FML JANSA
«Aus meinem Leben»
V
SARAJEVO
1.XI.1910 - 24.VII.1914
Nach Abschluß der Manöver in Oberösterreich hatte ich den Oktober über Urlaub. Ich nützte ihn, um meinem inzwischen als Feldmarschalleutnant in den Ruhestand getretenen Onkel Guido in seinem Domizil Leutschau im Zipser Komitat meine Aufwartung zu machen. Der alte Herr lebte dort behaglich im eigenen einstöckigen, massiv gebauten Haus am Rathausplatz mit seiner Gemahlin und ihrer inzwischen geschiedenen Tochter Else Stelzel, deren Ehe mutmaßlich des Mannes wegen kinderlos geblieben war.
Herzlich wurde ich aufgenommen und erhielt vom Onkel gute Ratschläge für mein künftiges Verhalten. Ein Ausflug mit Wagen in die Tátra mit der bis 2000 m aufragenden Gerlsdorfer Spitze eröffnete mir eine schöne, bisher noch nicht gekannte Landschaft.
Im Haus des Onkels, das zu seinem Heiratsgut gehörte, beeindruckte mich die von der Tante mit deutscher Gründlichkeit gehaltene Ordnung. Das Haus enthielt 4 Wohnungen. Die größte bewohnte der Onkel selbst, während die anderen für die drei Töchter und deren Familien reserviert waren. Obwohl er keine Pferde hielt, hatte er einen lichten Raum als Sattelkammer eingerichtet, in der auch seine prächtige ungarische Generalsgalauniform hing, in einem Schrank mit großer Glastür wie in einem kleinen Museum. Der Onkel besaß keine Zivilkleidung; bis zu seinem kurz nach Beginn des Weltkrieges an Herzasthma eingetretenen Tod trug er Uniform. Wenn ich Hoffnung gehegt hätte, von der reichen Sattelkammer etwas Reitzeug zu erhalten, wäre ich enttäuscht worden; gut, daß ich mich schon in Wien damit versehen hatte.
Die Familie war tief lutheranisch. Sehr beeindruckte mich, wie der Onkel nach Mittag- und Abendessen die große Hausbibel nahm und in ihr las. Dabei meinte er einmal zu mir, ich möge ebenfalls oft die Bibel zur Hand nehmen, man könne sehr viel aus ihr lernen.
Dies war das letzte Mal, daß ich den Onkel, die Tante und Kusine Else gesehen hatte. Sie bewogen mich, auch zu ihrer Tochter Ada auf Besuch zu reisen, die mit dem Liederkomponisten Dóczy verheiratet in Nagykárolyi lebte, wo ihr Mann beim Finanzamt irgendeine ihn wenig interessierende Stellung hatte. Dort wurde ich genauso freundlich aufgenommen. Die Eheleute hatten zwei Kinder: Lórand und ein Mädchen, welches jedoch im zweiten Lebensjahr an Diphterie starb. Auch diese von Ada gegen den Willen ihrer Eltern erzwungene Ehe war nicht glücklich.
Nach Wien zurückgekehrt konnte ich gerade noch Lt.v.Rohm, der nach seinem Urlaub im Begriff stand nach Sarajevo aufzubrechen, bitten, sich dort um eine Wohnung für mich umzusehen. Dann kündigte ich meine Wiener Wohnung und deponierte die Einrichtungsgegenstände bei Vater und Bruder am Kolonitzplatz. Im Glauben höchstens zwei Jahre in Sarajevoer Garnison zu bleiben reiste ich bloß mit einem großen Schiffskoffer, der Sattelzeugkiste und zwei Handkoffern. Während der sommerlichen Übungsreise der Kriegsschule hatten wir uns zwei Tage in Sarajevo aufgehalten: die schöne Lage der im Miljacka-Tal eingebetteten Stadt hatte ich in guter Erinnerung. Die Reise war lang: am Morgen vom Wiener Ostbahnhof abfahrend kam ich mittags in Budapest an und hatte dort gleich Anschluß nach Bosnisch Brod, das ich gegen 9h abends nach reizloser, wegen der früh eintretenden Dunkelheit auch sehr langweiligen Fahrt erreichte. Mit dem Lesen während der Fahrt war das damals noch garnicht leicht: die Beleuchtung der Waggons war so dürftig, daß die Lektüre die Augen sehr anstrengte; man döste lieber im Halbdunkel vor sich hin.
Hingegen gefiel mir die bosnische Landesbahn, deren Waggons bloß auf 70cm-Spur liefen und 4 sehr bequeme Sitze je Abteil enthielten. Bei geringer Passagierzahl, wie das im November der Fall war, wurden vom Schaffner gegen ein geringes Entgelt zwei gegenüber befindliche Sitze zu einer angenehmen Liegestätte zusammengezogen, mit einem Leintuch bedeckt und einem Kopfpolster versehen; ein seitlich angebrachter schwerer Vorhang schloß das Lager gegen den Mittelgang ab. Ich schlief glänzend bis zum Morgen. Die schmale, in unzähligen Windungen das Bosnatal aufwärtsführende und mit verhältnismäßig großer Geschwindigkeit befahrene Spur bringt die Waggons in eine solche Schwingung, daß man liegend glauben könnte, auf hoher See zu fahren. In Zenica bekam ich guten Kaffee ins Abteil gereicht, das jetzt wieder seine vier Sitze annahm.
Gegen 10h vormittags rollte der Zug in Sarajevo ein. Der Bahnhof liegt ziemlich weit außerhalb der Stadt. Von ihm führte die Bahn einerseits in südwestlicher Richtung nach Mostar-Ragusa-Castelnuovo weiter, anderseits gelangte man ostwärts durch das Pracatal nach Višegrad. Eine kurze Strecke führte in den Badeort Ilidže.
Am Bahnhof erwartete mich der gute Lt.Rohm, führte mich mit einem Fiaker ins Hotel Zentral und zeigte mir dann ein möbliertes Zimmer in einem alten, nahe dem Korpskommando gelegenen Türkenhaus, das die geschiedene oder verwitwete Frau eines Wiener Arztes mit vielen Töchtern und Nichten bewohnte. Fürs erste war nichts besseres zu finden gewesen. Die Wohnung lag in einer kleinen, im November knöcheltief morastigen Gasse und war von meinem Brigadekommando, das sich im Defensionslager zwischen Bahnhof und Stadt befand, so ungünstig gelegen, daß ich sofort Besseres suchte.
Am folgenden Tage begann ich mit meinen dienstlichen Meldungen und Vorstellungen, die eine lange Zeit in Anspruch nahmen, weil Sarajevo eine große Garnison mit vielen Befehlsstellen hatte.
Die 9.Gebirgsbrigade, deren Generalstabsoffizier ich nun war, bestand aus dem mährischen Baon.I/99, das aber bald vom ungarischen Inf.Baon.I/12 abgelöst wurde, den niederösterreichischen Bataillonen III/49 (St.Pölten) und IV/84 (Krems-Wien) sowie dem nordböhmischen Baon.III/74, ¼-Ulanen Eskadron vom kroatischen Rgt.12, einer Gebirgsbatterie vom ruthenischen GebirgsArt.Rgt.11 und einer bosnischen Gebirgstrain-Eskadron.
Das war im Verhältnis zu den anderen Gebirgsbrigaden nicht einmal ein zu großes Sprachenbabel. Ihr Kommandant war ein alter Oberst, Nickel v.Opavár, der am 1.November General geworden war und dann in Pension gehen sollte; ein nur in der Truppe gedienter und dem Generalstab mißtrauisch gegenüberstehender Herr.
Der Kommandant der vorgesetzten 1.Inf.Div. war FML Michael v.Appel, aus dem Generalstab hervorgegangen und als Oberst-Kommandant der glänzenden bos-hcgov. Gendarmerie gewesen, also mit dem Land, seiner Bevölkerung und den Truppen voll vertraut. Sowohl er wie sein Generalstabschef, der brillante autochthone Serbe Mjr.Dragutin Csoban, empfingen mich sehr herzlich und kameradschaftlich.
Das Korpskommando führte GdI.v.Auffenberg mit Obst.v.Boog als Generalstabschef. Armeeinspektor und zugleich politischer Landeschef war GdI.Marian v.Varešanin, sein Flügeladjutant der vorher lange in Persien als Militärattaché tätig gewesene Obst.Heller. Generalstabschef beim Armeeinspektor war Obst.Lipošcak.
Das Korpskommando war in einem stattlichen Gebäude untergebracht, und ich mußte sehr schmunzeln, als ich an den Büro-Türschildern lauter auf -ic endende Namen fand, wie Sekulic, Apostolovic, Majetic, Gjebic-Marusic usw. Das waren hervorragend eingearbeitete Fachreferenten aus dem Truppen- und Armeestand, während die Generalstabsoffiziere zumeist deutsche Namen hatten wie Lassy, Pletzner, Rettel, Tarbuk.
Generalstabsoffizier der 10.Gebirgsbrigade war der Oblt.Neugebauer, Sohn des reichen Prager Buchhändlers.
Damit waren meine Vorstellungen aber noch lange nicht beendet. Denn Sarajevo war nicht nur eine große Garnison, sondern auch Festung mit einem Festungskommando und einer Geniedirektion; dann waren noch die 48.Division, die Artilleriebrigade, das Militär-Knaben Pensionat da, und schließlich war es üblich, daß die Generalstabsoffiziere auch bei den hohen Beamten der Landesregierung, dem Kommandanten der Gendarmerie und der Militär-, Post- und Telegraphendirektion ihre Aufwartung machten. Alles in allem bestanden in Sarajevo Verhältnisse wie sonst nirgends in der Monarchie: es gab im Staatsdienst wie im Offizierskorps sowohl österreichische, als auch ungarische Beamte mit Familien, zu denen noch die einheimisch serbokroatischen christlichen und muslimischen Bekenntnisses kamen.
Als im Dezember der Armeeinspektor und Landeschef im Konak - das war der ehemalige Pascha-Wohnsitz - einen gesellschaftlichen Empfang gab, war ich entzückt über die vielen schönen Frauen und Mädchen fast aller Nationen der Monarchie, die hier einträchtig und lebensfroh zusammentrafen.
Außerdem gab es für den gesellschaftlichen Verkehr ein ansprechendes Militärkasino mit Garten und einen zivilen Herrenclub, in dem die Generalstabsoffiziere summarisch Mitglieder waren. Da es keine Regimentsmusiken in Sarajevo gab, war eine ausgezeichnete „Garnisons”-Musik gebildet worden, die nicht nur bei militärischen Paraden spielte, sondern oft auch im Militär-Kasino Abendkonzerte gab.
Militärisch verlief das Jahr 1910/11 ruhig mit Rekrutenausbildung und militärischen Übungen aller Art, offiziersapplikatorischen Übungen, Divisions- und Festungskriegsspielen.
Zunächst erwarb ich mir ein bosnisches Gebirgs-Reitpferd, zu dem ich später das edle große Halbblutpferd „Ada” kaufte. Wenn keine Truppenübungen im Gelände waren, so ritt ich täglich in der Ebene gegen Ilidže. Auf diesen Ritten begegnete man vielen reitenden Frauen wie der Bürgermeisterin Mandic mit ihrem kleinen Sohn oder den Frauen von Hussarek, Veith und Gaudernak.
Finanziell stand ich durch die rund 40 Kronen betragende bos-hcgov.-Zulage wesentlich besser als in Wien. Den Mittagstisch nahm ich abwechselnd bei den Bataillonsmessen meiner Brigade, im Herrenclub und im Militärkasino bis zu dem Augenblick, da der dem Generalstab sehr wohlgesinnte Korpskommandant die Aufstellung und nette Einrichtung einer Generalstabsmesse für Mittags- und Abendtisch verfügte. In diese Messe kamen auch die Artillerie- und Geniestabsoffiziere. Dort hatten wir eine ausgezeichnete ungarische Köchin und einen wohlbestellten Keller, in dem es aus der Wiener kaiserlichen Hofkellerei auch französischen Champagner zu trinken gab. Im Durchschnitt nahmen rund zwanzig Offiziere an dieser Messe teil.
Sarajevo ist eine herrlich gelegene Stadt mit vielen Ausflugsmöglichkeiten nach allen Seiten in die Ebene und ins Gebirge. Die religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung war so vielseitig wie nirgend sonst: ein römisch-katholisches Bistum mit schöner, in modernem Stil erbauter Kathedrale, ein evangelischer Pfarrer, serbisch-orthoxe Geistlichkeit, der Reis-ül-Ülema für die zahlreichen Muslime sowie Rabbiner für die spaniolischen und die europäischen Juden, die sich streng schieden, wobei die spaniolischen die europäischen als nicht ebenbürtig betrachteten.
Eine der ersten großen religiösen Feiern, bei der ich den ganzen Prunk Sarajevos sah, war die anfangs Jänner bei schneidender Kälte erfolgte serbisch-orthodoxe Wasserweihe, zu der die ganze Garnison ausgerückt war. Die Truppen in Bosnien-Hercegovina und Dalmatien hatten keine Paradeuniformen, wie diese ansonsten in der ganzen Monarchie mit Federhüten, Czakos und Waffenröcken vorgeschrieben waren und ein beliebtes farbenprächtiges Bild abgaben. Alles war in der hechtgrauen, einheitlichen Felduniform, aber mit den erhöhten Friedensständen, wie sie in Bosnien-Hercegovina und Dalmatien vorgeschrieben waren, aufmarschiert. Gerade diese schlichte feldmäßige Einheitlichkeit wirkte auf mich mehr als das bunte Gepränge. Nur der aus der Armee des FM Grafen Radetzky überkommene Brauch, auf die Kappen aller Soldaten „Feldzeichen” - je nach Jahreszeit aus Tannengrün oder Eichenlaub - zu stecken, war auch hier gültig.
Die Wintermarsch- und Schießübungen wurden, so wie in der ganzen Monarchie, aber angesichts der beschränkten Straßenverhältnisse unter weit schwierigeren Bedingungen vorgenommen; die Generalstabstechnik der Errechnung der Marschzeiten für jede einzelne Kolonne fand hier ihre Perfektion in den Marsch-Dispositionen; die in der Kriegsschule genossene Ausbildung kam zu entscheidender Geltung. Die Durchbildung der Truppen stand höher als sonst in der Monarchie. Allerdings fand man hier auch leichter passendes Gelände für kriegsmäßige und scharfe Schießübungen.
Die Kanzlei-Beanspruchung eines Brigadegeneralstabsoffiziers war nicht groß; es blieb genug Zeit fürs Reiten und das Studium von Dienstvorschriften. Auch das Lesen von Belletristik war möglich.
Um die Osterzeit fand ich im westlichen Teil Sarajevos, in dem moderne Neubauten entstanden, ein angenehmes, möbliertes Zimmer bei einem Eisenbahnbeamten.
Die verheirateten Generalstabsoffiziere luden uns Junggesellen regelmäßig zu sich. Ein besonders schöner Weihnachtsabend bei Oblt.Neugebauer (der nach dem Krieg eine Spielwarenhandlung in Salzburg übernahm) ist mir bis heute in lieber Erinnerung geblieben. Wir revanchierten uns da meist gemeinsam durch Schenkung schöner Teppiche oder Vorhänge, die man in Sarajevo aus der landeseigenen Teppichweberei oder bei den vielen sehr gut und reich sortierten spaniolischen oder türkischen Händlern in der „Tscharschia” preiswert kaufen konnte.
Der Name „Tscharschia” galt der seit Jahrhunderten unverändert geblieben türkischen Altstadt, die einen eigenen Reiz ausübte. Man konnte das ganze Leben der Handwerker und Kaufleute beobachten, das sich - mit Mahlzeiten, rituellen Gebeten und Waschungen - auf der Straße abspielte. Alle Türken folgten strenggläubig den Gebetsrufen der Muezzins von den schlanken Minaretten der zahlreichen Moscheen. Die Sitten der Türken, aber auch aller anderen, katholischen und orthodoxen Einwohner Bosniens und der Hercegovina wurden mit allergrößtem Takt geehrt. Mir ist in den vier Jahren meiner Tätigkeit in diesen Ländern kein einziger Fall einer Störung durch Soldaten bekannt geworden; die verschleierten Türkinnen wurden niemals behelligt. Offiziersdamen wurden hie und da in einen Harem geladen, wo sich nach ihren Erzählungen die Unterhaltung mit den dort unverschleierten Damen fast ausschließlich um Kinder und deren Erziehung bewegte. Die europäischen Damen suchten und erfuhren dort die kosmetischen Geheimnisse des Orients. Denn damals färbten sich die europäischen Damen noch nicht die Lippen und Fingernägel, die Türkinnen hingegen schon.
Zu den übrigen alltäglichen Beobachtungen des muslimischen Lebens gehörten die gegenseitigen türkischen Besuche. Geschahen diese am späten Nachmittag in Begleitung des Familienoberhauptes, so ging dieses mit einer Laterne voran; ihm folgten im Gänsemarsch die verschleierten Frauen, dann die Kinder. Machten die türkischen Frauen allein Besuche, so mußten sie bei Tageslicht ans Ziel gelangen. Da türkische Frauen allein bei Dunkelheit nicht auf die Straße dürfen, trugen sie ihr Bettzeug auf dem Rücken zu ihren Bekannten, bei denen sie die Nacht verbrachten, um erst bei Tageslicht heimzukehren. So konnte man in allen bosnischen Städten und Orten während des ganzen Tages Frauen mit ihrem Bettzeug wandern sehen.
Eine zweite täglich zu sehende türkische Eigenheit waren die Begräbnisse. Leichenwagen kennen die Moslems nicht. Voran geht der Geistliche (Iman), ihm folgt die nur aus Männern bestehende Trauergemeinde. Der Tote liegt in einem offenen Sarg, den Männer auf den Schultern tragen, die in rascher Folge von den von hinten nach vorn laufenden Trauernden abgelöst werden. Dadurch bekommt der ganze Trauerzug den Anschein, als ob das Begräbnis im Laufschritt erfolgen würde. Die Türken waren gewohnt, ihre Toten im nahen Umgebiet ihrer Wohnhäuser zu bestatten. Darum gibt es in jeder Stadt sehr viel kleine Friedhöfe. Der politischen Verwaltung, für die größte Schonung des konservativen (grundbesitzenden) Türkentums Gebot war, gelang es nur sehr langsam, mitten in den Städten liegende Friedhöfe allmählich von der Bestattung auszunehmen.
In Begleitung des Korpskommandanten durften alle Generalstabsoffiziere einmal in der Dzamja (Moschee) der heulenden Derwische (Mitglieder eines muslimischen religiösen Ordens) bei einer Gebetsübung anwesend sein. Beim Eintritt in eine Moschee müssen alle Türken ihre Fußbekleidung im Vorraum ablegen; wir Offiziere bekamen große Filzpantoffel über unsere Schuhe. Wir sahen die Betenden, wie eine militärische Musterabteilung, in genau ausgerichteten Reihen, jeder Hintere auf den Vordermann gedeckt knien und die leeren Hände vor der Brust geschlossen, als ob sie ein Gebetbuch hielten. Es mochten etwa hundert Derwische gewesen sein. Gleich nach unserem Eintritt begann die Gebetsübung, indem der Iman, der an einem Tisch mit dem Gesicht zu den Betenden gewendet stand, langsam das Gebet sprach, das von den Andächtigen nachgesprochen wurde. Bei jeder Nennung „Allahs” neigten sich die Knieenden so nach vorne, daß sie mit der Stirne den mit Gebetteppichen belegten Boden berührten. Das Gebet wurde immer schneller und leidenschaftlicher gesprochen, so daß die Verneigungen der Betenden immer rascher wurden, wodurch sie nach etwa einer halben Stunde in eine pendelnde Bewegung des Oberkörpers und eine betende Ekstase kamen, in der man die einzelnen Worte des Gebetes nicht mehr unterscheiden konnte, sondern diese in verschieden modulierte langgezogene Töne übergingen, die man gut als Geheul bezeichnen könnte. Nach einer Stunde hörte das Beten mit einem Schlag auf, und die schweißtriefenden Derwische fielen erschöpft zu Boden, worauf wir Zuseher die Moschee verlassen mußten. Was in der Folge geschah, erfuhren wir nicht. Die Ordensregeln wurden den „Ungläubigen”, die wir Christen waren, nicht preisgegeben. Die Disziplin und Glaubenshingabe beeindruckte uns jedoch tief. Wir glaubten nun verstehen zu können, was es hieß, wenn Muslime zu einem Glaubenskrieg aufgerufen wurden.
Zwischen der autochthonen serbischen Bevölkerung und den Offizieren gab es keinen geselligen Verkehr. Die langjährige türkische Herrschaft hatte auf die Sitten der serbischen Bevölkerung eingewirkt. Die Frauen gingen wohl nicht verschleiert, aber ihre Männer hielten sie vom geselligen Verkehr mit Fremden fern. Für die Zurückhaltung dem Offizierskorps gegenüber trug auch das nationale Einigungsstreben des südslawischen Volkes bei, das in der öst-ung. Armee die Repräsentanz einer unerwünschten Zwangsherrschaft erblickte. Der serbische Einigungsgedanke hatte in besonderem Ausmaß die studierende serbische Mittelschuljugend ergriffen, die - so wie in Graz die deutschnationalen Studenten - ihrer Ablehnung Österreich-Ungarns offen Ausdruck gab. Und doch hatte die öst-ung. Besetzung Bosniens und der Hercegovina auf Grund des Mandates des Berliner Kongresses seit 1878 diesen Ländern eine zivilisatorische und kulturelle Entwicklung gebracht, die mir in ihrem staunenswerten Ausmaß erst so richtig sinnfällig wurde, als ich im I.Weltkrieg Alt-Serbien und Makedonien kennenlernte.
Das kleine Königreich Serbien mit seinen bloß zweieinhalb Millionen Einwohnern war durch die russisch-panslawistischen Bestrebungen gegenüber Österreich-Ungarn zu einem dauernden Unruheherd geworden, und die über die Grenze nach Bosnien greifende Unabhängigkeitsbewegung bezeichnete das Königreich Serbien oft als das „Piemont des Balkans”, was eine unauslöschbare Feindschaft zur öst-ung. Monarchie bedeutete.
Die 1907 in der Türkei offen zum Ausbruch gekommene Jungtürken-Bewegung, die die Verjüngung und Kräftigung des türkischen Staatswesens zum Ziel hatte, zwang Österreich-Ungarn - wollte es seine 30jährige Zivilisierung Bosniens und der Hercegovina nicht der von den Türken erstrebten Rückgliederung zum Opfer bringen - die Okkupation beider Länder durch ihre „Annexion” in eine definitive Eingliederung in die Monarchie umzuwandeln. Dieser Schritt löste nicht in der Türkei, die leicht zu versöhnen war, sondern im Königreich Serbien jenen Sturm ungezügelten Hasses aus, der sich bis zum Ausbruch des Weltkrieges immer mehr steigerte.
Diese politische Spannung trübte uns Generalstabsoffizieren den sonst so schönen und interessanten Aufenthalt in Sarajevo, weil wir die in diesem Erdenwinkel liegenden Gefahren für die Monarchie deutlich erkannten.
Im Frühjahr 1911 wurde ein Teil der Generalstabsoffiziere zur Rekognoszierung des vom Korpskommando für die großen Manöver in Aussicht genommenen Übungsgeländes eingesetzt. Diese Erkundungen betrafen besonders die Wegverhältnisse und die Wasserversorgung der Truppen. Die Wegverhältnisse zu erkunden war wegen der erstmalig den Truppen beigegebenen 10cm-Gebirgshaubitze notwendig, deren Fahrgestell auch im zerlegten Zustand einmeterbreite Wege erforderte. Die Wasserversorgung der Truppe im Karstgelände ist zumeist nur aus Zisternen möglich, in denen das karge Scheeschmelz- und Regenwasser gesammelt wurde. Sie erforderte die genaue Feststellung der Lage, des Fassungsraumes und Inhaltes der Zisternen. Ich bekam hiefür den Raum südlich vom Artillerieschießplatz Kalinovik in durchschnittlich 2000m Höhenlage (Lelja, Dumoš-Borac) und die Sutjeska Schlucht von Cemerno bis Foca zugewiesen. Da ich zu dieser Zeit nur ein Gebirgsreitpferd besaß, nahm ich ein Tragtier und zwei Soldaten von der Train-Eskadron mit, die abwechselnd das mit Zelten, Schlafsack, Lebensmitteln und einem Wasserfäßchen beladene Tragtier zu führen und mein eigenes Reitpferd zu warten hatten.
Die Erkundung dauerte etwa eine Woche und ließ mich nicht nur die zu überwindenden Schwierigkeiten, sondern die stellenweise fast noch unberührte urwaldähnliche Schönheit des bosnischen Landes erkennen. So lernte ich verstehen, daß viele Offiziere sehr gern in Bosnien dienten und öfter auf einen Garnisonswechsel verzichteten, um im Land zu bleiben. In den folgenden dreieinhalb Jahren habe ich viele ähnliche Erkundungen durchzuführen gehabt, die mich nach und nach das in seinen Naturschönheiten reizvolle Ländergebiet Bosnien-Hercegovina, Dalmatien, letzteres mit der grandiosen Bocche di Cattaro, den schönen Städten Ragusa, Spalato, Sebenico usw. gründlich kennenlernen ließen. Diese einsamen Ritte erbrachten mir aber auch eine umfassende Kenntnis fast aller in diesen Ländern garnisonierenden Truppen, ihrer Offiziere, ihrer Wohn- und Lebensverhältnisse, ihrer militärischen Kenntnisse und privaten Ambitionen. Es herrschte eine wunderbare Kameradschaft. Ich wurde in allen Garnisonen und auf allen Gendarmerieposten immer gern aufgenommen, gastlich versorgt und mit großem Erfahrungswissen beraten.
Nach Sarajevo heimgekehrt erlebte ich mit meinem Brigadekommandanten, GM.Nickel v.Opavár, eine heitere Geschichte: Der alte Herr war vom k.u.k. Kriegsministerium verständigt worden, daß er mit 1.Mai in den Ruhestand versetzt werden würde. Es war damals üblich, besonders tüchtige Truppenoffiziere, die nach 40 Dienstjahren pensionsreif wurden, des höheren Ruhegehaltes wegen noch zu Brigadieren und Generalmajoren zu machen. GM.Nickel wollte sich diesem Verfahren aber nicht fügen und fragte mich, nachdem er den „blauen Bogen” (das war die Verständigung von seiner bevorstehenden Ruhestandsversetzung) erhalten hatte, was ich ihm zu unternehmen rate, um im Aktivstand bleiben zu können; er fühle sich noch sehr rüstig. Was konnte ich ihm da raten? Ich schlug ihm vor, nach Wien zu reisen und sein Anliegen dem Kriegsminister Baron Schönaich vorzutragen. Was sich in Wien zugetragen hatte, habe ich nicht erfahren; GM.Nickel sagte mir bloß, es wäre gar nicht nötig gewesen zum Minister zu gehen, „man” habe ihm versprochen, daß er aktiv bleiben könne. Wer dieses „man” war, sagte er mir nicht. Er meinte weiter, daß er schon mit dem Korpsintendanten gesprochen habe, damit ihm weiter die Aktivitätsgebühren angewiesen würden. Der vorsichtige Intendantschef muß aber in Wien nachgefragt haben, weil dem armen GM.Nickel die Aktivitätsgebühren telegraphisch eingestellt wurden, was bald in allen militärischen Kreisen Sarajevos belächelt wurde. Nickel war wütend und schob seine Blamage natürlich dem bösen Generalstab zu. Er reiste ohne Abschied nach Budapest, das er als sein Ruhestandsdomizil gewählt hatte.
Sein Nachfolger wurde der mit 1.Mai zum Generalmajor ernannte bisherige Kommandant des bos-hcgov. Inf.Reg.Nr.1, das in Wien garnisonierte, Alfred Schenk, der aus dem Generalstab hervorgegangen war. Schenk war mit einer reichen Russin verheiratet und betrachtete Sarajevo nur als kurze Zwischenverwendung auf seinem weiteren Wege, was ja auch zutraf. Ich fand in Schenk jedenfalls einen sehr tüchtigen und wohlwollenden Vorgesetzten, der sich später im Weltkrieg als Divisionär und Korpskommandant auszeichnete. Seine Gemahlin, die eigentlich nie gut deutsch sprach, da die Unterhaltung in der Familie russisch erfolgte, kam zu längeren Besuchen nach Sarajevo; sie war eine sehr vornehme Frau, konnte sich aber keine Sympathien erwerben.
Der Spätsommer brachte die großen Manöver. Zuerst übten die Gebirgsbrigaden für sich, dann im Divisionsverband und schließlich im Korpsverband die 1. gegen die 48. Infanteriedivision. Am 18.August, dem Geburtstag Kaisers Franz Josephs, vereinigte sich das ganze XV.Korps zu einer großen Parade mit Feldmesse auf der Hochfläche von Kalinovik. Unter strahlend blauem Himmel auf vegetationsloser Karstfläche, die im Sonnenschein weiß leuchtete, ein ganzes Korps mit der 7., 8., 9., 10. und 12. Gebirgsbrigade zum großen Teil mit erhöhtem Friedensstand in einem großen Carré um den Feldaltar formiert, war in seiner herzerhebenden Schönheit und Machtfülle ein mir für mein ganzes Leben unvergeßlicher Eindruck geblieben, unvergleichlich schöner als alle Frühjahrsparaden in Wien!
Gleich nach Beendigung der Feldmesse rückten die Gebirgsbrigaden in ihre Versammlungsräume für die Divisions- und Korpsmanöver ab.
Bei den Übungen waren an Truppen und Stäbe große Anforderungen gestellt. Sie erbrachten imponierende Leistungen. Während der Manöver erfuhren wir auch den Wechsel der höchsten Führung in Bosnien-Hercegovina und Dalmatien. Der in den Ruhestand tretende Gen.Varešanin wurde in den Funktionen des Armeeinspektors und Landeschefs durch den langjährigen Stellvertreter des Chefs des Generalstabes und späteren Kommandanten des III.steirisch-küstenländischen Korps FZM Oskar Potiorek ersetzt. Diesem hohen General ging in der Armee ein großartiger, an Genialität reichender Ruf voraus.
Kurz nach der Rückkehr vom Manöver anfangs September wurde ich - für mich gänzlich unerwartet - zum Armeeinspektor versetzt. Das geschah offenbar auf Grund meiner vorzüglichen Kriegsschulerfolge und der gleichen Beurteilung meiner Vorgesetzten als Brigadegeneralstabsoffizier.
FZM Potiorek kam nur mit seinem Flügel- und Personaladjutanten, Generalstabsmajor Erich v.Merizzi, und Oberleutnant Baron Ditfurth. Der beim früheren Armeeinspektor als Generalstabschef tätig gewesene Obst.Lipošcak wurde zunächst ohne einen Nachfolger nach Agram versetzt. Das war die erste, den großen Ehrgeiz Mjr.v.Merizzi kennzeichnende Veränderung.
Wenn ich schreiben wollte, daß mich diese Versetzung irgendwie erfreut hätte, müßte ich unwahr werden. Gern wäre ich noch ein Jahr bei meiner Gebirgsbrigade geblieben, deren Truppen ich jetzt, nach den Manövern, erst richtig schätzen gelernt hatte.
Über Merizzis Wesen und Charakter wird später noch viel gesagt werden. Der Husaren-Oberleutnant Ditfurth war ein Mann, mit dem ich nie recht warm werden konnte. Hingegen war ein außerordentlich liebenswerter, aus Kärnten stammender Kanzleileiter, der Armeestandshauptmann Kautsky mitgekommen, dessen herzliches und vertrauensvolles Verhältnis zum Feldzeugmeister in der Folge von Merizzi systematisch zerstört wurde, worüber Kautsky und seine Gemahlin sich mir gegenüber wiederholt sehr beklagten. Ich konnte aber nichts dagegen tun, da Potiorek sich im Konak mit Merizzi und Ditfurth völlig von der Umwelt abschloß. Die drei wohnten und aßen dort gemeinsam.
Als ich mich zum ersten Mal beim Feldzeugmeister meldete, reichte er mir wortlos die Hand und ich war nach seinem Kopfnicken entlassen.
Potiorek legte das Schwergewicht seiner Tätigkeit auf sein Amt als Landeschef. Bisher hatte dort der alte Sektionschef Baron Benkõ, ein Ungar, regiert und dem militärischen Landeschef nur fallweise orientierend referiert. Das wurde nun ganz anders. Potiorek fuhr am Morgen täglich in die Landesregierung und übte dort sein Amt so intensiv aus, daß Baron Benkõ sehr bald zurücktrat. Für das Amt des Armeeinspektors blieb nur der späte Nachmittag, wodurch Merizzi eine von ihm heißerstrebte, entscheidend einflußreiche Position gewann, die die beiden Korpskommandos in Sarajevo und Ragusa bald vergrämte. Denn das Bestreben Merizzis war, den Korpskommandos viele ihrer bisherigen Befugnisse zu nehmen und beim Armeeinspektor, also maßgeblich durch ihn zu bearbeiten.
FZM Potiorek bereiste in der Folge seinen Verwaltungs- und Befehlsbereich in Begleitung von Merizzi und Ditfurth mit Bahn und Auto sehr häufig und schrieb über seine Beobachtungen als Landeschef persönliche Vormerkungen, während seine Wahrnehmungen militärischer Natur von Merizzi festgehalten wurden. Beide bekam ich regelmäßig zur Durchsicht und Veranlassung der Reinschrift mit der Schreibmaschine. Die persönlichen, die Landesregierung und Verwaltung betreffenden Aufzeichnungen des Feldzeugmeisters wurden, in mehreren Exemplaren vervielfältigt, der Landesregierung und in je einem Exemplar an den gemeinsamen Finanzminister, dem die bos-hcgov. Landesregierung unterstellt war, an die Militärkanzlei des Kaisers, an jene des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand im Belvedere, an den Chef des Generalstabes Baron Conrad und an den Kriegsminister gesendet, zu welch letzterem Ende 1911 der Kommandant des XV.Korps, GdI.v.Auffenberg ernannt worden war. In Sarajevo wurde der damalige Kommandant der 1.Infanteriedivision, FML v.Appel Kommandant des XV.Korps.
Ich las Potioreks persönliche Aufzeichnungen natürlich mit größtem Interesse. Sie erschienen klar und einfach, machten mir jedoch niemals den Eindruck „genialer” Wahrnehmungen. Die von Merizzi notierten militärischen Beobachtungen waren für mich viel interessanter: außerdem brachten sie mir meine eigentliche Arbeit, indem ich aus ihnen Weisungen an die Korpskommandos und Anträge an den Chef des Generalstabes und das Kriegsministerium zu verfassen hatte.
Mein Wirkungsbereich ergab sich dadurch von selbst: er umfaßte für Bosnien, Hercegovina und Dalmatien alle Aufgaben, die in Wien das Operationsbüro des Generalstabes für die ganze Monarchie zu bearbeiten hatte. Das gab mir einen weit über die Chargen eines Oberleutnants und späteren Hauptmanns hinausragenden Einblick in die verschiedensten Materien, aber auch frühzeitig eine für meinen Dienstgrad und mein Lebensalter fast übergroße Verantwortung. Das Arbeitsgebiet umfaßte nach und nach den Grenzschutz gegenüber Serbien und Montenegro, die Organisation und Ausbildung des XV. und XVI. Korps, ihre Dislokation, Bewaffnung, Ausrüstung, die Reichsbefestigung in diesem Gebiet, die Aufmarschkalkulation für den Krieg, die Oberleitung des Nachrichtendienstes, dadurch auch die Regelung des Zusammenspiels der in den nahen Grenzräumen garnisonierenden Truppen mit der dort befindlichen Gendarmerie, der Zollwache und den Militärpost- und Telegraphenämtern, den politischen Bezirksleitern und dadurch auch mit der Landesregierung.
Da ich eine gute Art fand, die militärischen Erfordernisse bei den zivilen Stellen zu vertreten, entsandte mich der Feldzeugmeister regelmäßig zur Aushandlung von Maßnahmen, die Geld erforderten, zu den Sektionschefs der von ihm geleiteten Landesregierung. Bei den Referaten meinte er dann trocken: „Das haben Sie gut gemacht, mir hätte das der Sektionschef nicht bewilligt.” Das war aber auch die einzige Materie, die ich Potiorek persönlich vorzutragen hatte. Ansonsten wurde ich und wurden später auch alle anderen nach und nach zum Armeeinspektor versetzten Referenten von Mjr.v.Merizzi ängstlich vom Feldzeugmeister ferngehalten, um ja nicht seinen Einfluß auf den hohen Chef zu gefährden. Regelmäßig hatte ich nur Merizzi zu referieren, der, an sich hervorragend befähigt und unermüdlich fleißig, bei der stilistischen Korrektur von Konzeptentwürfen oft aufreizend kleinlich wurde. Wir gewannen allmählich den Eindruck, daß er mit seinen Korrekturen unserer Entwürfe dem FZM Potiorek demonstrieren wollte, wie der Dienst ohne ihn und seine Tätigkeit überhaupt nicht befriedigend geleistet werden würde. Diese Referate bei Merizzi wurden mit der Zeit zu sehr ernsten Nervenproben der Referenten. Besonders ich fand es abscheulich, wenn er ein und denselben Bericht oder Antrag stilistisch umfrisierte, je nachdem das Exemplar für die Militärkanzlei des Kaisers oder für jene des Erzherzog-Thronfolgers bestimmt war.
Dazu kam eine uns nach und nach widerlich werdende, auffällig zur Schau gestellte Bigotterie Merizzis. Man mochte schon an seine tiefe Religiosität glauben; daß er jedoch, wann und wo immer er dem Franziskanerprior Mišic begegnete, diesem mit einer tiefen Verbeugung die Hand küßte, fanden wir überflüssig. Wenn Prior Mišic in die Büros des Armeeinspektors kam, was mit der Zeit häufiger wurde, hörte jedes, auch das wichtigste und dringendste Referat bei Merizzi auf: er eilte Mišic auf den Gang entgegen, küßte ihm die Hand, und wir mußten warten, bis der gute Prior wieder gegangen war, was oft lange Zeit dauerte. Auch da gewann ich den Eindruck, daß diese Devotion Merizzis so überbetont wurde, damit seine fromme Katholizität dem Erzherzog-Thronfolger berichtet würde, dessen Ergebenheit in die katholische Kirche ja bekannt war.
Hier und in der Folge lege ich viele Einzelheiten über den Charakter und das Verhalten von Merizzi dar, weil ich den Ausfall dieses Mannes bei Kriegsbeginn 1914 im Stab Potiorek für eine wesentliche Ursache halte, daß der Feldzug 1914 in Serbien von uns verloren wurde.
Der große Arbeitsumfang brachte für mich eine Umstellung aller Lebensgewohnheiten. Nachdem ich für kurze Zeit in meinen Büroraum ein Bett stellen ließ, um dem fast nie abreißenden Dienstbetrieb auch in der Nacht genügen zu können, fand ich schließlich wieder bei einem Eisenbahnbeamten am Miljacka-Ufer, nahe dem Kanzleigebäude und nahe der Franz Joseph-Kaserne, in der meine Pferde standen, übrigens ganz nahe der Straßenecke, an der 1914 Erzh.Franz Ferdinand und seine Gemahlin ermordet wurden, ein gutes, im Parterre gelegenes möbliertes Zimmer, das ich erst im Krieg aufgab.
Während der drei Jahre, die ich in Sarajevo beim Armeeinspektor verbrachte, gestaltete sich der Tagesablauf mit unveränderter Regelmäßigkeit. Am Morgen halb 6h bis 7h Reiten, 7h bis 8h Waschen und Frühstücken, 8h bis 12h30 Büroarbeit. 12h30 bis 13h30 Mittagessen im Generalstabskasino, 13h30 bis 20h Büroarbeit, dann Abendessen im Generalstabskasino mit anschließenden Gesprächen im Kameradenkreis, halb 10h nach Hause und Schlafen. Donnerstags entfiel das Reiten wegen der gründlichen Pferde- und Stallpflege, die ich immer kontrollieren ging, wonach ich am Kai bis zu Bürobeginn einen Spaziergang machte. Am Sonntag schlief ich etwas länger, ging dann in die Kirche, Besuche machen und ins Generalstabskasino essen; nachmittags kurze Ruhe daheim, dann folgte meist eine Tee-Einladung bei verheirateten Kameraden, und abends trafen wir uns, da die Köchin des Kasinos frei hatte, abwechselnd im Hotel Zentral oder im Hotel Europa.
Das erstere war von einem ungarischen Juden bewirtschaftet, das zweite gehörte dem steinreichen serbischen Politiker Gligorie Jeftanovic, der einen Sohn hatte, der in Wien an der Universität studierte, und eine wenig reizvoll scheinende Tochter, die allerdings nach ihrer Eheschließung mit dem Advokaten Srškic zu einer sehr schönen Frau erblühte. Da Jeftanovic der Führer der radikalen, gegen die Monarchie arbeitenden Serben war, grüßten wir diesen vom Kaiser mit dem Kronen-Orden ausgezeichneten Mann und seine Familie mit betont kühler Zurückhaltung und nachtmahlten auch öfter im Hotel Zentral als in seinem. Ihn ganz zu meiden wäre gegen die auch von Wien aus gewünschte Tendenz gewesen, die feindlich gesinnten Elemente durch besondere Nachsicht und Entgegenkommen zu versöhnen. Als der junge Erzh.Karl mit seiner vor kurzem in den Ehebund getretenen Gemahlin Zita für eine Nächtigung anfangs Dezember 1911 nach Sarajevo kam, wurde für ihn in Jeftanovics Hotel Quartier gemacht. Ich sah das junge Paar nur flüchtig bei der Abreise nicht ahnend, wie bald es Kaiser und Kaiserin werden würde.
Anstelle des mit Auffenberg nach Wien abgegangenen Obst.v.Boog war Obst.Michael Mihaljevic Korpsgeneralstabschef geworden, ein ruhiger Junggeselle, des Serbischen und Kroatischen vollkommen mächtig, aufrichtig und sehr entschieden in allen Äußerungen. Er speiste täglich mit uns im Generalstabskasino. Ohne ihm direkt unterstellt zu sein gewann ich bald sein Wohlwollen, was für mich wichtig war, da die Maßnahmen Merizzis oft zu Kritiken führten, die für mich sehr peinlich anzuhören waren. Mihaljevic nahm mich da oft in Schutz, wohl erkennend, daß die Schuld nicht bei mir, sondern bei Merizzi und Potiorek lag, die er beide garnicht schätzte. Als wiedereinmal in der serbischen Zeitung eine abfällige Kritik über den Landeschef zu lesen war, sagte Mihaljevic zu mir: „Kein Wunder, wenn man einen Mann als Landeschef hersendet, der nicht einmal die Landessprache kann!” FZM Potiorek stammte aus Kärnten und sprach leidlich slowenisch; er lernte sehr eifrig serbisch, aber natürlich war das für einen bejahrten Mann nicht leicht und konnte die autochthonen Politiker nicht befriedigen. Das Sprachstudium neben dem laufenden Dienst war eine schwere Sache. Das empfand ich aus eigener Bedrängnis, denn nach meiner Ernennung zum Generalstabshauptmann am 1.November 1912 hatte ich mich dem Studium einer ausländischen Sprache zu widmen und nach zwei Jahren darüber in Wien eine strenge Sprachprüfung abzulegen. Ich hatte Bulgarisch gewählt und lernte wohl fleißig; aber bei meinem mangelnden Sprachentalent wäre mir die strenge Sprachprüfung im Herbst 1914 sicher sehr schwer gefallen. Der inzwischen ausgebrochene Krieg ersparte mir die gefürchtete Prüfungsblamage.
Vor meiner Übernahme ins Generalstabskorps wurde ich im Frühjahr 1912 zu einer „kleinen Generalstabsreise” eingeteilt, die Obst.Göttlicher führte und in einer sehr geschickten Anlage die Grenze der Monarchie so annahm, daß die Festung Peterwardein von Norden anzugreifen war, was eine einem Angriff auf Belgrad angenäherte Lage schuf. Da die Pferde zur Reise mitzunehmen waren, erfolgte die Einrückung nach Sarajevo als Distanzritt. Ich wählte dazu den Weg über Tuzla, das Standort der 11.Gebirgsbrigade war und weiter über Kladanj-Romanja planina. Das waren von der Übungsendstation Brcko an der Save rund 190 km, die in drei Tagen zu reiten waren, was bei 1000 m Höhenunterschieden eine ganz respektable Leistung ergab.
In Tuzla verbrachte ich den Abend in der Wohnung des Generalstabsoffiziers der 11.Gebirgsbrigade, Oblt.Paschek, einem feingebildeten Ur-Wiener, der sich in seine Wohnung sogar sein von Wien mitgenommenes Klavier hatte stellen lassen. Wir sprachen viel über Musik. In Wien war damals gerade der «Rosenkavalier» von Richard Strauß an der Oper die große und vielumstrittene Novität. Ich war noch nicht auf Urlaub gewesen, aber Paschek hatte die Oper gesehen und sie - ohne Begeisterung - gut genannt. Er spielte mir die für Strauß besonders charakteristischen Stellen vor und erläuterte mir die damals noch als Dissonanzen aufgefaßten Stellen. Darüber war ich sehr froh, denn in Sarajevo war der kulturelle Mittelpunkt das Haus des beim Korpskommando eingeteilten Majors des Generalstabes Lassy, auch einem Wiener, verheiratet mit einer Wienerin, deren bei ihr wohnende Schwester ganz der neuen Musik ergeben war. Dort hörte ich die ersten begeisterten Meinungen über den Rosenkavalier. Da Lassys kinderlose Frau und deren Schwester als übermodern galten, war ich deren Urteil gegenüber skeptisch und darum sehr dankbar, von Paschek Erläuterungen gehört zu haben. Er kam bald von Tuzla weg, als Lehrer an die Wiener Neustädter Akademie. Als ich 1932 Vorstand der I.Abteilung im Ministerium wurde, fand ich ihn dort als Referenten für Organisation wieder, stark gealtert und übernervös geworden. Es war ein herzliches Wiedersehen nach langen Jahren. Während ich dann in Berlin war, ist Paschek pensioniert worden und bald darauf gestorben; das ging mir nahe, weil ich ihn sehr geschätzt habe.
Inzwischen hatte ich von Obst.Mihaljevic die sehr gute ungarische Halbblutstute „Ada” gekauft, die ich in der Folge meist selbst ritt, während mein Pferdewärter auf dem Gebirgspferd folgte. Viele Ritte führten mich durch ganz Bosnien, Hercegovina und Dalmatien. Sie galten entweder der Manöverrekognoszierung, da ja der Armeeinspektor die Anlage der Truppenübungen an sich gezogen hatte und ich der Truppenübungsreferent war, zu Straßenerkundungen oder Details für die Befestigungsanträge Potioreks.
Kurze Urlaube führten mich nach dem herrlich gelegenen Ragusa und - auf kleinen Handelsschiffen fahrend - an alle die herrlich gelegenen Küstenorte und ihre vorgelagerten Inseln. Zum Besuch meines greisen Vaters und meines Bruders nach Wien bin ich während meiner vierjährigen Garnisonierung in Sarajevo meiner Erinnerung nach nur einmal uzw. über Triest gekommen. Die Fahrt mit der Eisenbahn von Sarajevo über den Ivan-Sattel und Mostar nach Castelnuovo oder Trebinje steht an Schönheit der Südbahnstrecke nach Triest kaum nach. Das von der Trebincica durchflossene Popovo polje hat mich einmal sehr genarrt: Bei einer Fahrt im Winter war es völlig überflutet wie ein Stausee; als ich dann einmal im Sommer das große Wasser suchte, fand ich statt dessen eine schwer Frucht tragende Senkung. Ich hatte erstmals nicht an das Verschwinden und plötzliche Wiederauftauchen der Flüsse im Karst gedacht und war recht beschämt, als mir ein mitreisender Kamerad darauf einen langen Vortrag über die Gewässer am Karst hielt. Das Ganze ist ein wunderschönes Land, das stets wechselnde Überraschungen bereit hatte.
Dabei lernte ich auch viel prächtige Menschen kennen, von denen ich zwei als besondere Typen festhalten möchte: Da war in Trebinje der Kommandant einer Gebirgsartillerieabteilung, Hauptmann und bald nachher Major Veith, ein Schlangen-Erforscher von besonderer Qualität und zugleich ein Forscher Alt-Roms mit seinen grandiosen Straßenbauten quer durch den Balkan nach Kleinasien; jeder seiner Urlaube galt Forschungsreisen. Einen Abend mit ihm sprechen zu können, war ein Genuß. Ein Original ganz anderer Art war östlich Mostar auf der Hochfläche von Ulok Obrija der Kommandant eines Bataillons vom Inf.Rgt.Nr.35 aus Pilsen, Hptm.Kuk. Der legte größten Wert auf gutes Essen; für besondere Gäste, zu denen er mich zählte, kochte er selbst ganz hervorragend. Dazu servierte er einen selbstgezogenen Forellen-Häuptelsalat, dessen Blätter wirklich blaßrote Tupfen hatten und der von einer reschen Mürbheit war, wie ich ihn vor- oder nachher niemals gegessen hatte. Dazu gab es natürlich Pilsner Urquell in brauhausgerechter Temperatur. Sein Gemüsegarten war eine Sehenswürdigkeit.
Die Heimkehr von solchen Touren nach Sarajevo in den unerbittlichen Bürodienst fiel mir immer wieder schwer. Obwohl Mjr.v.Merizzi für seine unterstellten Offiziere eigentlich ein wohlwollender Chef war, der stets bemüht war, uns finanzielle Zuwendungen wie auch ab und zu Einladungen durch FZM Potiorek an dessen Mittagstisch zu verschaffen, konnte ich mich in meiner mir einen unwahrscheinlich großen Wirkungskreis bietenden Stellung doch nie recht wohlfühlen. Der Grund dafür war die immer wieder aufbrechende Erkenntnis, daß Potiorek wie Merizzi ihren Anträgen und Berichten sehr oft mehr ihr persönliches Geltungsbedürfnis zugrunde legten. Dazu kam das Bestreben, dem alten Kaiser und dessen Militärkanzlei ebenso zu gefallen, wie sich bei Thronfolger Erzh.Franz Ferdinand und dessen Militärkanzlei im Belvedere in besonders gute Position zu setzen. Angesichts des wenig guten Verhältnisses zwischen Thronfolger und Kaiser scheuten sich Potiorek und Merizzi nicht, Berichte verschieden einzubegleiten. Ein solches Doppelspiel konnte ich nie verstehen, es war mir einfach widerlich.
Auch das Verhältnis Potioreks zu dem von uns verehrten Chef des Generalstabes, Baron Conrad, war für mich bedrückend. Potiorek war durch lange Jahre bis 1906, da Conrad und nicht er Chef des Generalstabes wurde, unter FZM Beck Stellvertreter des Chefs des Generalstabes gewesen und hatte so auf alle Fragen der Heeresbewaffnung und der Reichsbefestigung unmittelbaren Einfluß gehabt. Den beim Armeeinspektor eingeteilten Geniestabshauptmann Benda und mich ärgerte es, wenn Potiorek jetzt von Sarajevo aus Änderungsanträge für den laufenden Ausbau der Befestigungen stellte, die große Konferenzen in Wien erforderten und so alle in Gang befindlichen Bauarbeiten aufhielten.
Ein besonderes Beispiel bietet die Gebirgsgeschützfrage: Wir hatten noch Gebirgsgeschütze aus dem Jahr 1875, die nur bis 3 km schossen, und wußten, daß die Serben französische Schneidergeschütze mit einer Schußweite 7,5km hatten. Die Neubewaffnung unserer Gebirgsartillerie war daher angesichts der drohenden politischen Lage dringenste Notwendigkeit. Der Energie Conrads war es gelungen, das hervorragende Gebirgsgeschütz der Škoda-Werke erprobungsreif zu machen. Wir sahen diese Erprobungsbatterien durch Wochen auf Märschen im schwierigsten Gelände klaglos vorwärtskommen und auf dem großen Schießplatz Kalinovik brilliante Schieß- und Treffresultate erzielen. Die Reichweite entsprach den serbischen Kanonen. Natürlich mußte dieses hervorragende, moderne Geschütz mehr Traglasten haben als die gänzlich veraltete bisherige Gebirgskanone, die mit drei Tragtieren auskam; es waren sieben Tragtiere erforderlich. Potiorek oder Merizzi wollte ein Gutachten ausarbeiten lassen, das die Konstruktion wohl lobte, aber eine Umkonstruktion auf bloß fünf Traglasten verlangte, weil bei sieben Lasten die Möglichkeit des Absturzes eines Tragtieres größer sei als bei fünf. So ein sinnlos dummer Antrag mußte angesichts der hohen Stellung des Feldzeugmeisters Anlaß zu neuen Konferenzen, Besprechungen, Konstruktionsversuchen usw. geben, somit die Einführung des neuen Geschützes um mindestens ein Jahr verzögern.
Bei Merizzi, der ja selbst der Artillerie entstammte, brachte ich alle ernsten Gründe gegen einen solchen Antrag vor, weil man dem stärksten Tragtier doch nicht mehr als 70 kg aufladen könne. Das Ganze wäre nur eine unverantwortliche Verzögerung der Bestrebungen des Chefs des Generalstabes, worauf Merizzi süffisant lächelnd meinte, das solle es ja sein. Darauf bekam ich so eine Wut, daß ich ihm die Rapportmappe mit der Bemerkung auf den Tisch schmiß, mich zu so einer Infamie nicht herzugeben, und sein Zimmer kochend verließ. Darauf ging ich ich essen und spazieren. Als mein Kopf wieder klar wurde, überdachte ich das Geschehene und sah die Folgen vor mir: Ende der Generalstabslaufbahn; gerichtliche Untersuchung; Bestrafung wegen ungebührlichen Benehmens gegenüber einem Vorgesetzten usw. Ich dachte schließlich, daß das nichts ausmache und ich bei einem Bataillon in Bosnien gern eine Kompanie führen werde; denn das Erzählte spielte sich erst ab, als ich schon in das Generalstabskorps übernommen und Hauptmann geworden war. Am nächsten Tag ging ich wie gewöhnlich reiten und dann ins Büro. Ich hatte mit niemand über den Vorfall gesprochen und wartete der Dinge, die jetzt kommen mußten.
Als bei mir die Klingel erscholl, die mich zu Merizzi berief, ging ich zu ihm ohne Rapportsmappe, denn die war ja gestern auf seinem Tisch geblieben. Merizzi saß an seinem Schreibtisch, sah mich an und fragte ungefähr, ob ich einsehe, mich am Vortag ungebührlich benommen zu haben. Das mußte ich bejahen, worauf Merizzi sagte, daß damit die ganze Sache erledigt sei. Ich dachte, daß damit auch der das neue Gebirgsgeschütz verzögernde Antrag gefallen war und sagte ein ehrliches und frohes Danke. Es wurden weitere dringende Arbeitsgebiete meines Ressorts besprochen, ohne daß das neue Gebirgsgeschütz Erwähnung fand. Erst als ich nach Wochen in der Registratur einen Akt suchte, fand ich durch Zufall das Gutachten von Merizzis eigener Hand so geschrieben, wie ich es abgelehnt hatte. Wie vorausgesehen fanden neue Besprechungen in Wien zwischen Kriegsminister, Chef des Generalstabes, Artillerieinspektor, technischem Militärkomittee und den Škoda-Werken statt, dann neue Versuche mit dem Resultat, daß eine Änderung ohne Herabsetzung der Qualität des Geschützes nicht durchführbar wäre, weil ein Tragtier eben nicht mehr als 70 kg tragen konnte. Die Folge war eine nur allzu berechtigte Verärgerung des Artilleriestabes und des Chefs des Generalstabes über die sinnlose Verzögerung der Serienerzeugung des Geschützes und seiner Einführung bei der Truppe. Als der Krieg 1914 plötzlich ausbrach, mußten wir mit dem alten, völlig unzureichenden Gebirgsgeschütz in den Kampf treten, und es wurde erst nach zweijähriger Dauer möglich, das hervorragend entsprechende neue Škoda-Geschütz in ausreichender Zahl und mit genügend Munition an die Front zu bringen. Dieses Geschütz ist übrigens bis heute unübertroffen und hat auch im zweiten Weltkrieg sehr gut entsprochen.
Ich bin den Ereignissen, die zu erzählen sind, weit vorausgeeilt. Nun muß ich zum Frühjahr 1912 zurückkehren, also zur Zeit, da ich als dem Generalstab zugeteilter Oberleutnant von der kleinen Generalstabsreise in Syrmien nach dem Distanzritt über Tuzla nach Sarajevo zurückgekehrt war.
Zu dieser Zeit wurde auch bekannt, daß GM.Böltz, der bisherige Kommandant des Wiener Inf.Rgt.Hoch-u.Deutschmeister Nr.4 zum Generalstabschef des Armeeinspektors in Sarajevo bestimmt worden sei und so zu FZM Potiorek kommen sollte, wie vorher Obst.Lipošcak bei GdI.Varešanin gewesen war. Das hing auch mit den Nachrichten zusammen über einen von Russland geförderten Balkanbund, der aus Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland gebildet werden sollte. Es war zunächst noch nicht klar, ob dieser Balkanbund direkt als Vollendung der von England und Frankreich betriebenen Einkreisung Österreich-Ungarns und Deutschlands gelten oder eine andere Zweckbestimmung haben sollte. Es galt, auf der Hut zu sein, was Merizzi veranlaßte, auch die oberste Leitung der Mobilisierungsvorsorgen des XV. und XVI. Korps an das Armeeinspektorat heranzuziehen und als Referenten den bisherigen Generalstabsoffizier der 8.Gebirgsbrigade in Foca, Hptm.Prich, der schon für das Operationsbüro in Wien in Aussicht genommen war, zu uns einteilen zu lassen. Das war ein sehr tüchtiger, mit einem Bienenfleiß begabter Mann und ein guter Kamerad.
Schon etwas früher war von der Geniedirektion in Sarajevo der körperlich sehr kleine, aber hervorragend begabte Hptm.Benda zu uns gekommen, der Merizzis Arbeitsweise sofort erkannte und deshalb nur ungern bei uns tätig wurde. Er entlastete mich durch teilweise Übernahme der vielen von Potiorek-Merizzi gestellten Befestigungsanträge, mit denen er vielfach nicht einverstanden war. Er und ich hatten unsere Bürozimmer unmittelbar nebeneinander; sie waren durch eine Tür verbunden. Benda war an Dienstrang und Erfahrung bedeutend älter als ich. Bei Verfassung der befohlenen Neuanträge der Befestigungen von der Bocche di Cattaro, Trebinje, Bileca und Višegrad hatte ich den operativ-taktischen Teil, er die technischen Einzelheiten zu bearbeiten. Ich konnte dabei sehr viel von ihm lernen.
Auch ein Intendanturbeamter namens Malczek war zu uns versetzt worden, der vornehmlich die Mobilisierungsarbeiten von Hptm.Prich zu unterstützen hatte.
Sehr wichtigtuend und alle sanitären Vorbereitungen für ungenügend erklärend, hatte sich der in Sarajevo irgendwo tätig gewesene jüdische Regimenstarzt Dr.Hochmann an Merizzi herangetan. Jedem von uns dichtete er eine Krankheit an, die nur er heilen könne. Während dieser ungebeten zudringliche Mann Benda, Prich, Malczek und mir immer lästiger wurde, verstand er es, sich beim offenkundig hypochondrisch veranlagten Triumvirat Potiorek-Merizzi-Ditfurth nach und nach so unentbehrlich zu machen, daß er schließlich auch zum Armeeinspektor versetzt wurde. Um diese Persönlichkeit gleich fertig zu schildern, sei gesagt, daß er sich im Frieden und Krieg bei Potiorek und später auch bei Erzh.Eugen so unentbehrlich zu machen verstand, daß er fast täglicher Gast an dem Tisch dieser Persönlichkeiten wurde. Als ich nach dem Krieg Stabschef der 3.niederösterreichischen Brigade wurde, fand ich diesen Mann als kommunistischen Arzt in Krems wieder. Alle seine Bestrebungen, sich im Bundesheer eine besondere Position zu erwerben, habe ich verhindert. Später verlor ich diesen Mann aus den Augen.
Anderseits gelang es Mjr.v.Merizzi, die unmittelbare Einteilung des GM.Böltz als Generalstabschef zum Armeeinspektor zu verhindern und so seine selbständige Stellung und seinen großen Einfluß auf Potiorek ungeschmälert zu erhalten. GM.Böltz blieb wohl als Generalstabschef Potioreks für den Kriegsfall designiert, wurde aber für die Friedenszeit zum Kommandanten der 10.Gebirgsbrigade in Sarajevo ernannt. Logisch konnte man erwarten, daß Böltz über alle Arbeiten beim Armeeinspektor laufend und eingehend unterrichtet werden würde, um im Kriegsfall das Amt des Generalstabschefs wohl vorbereitet antreten zu können. Das Gegenteil trat ein: Merizzi verhinderte nicht nur jede nähere Bekanntschaft zwischen den beiden Generälen, sondern wußte immer auch GM.Böltz sehr rasch hinauszukomplimentieren, wenn dieser zur Orientierung unsere Büros betrat. Die Folge war, daß Böltz leider nicht um Enthebung von seiner Kriegsfunktion bittlich wurde, sondern sich in lauter Kritik seiner Behandlung vor jedermann erging, was weder seinem Ansehen, noch jenem des Armeeinspektors und dessen Flügeladjutanten dienlich war. GM.Böltz, wie GM.Schenk mit einer Russin verheiratet, beklagte sich über seine Behandlung oft bei mir, weil ich der Referent für Grenzschutz und Aufmarsch war. Dies trug ich Merizzi mit der Frage vor, ob sich sein Verhalten gegenüber Böltz vielleicht auf Mißtrauen gegenüber Böltz wegen dessen russischer Gemahlin gründe; für diesen Fall riet ich ihm, Potiorek doch zur Antragstellung um eine andere Persönlichkeit als Böltz zu veranlassen. Das wollte Merizzi durchaus nicht und meinte, Böltz sei ihm gerade recht, weil er durch seine vierjährige Kommandoführung über ein Infanterieregiment dem Generalstab entfremdet sei und ihm weniger dreinreden könne. Ich solle aber Böltz - soweit ich es für notwendig halte - orientieren und ihn ihm vom Leib halten.
FML v.Appel, der Kommandant des XV.Korps, war auch ein großer Schimpfer auf das ganze Armeeinspektorat und fing mich an Reitrasttagen, wenn ich am Kai spazieren ging, oft ab, um seinen Mißmut an mir zu kühlen. Ich berichtete Merizzi auch davon und bekam von ihm die ihn vielleicht am besten charakterisierende Antwort: er wisse vom Schimpfen, werde jedoch diesem und anderen Schimpfern nie direkt entgegentreten, sondern kenne die Wege, wie er diesen Herren hintenherum schaden könne. Darüber erfaßte mich ein grenzenloser Ekel vor Merizzi, der in der Folge mit meiner Bewunderung seiner überragenden Geistes- und Gedankenschärfe im Kampf lag und mir so das Dienen in Sarajevo schwer und freudlos machte. Da Conrad inzwischen demissioniert hatte und dessen Nachfolger Schemua mir ganz unbekannt und nach seiner Photographie auch unsympathisch war, unterließ ich es, um Wegversetzung vom Armeeinspektor zu bitten. Dagegen orientierte ich Böltz in der Folge über das Wichtigste meiner Arbeiten, was er gern annahm und was nach und nach ein großes Vertrauensverhältnis zwischen Böltz und mir schuf, das in den Krieg hinein währte.
Die dauernden Nachrichten über serbische und montenegrinische Mobilisierungen veranlaßten Potiorek zur wiederholten Antragstellung, auch seine öst-ung. Streitkräfte zu mobilisieren. Wenn auch die Nachrichten sich immer mehr verdichteten, daß der Balkanbund gegen die durch Revolution und unfertige Verwaltungsänderungen der Jungtürken geschwächte Türkei losschlagen wolle, so konnte man bei der feindlichen Stimmung Serbiens nicht wissen, ob und wann sich diese Kräfte auch gegen Bosnien wenden würden. Den Anträgen wurde Folge gegeben, und es begann auf der einzigen schmalspurigen Eisenbahn der langwierige Antransport der Reservisten, was für uns mit der Unterbringung und Versorgung dieser Massen eine große Mehrarbeit erbrachte.
Inzwischen waren die Armeen des Balkanbundes gegen die Türken losgebrochen, die sie nach schweren Kämpfen durch Serben, Montenegriner und Griechen aus ganz Makedonien warfen und Saloniki eroberten. Die gegen Konstantinopel vordringenden Bulgaren gelangten fast in einem Zug bis Adrianopel, das sie aber nicht erobern konnten: dort hatten sich die türkischen Kräfte zu unüberwindlichem Widerstand festgesetzt.
Von diesen Kriegsereignissen wurden wir unmittelbar nur durch den Übertritt eines türkischen Infanterieregimentes nach Bosnien betroffen, das aus dem Sandschak-Novi Pazar von Serben und Montenegrinern herausgedrängt keinen Anschluß an die türkische Armee mehr finden konnte. Ich war zu den Übergangsverhandlungen entsendet worden, die keinerlei Schwierigkeiten bereiteten. Das Regiment wurde entwaffnet und über Sarajevo in die Monarchie abtransportiert. Das Aussehen und die Haltung des Regimentes war gut.
Der unerwartet rasche Erfolg des Balkanbundes rief bald die großen Mächte zur Friedensstiftung zwischen ihm und der Türkei auf. Sie gelang auch verhältnismäßig leicht, da die Türkei bald zum definitiven Verzicht auf die verlorenen Gebiete zu bewegen war. Sehr viel schwieriger war aber die Teilung der Beute innerhalb des Balkanbundes und die Durchsetzung der öst-ung. Forderung nach Schaffung eines unabhängigen Albaniens, das den Serben den erstrebten freien Zugang zur Adria verwehren sollte.
Diese öst-ung. Politik war und blieb mir ganz unverständlich: unsere kroatisch-dalmatinische Küste war ganz von Kroaten und Serben bewohnt, die ein hervorragendes Personal für unsere Marine waren und auch im dalmatinischen Inf.Rgt.22 nie Anlaß zur Klage gaben. Außer Montenegro, das aus dynastischem Interesse für Italien Sympathien hatte (eine montenegrinische Prinzessin war italienische Königin), standen die südslawischen Völker schon seit der venezianischen Herrschaftszeit gegen die Italiener. Meinem Denken nach hätte ein Heranlassen Serbiens an die Adria den widerlichen Anspruch der Italiener „Adriatico mare nostro” weit mehr getroffen als uns. Ein Königreich Albanien hielt ich weit mehr im italienischen als in unserem Interesse gelegen. Doch dazu hatten wir nichts zu sagen; die Politik wurde vom Außenministerium in Wien geleitet. Unsere Aufgabe war lediglich, den von der Politik gesäten Haß mit ungenügenden Mitteln zu ernten.
Der um die Teilung der Beute innerhalb des Balkanbundes ausgebrochene Streit, in den sich noch Rumänien mit dem Verlangen nach der von den Bulgaren eroberten Dobrudscha mengte, schloß eine Bedrohung der Monarchie aus, so daß die kostspielige Standeserhöhung unserer Truppen wieder rückgängig gemacht werden konnte.
Der Herbst 1912 brachte nebenbei für mich zwei freudige Ereignisse: Mein Bruder Heinrich hatte geheiratet und machte seine Hochzeitsreise über Sarajevo und Ragusa-Spalato-Triest. Ich konnte ihn gut im Hotel Europe unterbringen, ihm aber im Drang der Amtsgeschäfte nur wenig Gesellschaft leisten. Zwei schöne wertvolle Perserteppiche hatte ich ihm als Hochzeitsgeschenk schon früher gesendet. Die Familie Lettner, aus der er seine Frau erwählt hatte, war ihm durch mich bekannt geworden, da ich mit dem Bruder seiner nunmehrigen Frau vier Jahre gemeinsam in guter Kameradschaft in der Kadettenschule verbracht hatte. Seine Frau Wilma lernte ich erst in Sarajevo kennen.
Das zweite für mich sehr bedeutsame Ereignis war meine am 1.November erfolgte Beförderung zum Hauptmann bei gleichzeitig definitiver Übernahme ins Generalstabskorps. Damals zählte ich 28 Jahre und dreieinhalb Monate und hatte dieses von vielen so heiß erstrebte Ziel als jüngster meines Kriegsschuljahrganges erreicht. Große Freude empfand ich über die Anerkennung, welche mein ehrliches Bemühen, aus mir das Beste für den kaiserlichen Dienst herauszuholen, in vielseitigsten Prüfungen gefunden hatte. In diese Zeit waren auch die vielen Besprechungen mit Merizzi über die operative Bereitstellung der Truppen unseres Befehlsbereiches für den Fall eines serbischen Einbruches nach Bosnien mit dem Ziel einer Eroberung Sarajevos gefallen. Grundgescheit vertrat Merizzi im Gegensatz zu vielen anderen Auffassungen die Meinung, daß gegenüber Montenegro nur ein Minimum (etwa in der Bocche di Cattaro die 14.Gebirgsbrigade) und im Raum Nevesinje-Avtovac die 3.Gebirgsbrigade zu belassen wäre. Alle anderen Truppen des XVI.Korps wären nach Bosnien an jene des XV. so heranzuziehen, daß sie um das Hochplateau der Romanja planina gruppiert würden. Da diese Versammlung mit der Bahn über Mostar-Sarajevo viel Zeit erfordere, solle man nicht nervös werden, sondern Višegrad notfalls freigeben und die eingebrochenen Serben in einer Einkreisungsschlacht um Rogatica-Sokolac vernichten.
Tatsächlich kam es dann im Krieg - allerdings unter anderen Bedingungen - zu einer Schlacht auf der Romanja planina, in der etwa 20 über Višegrad eingebrochene serbische Bataillone geschlagen und aus Bosnien vertrieben wurden. Doch darüber später.
Jedenfalls wurde in dieser Zeit mit den Arbeiten für eine planmäßige Heranführung des XVI.Korps im Kriegsfalle in den Raum bei und südöstlich Sarajevo begonnen. Diese Aufgabe in Zusammenarbeit mit dem Eisenbahn-Linienkommandanten in Sarajevo oblag mir.
Ende 1912 mußte ich nach Wien zu einer vom Evidenzbüro des Generalstabes einberufenen Besprechung aller Nachrichtenoffiziere. Man hörte da allerlei Interessantes. Mein Hauptanliegen war aber die Neueinteilung eines eigenen Nachrichtenoffiziers zum Armeeinspektor zu betreiben, weil ich diese, mir übrigens auch garnicht liegende Arbeit neben meinen vielen anderen Aufgaben nicht zufriedenstellend leisten konnte. So wurde der schon etwas ältere Generalstabsoffizier Hptm.Broz zu uns eingeteilt, der die gesamte Nachrichtenerbringung und die Spionageabwehr übernahm. Broz war Kroate, beherrschte die südslawischen Sprachen vollkommen und entsprach sehr gut; obendrein war er ein guter Kamerad.
Um diese Zeit hatte auch, nach dem Tode des Außenministers Baron Ährenthal, FM Conrad wieder die Leitung des Generalstabes übernommen.
Die gesteigerten Arbeiten, welche durch die Standeserhöhungen bedingt waren, hatten Merizzi veranlaßt zu seiner Entlastung um die Einteilung eines zweiten Stabsoffiziers zu bitten. Es kam da ein Mjr.v.Fritsch, welcher jedoch, mit den Verhältnissen in Bosnien-Hercegovina und Dalmatien gänzlich unvertraut, bald wieder nach Wien zurückversetzt wurde. Sein Nachfolger, ein Mjr.Krajcsa, konnte sich auf die Dauer mit Merizzi nicht verstehen. Endlich wurde in Mjr.Wachtel, ein gescheiter, fachlich kompetenter Stabsoffizier gefunden, der sich bei Merizzi und später auch bei FZM Potiorek gut einschmeicheln konnte, dessen Einfluß aber, besonders nach dem noch zu beschreibenden Ausfall Merizzis, verderblich war.
Zur Unterstützung von Hptm.Prich kam Hptm.Fritz Bauer zu uns, womit das Büro des Armeeinspektors bis zum Kriegsausbruch personell gesättigt war. Prich wurde noch vor Kriegsbeginn versetzt und Bauer dann selbständiger Mobilisierungsreferent.
Im Balkanbund konnte man sich über die Teilung der Beute des Krieges gegen die Türkei nicht einigen. Der Streit um Makedonien, das die Bulgaren ebenso für sich beanspruchten wie die Serben, Montenegriner und Griechen, führte zu offenen Feindseligkeiten unter den Verbündeten. In der Schlacht an der Bregalnica in Südmakedonien wurden die Bulgaren von ihren drei anderen Verbündeten geschlagen. Dazu rückten in das von Truppen ganz entblößte Bulgarien noch die Rumänen ein, um die Dobrudscha zu gewinnen. Damit war einerseits unter den Balkanstaaten eine unüberbrückbare Feindschaft entstanden, andererseits war Serbiens Selbstbewußtsein durch die großartigen Erfolge seiner Armee gegen Türken und Bulgaren und den ungeheuren Landerwerb in Makedonien gewaltig gestiegen. Das bisherige bloß zweieinhalb Millionen zählende Serbien war um weitere zwei Millionen Menschen und territorial um mehr als das doppelte größer geworden. Der offene Ausdruck seiner Feindschaft gegen Österreich-Ungarn wurde noch dreister, was sich auch auf das Verhalten der bosnisch-hercegovinischen Serben auswirkte, die dem Landeschef das Regieren immer schwieriger machten. Die serbische Presse dies- und jenseits der Grenze bezeichnete unverblümt die Monarchie als nächsten niederzuschlagenden Feind.
Unter diesen Umständen kam der stärkeren Sicherung unserer Grenze gegen Serbien auch im Frieden immer grössere Bedeutung zu. An der Grenze waren zu wenig Gendarmerieposten. Der bosnische Finanzgewaltige, Sektionschef Prilesky, bewilligte wohl eine beträchtliche Vermehrung der Zollwache, so wie deren bessere Ausrüstung und Bewaffnung, aber auch das erschien zu wenig. Die Aufstellung einer eigenen Grenzwachtruppe war notwendig geworden. Deren Aufstellung fiel in mein Arbeitsgebiet. Der errechnete Bedarf entlang der Drina und weiter bis zur Bocche di Cattaro wären 6 kriegsstarke Bataillone gewesen; die dauernde Verweigerung eines erhöhten Rekrutenkontingentes machte bloß die Aufstellung von 6 Kompanien mit einem Stand von je 130 Männern möglich, und selbst diese zusammen bloß 780 mußten durch die schäbigsten Maßnahmen aufgebracht werden; indem man den Militärbeamten die ihnen für die Dauer ihrer Garnisonierung in Bosnien-Hercegovina seinerzeit bewilligten Offiziersdiener nahm und den ohnedies unzureichenden Stand jedes Infanteriebataillons um je 2 Mann pro Kompanie kürzte. An Offizieren für diese neue als Rückhalt für die Grenzgendarmerie- und Zollwacheposten dienende Truppe herrschte kein Mangel. Es meldeten sich freiwillig mehr schneidige Offiziere als nötig. Als Unterkünfte konnten anfangs nur Holzbaracken dienen. Die Dienstvorschrift für diese Truppe arbeitete auf Grund der Entwürfe von FML v.Appel, des Gendarmeriekommandanten Obst.Snjaric (einem prachtvollen Typ alter „Grenzeroffiziere”) und meiner Vorstudien der neuernannte Inspektor der Grenzjägertruppe, GenStabObst.v.Droffa, aus. Die Grenzjägertruppe wurde im Krieg zu Bataillonen ausgebaut und leistete in Bosnien nach dem Rückzug der Armeen Potioreks aus Serbien Ende 1914 hervorragende Dienste.
Als Manöver für das Jahr 1913 hatte FZM Potiorek ein Begegnungsgefecht zweier aus jedem der beiden Korpsbereiche zu bildenden kriegsstarker Gebirgsbrigaden auf der Hochfläche von Ulog Obruja gewünscht, was mir viel zusätzliche Arbeit bereitete. Bei diesem Manöver hatten wir dann das Unglück, daß während eines Gewitters der Blitz in die marschierende Kolonne der Südpartei einschlug und vier brave Soldaten tötete.
Vorher hatten wir aber noch eine Gesamtmobilisierung beider Korps zu bestehen, weil Serbien sich weigerte, seine nach dem Balkankrieg bis an die Adria vorgedrungenen Truppen zurückzunehmen und den neuen Staat Albanien anzuerkennen, wie es nach langen Verhandlungen die Europäischen Mächte über Antrag Österreich-Ungarns bestimmt hatten. Der Kriegsausbruch stand damals auf Messers Schneide. Nur weil die offenkundige Kriegsrüstung der späteren Entente-Staaten (England-Frankreich-Russland) erst 1916 ein befriedigendes Ausmaß erlangen konnte (wie wir heute wissen), zwang Russland schließlich Serbien zum Nachgeben. Wir auf dem Balkan wußten jedoch alle, daß der Krieg Serbiens gegen die Monarchie unabwendbar war und nach der ganzen politischen Lage nicht wir, sondern Serbien den ihm genehmen Zeitpunkt wählen würde.
Die Truppen und Stäbe hatten durch die Standeserhöhung 1912 und die Mobilisierung 1913 viel gelernt. Die Monarchie aber hatte dadurch enorme Ausgaben gehabt, die für eine bessere Ausrüstung und Bewaffnung der Armee glücklicher angebracht gewesen wären als für solche politischen Demonstrationen.
Ich bekam damals den Ausdruck der Kaiserlichen „Allerhöchsten Zufriedenheit” (Signum laudis) verliehen und einen kurzen Urlaub, den ich zu einer Reise auf einem Küstenfrachtschiff entlang Dalmatiens benützte. Es war das die erste und auch einzige Erholungsreise meines Lebens; die Erinnerung an dieses prachtvolle Küsten- und Inselland ist mir bis heute lebendig geblieben.
Nach meiner Rückkehr traf auf irgendeinem Weg die Anfrage ein, ob ich nach Wien ins Etappenbüro des Generalstabes eingeteilt werden möchte. Aus meiner Dienstbeschreibