußflügeln, um einen russischen Durchbruchsversuch gemeinsam begegnen zu können. Über das vorgesetzte Divisionskommando verlangte ich auch eine eigene Sperrfeuervorbereitung mehrerer Batterien vor die nun in den beiden Talmulden zu raschem Ausbau gelangenden Gräben und Hindernisanlagen. Mjr.Paulus benannte diese neue, in seinem Bereich zum Ausbau gelangende Anlage "Talsperre Jansa".
Gesundheitlich erholte ich mich in der hoch gelegenen Waldlage unseres Brigadeabschnittes außerordentlich gut und hoffte vom Darmleiden gänzlich geheilt zu sein. Plötzlich trat eine mir damals unerklärliche Erscheinung auf: bei einer Besprechung der zu schaffenden Talsperrung beim 26.Jägerbaon erfaßte mich ein vehementer Schmerz in der Magengegend. Das Tal war baumlos und wurde von den Russen öfter mit Maschinengewehren bestrichen; Mjr.Paulus hatte es im Laufschritt überquert und ich war daran ihm ebenso zu folgen, als mich der heftige Schmerz derart übermannte, daß ich mich im Angesicht der Russen einfach niederwarf und liegenblieb, bis er etwas abklang. Nach einer Weile stand ich mühselig auf und humpelte auf einen Stock gestützt in Deckung. Die Russen mußten das genau beobachtet haben, schossen aber nicht.
In der Brigadestation erklärte ich dem Regimentsarzt genau den Schmerz und seine Intensität. Er untersuchte mich, klopfte und horchte mich ab, fand aber keine Ursache. Bis zur Jausenzeit war alles vorüber, und ich dachte bald nicht mehr an den Vorfall. Erst Jahre später in St.Pölten, als mich nachts ein ähnlich vehementer Schmerz überfiel, den Dr.Steingötter sofort als Gallenstein-Anfall diagnostizierte, erkannte ich, daß obiges mein erster Gallenanfall gewesen war.
An einem der folgenden Tage hatte sich Divisionär Pichler zur Inspizierung angesagt. Nach unserer Meldung bei ihm nächst dem Schulhaus stellte er die bei solchen Besichtigungen üblichen Fragen, die Obst.Kemmel erschöpfend beantwortete. Dann fragte er mich, wie ich mich bei der Brigade fühle. Meine Antwort: "Danke gehorsamst Exzellenz, ganz ausgezeichnet!" schien ihn zu beeindrucken. Wenn er in mir einen durch die Verwendung in so vielen Armeekommandos zum Stubenhocker gewordenen Mann erwartete, so irrte er sich gewaltig. Besonders beim deutschen Infanterieregiment in Bitolja hatte ich zu meiner an und für sich großen Neigung für den Truppendienst eine Menge praktischer Kriegserfahrung im Kleindienst gewonnen, die ich nun zur Geltung bringen konnte. Er ließ sich von mir an den kitzligen Anschluß zur 11.Honvéd-Kav.Div. führen und war sichtlich erstaunt, als der gute Mjr.Paulus ihm erklärte, daß die Aufstellung seiner Maschinengewehre im Zusammenklang mit der Graben- und Hindernis-Führung auf meine Anschauungen zurückgehe und im Einvernehmen mit mir durchgeführt worden war. Jetzt käme da kein Russe mehr durch, bei Tag nicht und auch nicht bei Nacht. Bei seiner Verabschiedung war FML Pichler wesentlich herzlicher und zeigte anerkennendes Wohlwollen.
Kurz darauf wurde ich eine Woche in den Sturmkurs kommandiert, den GM.v.Seeckt für die ganze Heeresgruppe in Nyáradszereda aufgestellt hatte und wo der deutsche Jägerhptm.Stephani die infanteristische Ausbildung leitete. Der Kurs brachte für mich nichts neues; ich machte aber gern und mit Passion alle dort von der Truppe verlangten Übungen praktisch mit. Ich schoß mit Gewehr und Maschinengewehr, warf Handgranaten, rollte im Verein mit deutschen Generalstabsoffizieren Kampfgräben auf, robbte und stürmte mit dem letzten Artillerieschuß in den markierten Feindgraben, gerade an dem Tag, als Seeckt mit einer Reihe hoher öst-ung. Offiziere den Sturmkurs besuchen kam und mit diesen Herren unseren Einbruch in den Feindgraben aus seitlichen Deckungsgräben beobachtete. Er erkannte mich und ließ mich nach Abschluß der Übung zu sich rufen, wo ich dreckig und schmierig mit Gewehr und umgehängten Handgranatensack samt Spaten vor ihm erschien. Er lachte mich herzlich an, reichte mir die Hand und ließ sich meine Dienstleistungen seit unserer Trennung in Makedonien erzählen. Er schloß mit dem Beifügen, daß mir ja sein Sturmkurs richtigen Spaß zu bereiten scheine, was ich lachend bejahte. Jetzt erst bemerkte er das Eiserne Kreuz I.Klasse an meiner Brust und fragte, wann ich es erhalten hätte; ich antwortete: "Erst kürzlich durch General der Infanterie Otto von Below", worauf Seeckt sagte: "Na, da gratuliere ich Ihnen wirklich!" Seeckt hatte von den vielen Kursteilnehmern nur mich durch eine so lange Aussprache ausgezeichnet; das erregte natürlich Aufsehen.
Bei diesem Sturmkurs konnte ich wiedereinmal den großen deutschen Einfluß wahrnehmen: während wir an der Front um jeden Artillerieschuß wegen der leidigen Sparmaßnahmen hadern mußten, standen dem von Seeckt sehr zweckmäßig eingerichteten Sturmkurs scheinbar unbegrenzte Mengen öst-ung. Artilleriemunition zur Verfügung. Die durch den großen Munitionsaufwand besonders eindrucksvolle Übung veranlaßten auch den öst-ung. GdK.Rohr bei der Schlußbesprechung Gen.v.Seeckt zu sagen, daß er "so etwas Großartiges, wie die vorgeführte Schlußübung eines großen Infanterieangriffes mit scharfer Munition "überhaupt noch nicht gesehen" habe. Rohr mag ja mit seiner Äußerung rechtgehabt haben; nach fast drei Kriegsjahren fand ich sie doch beschämend für einen öst-ung. General; in diesem Fall wäre mir etwas weniger Anerkennung mehr erschienen.
Nach Abschluß des Kurses eilte ich wieder zu meiner Gebirgsbrigade. Dort fand ich aus der kaiserlichen Militärkanzlei Obst.Béla v.Káry, der zu einer einmonatigen Frontdienstleistung eingerückt war. Er blieb für diese Zeit als Stellvertreter des Brigadiers beim Brigadekommando. Das war ein außerordentlich liebenswürdiger Mann, den Obst.Kemmel jedoch in der Sorge, von ihm verdrängt zu werden, kühl behandelte. Natürlich schloß sich Káry mehr an mich an und begleitete mich öfter auf meinen täglichen Vormittagsbesuchen der Truppen in den Kampfstellungen; begreiflicherweise fragte er viel, und ich gab ihm gern Antwort. Bei meinen nächtlichen Stellungsbegehungen, die ich unregelmäßig zweimal in der Woche zur Prüfung, ob der Dienst der Feldwachen und Grabenposten korrekt und scharf genug gehandhabt wurde, unternahm, begleitete er mich nur einmal: der Aufstieg bei Dunkelheit und Gang durch die Gräben war ihm, wie Obst.Kemmel auch, zu beschwerlich; freilich erkundigte er sich genau, ob alles in Ordnung befunden worden war, was ich stets bejahen konnte.
Kemmel nützte Kárys Anwesenheit zu einem vierzehntägigen Urlaub. In dieser Zeit mußte ich Káry viel erzählen. Unerschöpflich fragte er nach meinen Erlebnissen und Eindrücken nicht nur bei der Brigade, sondern bei allen meinen Kriegs- und Friedensverwendungen. Angesichts seiner einflußreichen Stellung beim jungen Kaiser hielt ich mich in der Beurteilung von Personen sehr zurück. Über meine Eindrücke über die "Deutschen" befragt, wollte ich ihm nur das allerbeste erzählen; dagegen wendete er ein, daß man viel Klagen über deutsche Überheblichkeit höre; dies komme auch vor, antwortete ich und erzählte von Mackensens Ansprache an den Bulgarenkönig in Niš, in der wir Österreicher einfach totgeschwiegen wurden. Wenn man aber auf seinem Posten fest steht und sich richtig benimmt, dann kann man mit ihnen ganz gut auskommen. Ihre Generäle waren hervorragend, und militärisch waren uns die Deutschen schon durch den Reichtum an Kampfmitteln aller Art deutlich überlegen.
Als seine eigene Schöpfung ließ uns Obst.v.Káry eine durch den Pionierzug der Brigade auf seinen direkten Befehl in den feindwärtigen Hang gegenüber der Schule gesprengte Kaverne zurück. Als ich ihm deshalb vorhielt, daß die Pioniere oben am Dadul nötiger wären, meinte er, daß es falsche Tapferkeit sei, das für die Führung notwendige Brigadekommando einem russischen Zufallstreffer auszusetzen. Damit hatte er zweifellos recht; aber ich hätte die Kaverne nicht bauen lassen, vielleicht um nicht ängstlich zu erscheinen. Tatsächlich wurde sie von uns kaum je benützt. Das ist aber das Los vieler Deckungsarbeiten im Krieg.
Nachdem die Verteidigungsbereitschaft und die Ausbildung der kleinen Reserven befriedigend waren, begann ich die Verhältnisse für einen Angriff unserseits zu studieren, um die dominierende Höhe des Dadul in unseren Besitz zu bringen. Das war nur durch Einbruch in schmaler Front auf der Rückenlinie selbst möglich, wofür die infanteristischen Kräfte ausreichend waren. Doch viel und schwere Artillerie war nötig, und die fehlte. Den Einbruchskeil zu führen hatte ich Hptm.Moravec vom 26.Feldjägerbaon zugedacht. Das war der Kommandant der vereinigten Sturmzüge der Brigade, ein hervorragend bewährter tapferer Offizier. (Moravec heiratete eine ungarische Komtesse und spielte nach dem Krieg in Westungarn als Oberst "von Osztenburg" eine Rolle.)
Als Heeresfrontkommandant Erzh.Joseph uns inspizieren kam, trugen Obst.Kemmel und ich ihm die Angriffsmöglichkeit der Dadul-Höhe vor und baten um Artillerie, die weder dem Divisions- noch dem Korpskommando zur Verfügung stand.
Eines Tages erschien der deutsche Glt.v.Conta, der die deutsche 200.Jägerdiv. befehligte, die nördlich der 40.Honvéd-Div. anschloß. Der hatte von unserer Angriffsabsicht gehört. Er war wegen seines Nachschubes am sicheren Besitz von Kirlibaba sehr interessiert und bereit, uns hierzu 10 schwere deutsche Batterien mit ausreichender Munition zur Verfügung zu stellen. Ich durfte ihn auf die Höhenstellung führen und ihm den geplanten Angriff im Gelände erläutern; er war einverstanden und sagte die Batterien fest zu. Für Obst.Kemmel und mich war es eine große Freude, unserem vorgesetzten Divisionskommando die deutsche Zusage melden zu können und um die Durchführungserlaubnis zu bitten. Die Besprechungen mit dem Artillerie-Brigadier unserer Division, Obst.v.Steiner waren schon vorangegangen und bedurften nur mehr Ergänzungen.
Da trat ein Ereignis ein, das die Ausführung des Angriffes in der geplanten Art zunächst zurückstellen ließ: die 8.russ.Armee unter Gen.Kornilow war am 7.Juli in Galizien bei Stanislau, meiner Geburtsstadt, zu einem mächtigen Angriff angetreten, der leider bald solche Erfolge hatte, daß Truppen von allen Fronten dorthin befohlen wurden, um die entstandenen Löcher zu stopfen.
Wir verstärkten die Alarmbereitschaft unserer Brigade, weil wir mit der Möglichkeit einer Ausweitung des russischen Angriffes auf unsere Front rechneten. Tatsächlich begann die russische Artillerie Mitte Juli eine intensive, durch Tage dauernde Beschießung unserer Stellungen, worauf uns unser Korpskommando ein Bataillon als Reserve zuschob. Unsere Artillerie schwieg, um Munition zu sparen. Kurz darauf beobachtete ich bei einem nächtlichen Besuch unserer vordersten Kampfgräben, übereinstimmend mit den Truppenbeobachtern, eine Menschenverdichtung in den nahe gegenüber befindlichen russischen Stellungen. Sofort forderte ich von oben aus der Stellung Vernichtungsfeuer unserer Artillerie auf die feindliche Bereitstellung am Dadul an. Die massierte Wirkung war so stark, daß die Russen trotz hörbarer Kommandorufe nicht aus ihren Gräben zu bringen waren. Ihr geplanter Angriff wurde durch unsere Wachsamkeit im Keim erstickt. Die russische Infanterie war hier nicht mehr die alte.
Das beiderseitige starke Artilleriefeuer dauerte noch zwei bis drei Tage, flaute dann unsererseits beginnend wieder ab. Unsere Menschenverluste durchs feindliche Artilleriefeuer waren nicht groß; die Stellungsgräben hingegen hatten arg gelitten und erforderten zu ihrer Instandsetzung viel Arbeit und Material.
Kaum war die Beruhigung der Lage eingetreten, als vom Chef des Generalstabes meine Versetzung zum XXVI.Korpskommando verfügt wurde. Bei der Brigade wurde der bisherige 2.Generalstabsoffizier, Hptm.Klepp, zum 1.Generalstabsoffizier bestellt und der Kriegsschulaspirant Oberlt.Schönherr als Ersatz zutransferiert.
Meine knapp dreieinhalb Monate "Frontdienstleistung" war damit leider beendet. Anläßlich meiner Abmeldung erhielt ich vom Brigadier wie von FML Pichler annerkennende Worte für meine Dienstleistung, die auch schriftlich in zwei Belobungsschreiben Ausdruck fanden. Herzlich und voll Sympathie-Erklärungen war der Abschied von den Truppen der Brigade, mit denen ich aber bald wieder in Berührung kommen sollte.
Wo sich das XXVI.Korpskommando befand, wußte ich nicht. Im Versetzungsbefehl stand, ich hätte über die Personalsammelstelle Lemberg einzurücken. Also marschierte ich mit meinem Offiziersdiener durch den hochsommerlich duftenden Wald über die Rotunda an die Bahn und fuhr über Sátoralja-Ujhely-Homona und über den Karpathenkamm nach Lemberg. Meine "Marschroute" (das war das mich legitimierende Reise- und Ausweisdokument für Eisenbahn und kontrollierende Feldgendarmerie) war vom 18.Juli datiert, so daß ich keine besondere Eile hatte, weil ich von Kirlibaba schon am 17. aufgebrochen war.
In Lemberg war mein Vater erstmals in Garnison gewesen, als er geheiratet hatte, und dann wieder, als ich ein Bub von 8 Jahren war. Dort hatte ich an der evangelischen, einzigen deutschen Volksschule bis zum 10.Jahr gelernt. Sebstverständlich interessierte es mich, meine Kindheitserinnerungen an Lemberg mit den Augen des Erwachsenen zu konfrontieren. Vom Bahnhofkommando Lemberg ließ ich mir für eine Nacht ein Quartier anweisen. Dort erfuhr ich, daß das XXVI. vom ungarischen General Hadfy kommandierte Korps jenes Unglückskorps war, das die Russen von Stanislau 25 km nach Westen zurückgeworfen hatten. Wo es zur Zeit sei, wisse niemand; am besten, ich möge über das 3.Armeekommando in Stryi zum XXVI. Korps zu gelangen trachten.
Lemberg machte auf mich einen guten Eindruck. Die Stadt hatte durch den Krieg verhältnismäßig wenig gelitten. Ich suchte alle Stätten, die mir aus der Kindheit im Gedächtnis geblieben waren, und fand sie auch; die Entfernungen und Größenverhältnisse waren freilich viel kleiner als in meiner Erinnerung.
Am folgenden Tage fuhr ich nach Stryi zum 3.Armeekommando, um mich zu melden. Erstaunt fand ich dort den von mir verehrten Obst.v.Salis-Samaden, meinen ehemaligen Chef der Operationsabteilung an der italienischen Front, als Armeegeneralstabschef vor. Er begrüßte mich herzlich, war jedoch durch den erlittenen Mißerfolg gedrückter Stimmung. Meine Frage, ob es stimme, daß das XXVI.Korps als erstes zurückgeworfen worden sei, bejahte Salis und meinte resigniert, daß es nicht notwendig hätte so kommen müssen; die Truppen wollten nicht mehr kämpfen, anders sei der Zusammenbruch der 15.ungar.Division nicht zu erklären; Gen.Hadfy sei vom Kommando des XXVI.Korps enthoben; als neuer Kommandant wäre FML Ernst v.Horsetzky bestimmt, der aber erst von der italienischen Front komme; Generalstabschef des Korps sei Obst.Aurelius Stromfeld. Der genaue Standort des Korpskommandos sei momentan nicht bekannt; ich müsse es auf der Linie Zurawno-Kalusz suchen.
Nach einem kurzen Imbiß empfing ich die Orientierung, deutsche Truppen seien im Anrollen in den Raum des XXVI. und XIII. Korps. Ich machte mich auf den Weg. Zunächst nahm mich ein nach Zurawno fahrendes Lastauto mit. Dort wurde mir gesagt, mein Korpskommando dürfte in Sokolów sein, wohin gerade ein Munitionsauto abgehe. Ich saß auf und fuhr nach Sokolów: kein Korpskommando. Weiter südostwärts, in Kalusz seien Russen eingedrungen, aber gestern wären noch Teile des Korpskommandos dagewesen.
So machte ich mich in dieser Richtung zu Fuß auf den Weg. Es war Spätnachmittag geworden, ein wunderbar sonniger Julitag. Von einem in südöstlicher Richtung bestiegenen Aussichtspunkt sah ich auf der nächsten feindwärtigen Bodenwelle einen kleinen, etwas beleibten deutschen General einsam dahinspazieren. Mit dem Feldstecher erkannte ich Gen.v.Litzmann, den berühmten Führer der Garde in den Kämpfen bei Lódz; zuletzt hatte ich ihn im Sturmkurs zu Nyáradszereda getroffen. Nachdem ich die nächste Bodenwelle erstiegen hatte, traf ich mit Gen.Litzmann zusammen und meldete mich. "Also endlich jemand, der mich orientieren kann!" war seine Antwort; leider mußte ich verneinen und ihm erklären, daß ich selbst mein Korpskommando suche; "Na dann viel Glück!" sagte er. Ich stieg hinunter und die nächste Bodenwelle hinauf - auf etwa 2 km konnte ich bereits Russen wahrnehmen; zwischen mir und den Russen gab es offenbar keine eigene Stellung mehr. Während ich überlegte, was nun zu tun wäre, da allmählich die Dämmerung einzufallen begann, schlugen plötzlich Zigeunerweisen an mein Ohr. Ich ging den Tönen nach, die aus der Tiefe erklangen, und stand unversehens vor einem "Folwark", so nannte man die Meierhöfe des Großgrundbesitzes in Galizien. Vor dem großen Tor stand ein Posten. Auf meine Frage, was in dem Meierhof drin sei, bekam ich zur Antwort: "A huszon hatodik Hadtestparancsnokság!", also das XXVI.Korpskommando. Durch Zigeunermusik angelockt hatte ich zufällig meine neue Bestimmungsstation gefunden.
Beim Betreten der Tenne erblickte ich Offiziere, unter ihnen Obst.Stromfeld. Er kannte mich nicht, ich ihn seit langem. Als ich nämlich mit meinen Eltern in Wien am Kolonitzplatz 8 wohnte, lebte im 1.Stock des Hauses ein pensionierter Oberst mit einer hübschen Tochter; dieser machte ein Honvéd-Oberleutnant den Hof, der die Kriegsschule besuchte. Wir lachten viel über diesen "Honvéd" mit dem urdeutschen Namen Stromfeld. - Während meiner Zeit in Bosnien als Generalstabshauptmann beim Armeeinspektor hatte Stromfeld an der Kriegsschule gelehrt; kurz vor Kriegsausbruch war er mit seinen Schülern auf Übungsreise durch Sarajevo gekommen. Jetzt war er mein Generalstabschef und ich, auf den Posten des zweiten Stabsoffiziers beim Korpskommando versetzt, sein Stellvertreter.
Bei meinem Eintritt pausierten die Zigeuner, und ich durfte mich zum Dienstantritt melden. Meiner ernsten Miene gewärtig erklärte Stromfeld, daß er diese "mulatság" (Unterhaltung) nach der erlittenen Niederlage zur Hebung des Mutes und der Zuversicht des Kommandos angeordnet habe; ihm unterständen zur Zeit keine Truppen, da diese, arg zerschlagen, nach hinten in Erholungsquartiere verlegt wurden und in die Front deutsche Divisionen unter deutschem Befehl einrückten. Auf meine Meldung, daß ich Gen.Litzmann begegnet sei, die Russen kaum 1500 m vom Meierhof gesehen habe und das vorgesetzte 3.Armeekommando den Standort des Korpskommandos nicht kenne, meinte Stromfeld, es sei inzwischen alles in Ordnung gekommen, die Telephonverbindung zum Armeekommando hergestellt, der Standort des Kommandos durch Feldwachen gesichert.
Also machte ich mich mit den Herren im Kommando bekannt. Die rechte Hand Stromfelds war der junge Generalstabshauptmann Ludwig, den ich in der Folge als einen hervorragend tüchtigen, gewissenhaften und klugen Arbeiter schätzen lernte. Dem zweiten Stabsoffizier bei einem Korpskommando oblag im Krieg die gesamte materielle Versorgung des Korps und die Kanzleidirektion, also die Bewältigung des gesamten schriftlichen Dienstverkehrs mit Ausnahme der taktischen Befehle, die der Generalstabschef mit Hptm.Ludwig besorgte und welche die Basis für den von mir zu leitenden Nachschub für das Korps bildeten.
Noch in der Nacht oder am nächsten Morgen muß der Befehl eingetroffen sein, der das XXVI.Korpskommando zur 7.Armee überstellte, wo es den Befehl über die 59.Infanterie- und 40.Honvéd-Division zu übernehmen hatte, somit genau in den Raum sollte, aus dem ich zum Korpskommando versetzt worden war.
Meine erste Tätigkeit war der Abtransport des Korpskommandos im Einvernehmen mit der Feldtransportleitung über Stryi mit der Eisenbahn nach Máramarossziget und mit Automobilen weiter nach Borsa. In der letzten Bahnstation trafen wird mit dem neuen Korpskommandanten, FML v.Horsetzky, zusammen. Er war eine kleine schmächtige, unansehnliche Erscheinung, aber grundgescheit und tapfer.
Aufgrund meiner Tätigkeit bei der 18.Gebirgsbrigade vermochte ich den Kommandanten und den Stab über beide Divisionen in allen Einzelheiten orientieren. Das war wichtig, weil für die sonst üblichen Frontbesuche keine Zeit blieb. Denn deutsche Divisionen hatten unter der persönlichen Führung des Prinzen Leopold v.Bayern die Russen in den Schlachten bei Zborów und Zloczów, von Norden nach Süden stoßend, schwer geschlagen und durch Fortführung ihres Angriffes in südlicher Richtung die ganze ostgalizische russische Front ins Wanken gebracht. Dadurch wurde auch die 7.öst-ung.Armee unter FM Kövess zum Angriff der Russen in den Waldkarpathen veranlaßt. Der noch von mir entworfene Angriff der 18.Gebirgsbrigade über die Dadul-Höhe kam nun zur Durchführung, wenn auch an Stelle der versprochenen 10 deutschen Batterien der kriegerische Zerfall der Russen getreten war. So drängten in den letzten Juli- und ersten Augusttagen die beiden Divisionen des Korps über Seletin in Richtung Radautz-Hadikfalva die Russen zurück, die uns gegenüber noch beachtliche Widerstandskraft zeigten. Meine Aufgabe bestand in der Versorgung beider Divisionen mit Kampf- und Personen-Bedürfnissen, um den Vormarsch in Fluß zu halten. Ein Blick auf die Landkarte des durchschrittenen Gebietes zeigt, wie schwierig diese Aufgabe allein schon durch den Mangel an Straßen war; dazu kam, daß die Trains durch den langen Stellungskrieg großer Marschbewegungen entwöhnt und die Pferde durch die ungenügende Fütterung kraftlos geworden waren. So war ich in diesen Tagen nur stundenweise Gast im Korpskommando, um die jeweilige Frontlage festzustellen. Die übrige Zeit war ich Tag und Nacht mit Autos und zu Pferd unterwegs, um, oft mit harten und groben Worten, die Trains in Fluß zu halten, die Arbeiterabteilungen auf der einzigen Straße im Moldawatal nach Seletin zu deren Instandhaltung anzusetzen und zu harter Arbeit anzuhalten, die Vorziehung von Feldspitälern wie den Abschub der Verwundeten und Kranken in Bewegung und die schwergewichtige Artilleriemunition nach vorne zu bringen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, befällt mich ein Staunen, wie ich dies alles bewältigen konnte. Die von mir über Stock und Stein benützten Autos brachen eines nach dem anderen zusammen, und die bedächtige Langsamkeit des Armee-Etappenkommandos ließ mich öfter in ungebührlich stürmischen Ton mit hohen Offizieren sprechen. So erinnere ich mich noch, wie ich in etwas zu lauter Sprache vom Armeegeneralstabchef Obst.v.Steinitz Befehle an die Etappe forderte, damit diese uns über Storozynetz nach Süden Artilleriemunition zuschiebe, ohne die unsere Infanterie zu große Verluste erleide; die heftige Aussprache veranlaßte den im Nebenraum sitzenden Armeekommandanten FM Kövess herauszutreten und beruhigend zu sagen: "Nur Mut, es wird schon alles ins Gleis kommen!", worauf ich heftig erwiderte: "Ich danke gehorsamst Exzellenz, Mut haben wir genug, aber Artilleriemunition fehlt uns." Wie ruhig nahmen beide Herren damals meine Heftigkeit hin! Anscheinend hatte mir mein Korpskommandant ein gutes Zeugnis ausgestellt; denn so oft ich in diesen Tagen im Korpskommando erschien und FML v.Horsetzky in Gegenwart des Generalstabschefs Bericht erstattete, fand er für mich stets hohe Worte der Anerkennung.
Nach der Zurückeroberung ganz Ostgaliziens und des Großteils der Bukowina, kam die Bewegung Mitte August zum Stehen und die Fronten begannen in Dauerstellungen zu erstarren. Das Korpskommando etablierte sich in Unter-Wikow, einem kleinen sauberen, von den Russen unzerstört gebliebenen, jedoch menschenleeren Ort.
Von Hptm.Ludwig begleitet ging Horsetzky täglich am frühen Morgen in die Stellungen der Truppen, um diese und ihre Bedürfnisse persönlich kennenzulernen. Aufgrund dieser Erfahrungen gab er seine Befehle an Stromfeld und mich stets in außerordentlich feiner, liebenswürdiger Art. Ich hatte große Hochachtung vor seiner Persönlichkeit und war nicht nur bemüht, alle seine Befehle für das Wohl der Truppen bestens in die Tat umzuformen, sondern auch ihm persönlich kleine Freuden zu bereiten. So nahm ich wahr, daß er gern Zigarren rauchte und Marmelade zum Frühstück wünschte. Ich brachte ihm von meinen Inspektionsfahrten aus den verschiedenen Verpflegungsdepots öfter ein Kistchen Zigarren und auch Marmeladen mit, was er stets dankbar entgegennahm.
Nach seiner Rückkehr von den Truppen hätte FML v.Horsetzky gern nach gut österreichischer Art ein komplettes Mittagessen mit Suppe gehabt. Diese bekam er anfangs nicht, weil der Generalstabschef nicht nur ein 150-prozentiger Magyare sein wollte, sondern sich gelegentlich auch als Rheindeutscher gerierte, von wo sein Vater nach Ungarn eingewandert war, und die deutschen Stäbe nach englischer Sitte in der Regel den Lunch ohne Suppe nahmen und erst abends Suppe servieren ließen; Stromfeld nannte darum auch den sonst normalen Mittagstisch "Frühstück". Das behagte Horsetzky gar nicht; in seiner taktvollen Art geäußerte Wünsche gingen an den Ohren des robusten Obersten ungehört vorbei. Als nun der Vormarsch zum Stehen gekommen war und ich im Korpskommando die schriftlichen Rückstände aufzuarbeiten begann, kam ich regelmäßig zum Mittagstisch. Da konnte ich ohne Kränkung Stromfelds dem Korpskommandanten einen Teller heißer Suppe zukommen lassen: wegen meiner vom Balkan mitgebrachten qualvoll schmerzlichen Darmentzündung hatte mir der Arzt neben Tierkohle täglich eine Schleimsuppe verordnet; diese Suppe ließ ich mir reichlich in einer Terrine servieren und bot dem Korpskommandanten, an dessen linker Seite ich saß, wie von ungefähr davon an. Horsetzky verstand meine Absicht und ließ sich einen Suppenteller bringen. Einmal meinte er zu mir, daß ich das gut gemacht hätte; er hätte eine Mittagssuppe bei "seinem Oberst" nicht durchgesetzt.
Leider wollte mein Darm nicht besser werden. Uzora gab es hier nicht, und die schon mit Eßlöffeln genommene Tierkohle half nicht. Der Korpschefarzt wollte, daß ich ganz im Bett bliebe. Das konnte ich nicht, denn ich hatte jeden Vormittag eine Menge auswärts zu regeln. Erst nach dem Mittagessen konnte ich mich mit einem Haufen Schreibarbeiten in meinem netten kleinen Zimmer niederlegen. Da war es für mich eine ganz große Auszeichnung, daß FML v.Horsetzky mich fast täglich nach seinem kurzen Schläfchen an meinem Bett besuchte und zuerst über die dienstlichen Geschäfte sprach, anschließend auch über private Verhältnisse und die Kriegslage, die durch den Zusammenbruch des russischen Zarentums eine kleine Hoffnungsspalte für ein erträgliches Ende zu öffnen schien. In Italien, das soll heißen, an unserer italienischen Front, ging es heiß zu, und er war der Meinung, daß die Lage dort langsam bedrohlich werde. Nicht wegen der italienischen Truppengüte, sondern wegen der erdrückenden Übermacht an Material; die italienische Artillerie habe anscheinend unbeschränkte Mengen an Munition und die zahlenmäßige Überlegenheit der italienischen Flieger sei besorgniserregend; dazu komme die völlig unzureichende Ernährung unserer Truppen dort. Dabei sagte er mir anerkennend, daß er staune, was ich hier für die Truppen an Ernährungsmitteln hervorzuzaubern verstände. Ich konnte dieses Lob mit dem Hinweis einschränken, daß die Aufbringungsräume im Verhältnis zur Truppenzahl doch sehr groß seien und die Russen das Land Bukowina schonend behandelt hatten.
In den ersten Augusttagen traf die Nachricht ein, daß seine Majestät mich mit 1.August 1917 in der Rangtour des Generalstabes zum Major zu ernennen geruht habe. Ich nahm diese Nachricht mit Befriedigung auf, weil ich mit der Möglichkeit gerechnet hatte, wegen meiner Beschwerde gegen das Generalgouvernement Serbien vielleicht auch im Avancement zurückgestellt zu werden. Durch die Kriegsverhältnisse bedingt war ich bereits nach 4 Jahren und 10 Monaten Hauptmannsdienstzeit mit 33 Lebensjahren Major geworden. Damit war die Geschichte für mich erledigt; die Arbeit ließ mir für Eitelkeiten keine Zeit. Ich trug meine Hauptmannsbluse weiter. Nach etwa zehn Tagen brachte Horsetzky mir zwei Stück Goldborten und zwei silberne Sterne bei seinem Nachmittagsbesuch mit und mahnte, ich möge mir die Majorsdistinktion endlich aufnähen lassen. Ich war tief gerührt über so viel Güte und beschämt über meine Gleichgültigkeit. Am nächsten Tag erschien ich beim Mittagessen erstmals als Major; ein allgemeines Händeklatschen des Stabes empfing mich und auch die unvermeidliche Zigeunermusik, die weder Horsetzky noch ich liebten, spielte auf; für Stromfeld war wiedereinmal ein Anlaß zu einer mulatság gegeben, der ich mich bald entzog.
Im September besserte sich mein Darmleiden wieder so, daß ich unbeschränkt dienstfähig wurde.
Der Nachschub fürs Korps war nun geregelt; er konnte nur mehr kleine Verbesserungen erfahren. Deshalb meldete ich Obst.Stromfeld, daß ich nun auch die Truppen in ihren Stellungen besuchen könne und ihm von meinen Eindrücken regelmäßig Bericht erstatten werde; er war einverstanden. So kam ich auch wieder zu der mir vertrauten 18.Gebirgsbrigade, bei deren Kommando ich den ganzen Tag bleiben mußte, weil die Russen dort wieder so scharf geworden waren, daß man bei Tage nicht in die vordersten Stellungen gehen konnte, ohne sofort heftiges Zielfeuer von Maschinengewehren auszulösen. So konnte ich erst nach Einbruch der Dunkelheit hinaus zu den Bataillonen und zurück. Leider waren bei den Angriffen der vergangenen Wochen einige liebe Kameraden gefallen, darunter auch ein netter vor kurzem aus der Militärakademie ausgemusterter Leutnant des Jägerbataillons Nr.15. Wir sagten uns auf Wiedersehen, nicht ahnend, daß es unsere letzte Begegnung war. Denn Anfang Oktober traf vom AOK der Befehl ein, daß ich für eine neue Diensteinteilung in Aussicht genommen sei und mich deshalb bald beim Chef der Operationsabteilung in Baden zu melden hätte. Horsetzky meinte, ich käme nun gewiß an die italienische Front, es sei jedoch nicht schön von mir, ihn mit "seinem Obersten" allein zu lassen.
Obst.Stromfeld verabschiedete mich sehr ehrenvoll; ich bekam eine schöne schriftliche Korpskommandobelobung in die Hand gedrückt. Dann eröffnete er mir, daß FML v.Horsetzky meine Eingabe für den Kronenorden befohlen habe, in der alle meine Verdienste seit meiner letzten Auszeichnung zusammengefaßt würden. Das war nett, denn für einen Major war es schon peinlich, den Kronenorden nicht zu besitzen, selbst wenn man auf solche Dinge keinen Wert legte.
Was würde meine nächste Dienstverwendung sein? Ich hatte keine Ahnung, hoffte aber nun endlich Divisionsgeneralstabschef zu werden und die vorherige Berufung nach Baden werde vielleicht einen kaiserlichen Prinzen als Divisionskommandanten zum Anlaß haben.
Meinen Abgang vom XXVI.Korpskommando bedauerte ich nicht. Wohl hatte ich Horsetzky verehrt, aber zu Stromfeld blieb mein Verhältnis kühl. Er mag ein sehr tüchtiger Generalstabschef gewesen sein, aber sein überbetontes Magyarentum konnte ich nicht verstehen. Als nach dem Krieg Ungarn kommunistisch wurde, kämpfte Stromfeld als Armeegeneralstabschef mit Erfolg gegen die Tschechen. Später habe ich nichts mehr von ihm gehört. Den Herren des Stabes war ich mit Ausnahme von Hptm.Ludwig nicht näher gekommen. Und daß ich die Kanzleidirektion mit all ihrem schrecklichen Papierwust losgeworden war, erfüllte mich mit Freude. So fuhr ich gänzlich unbeschwert wiedereinmal über Budapest nach Wien.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG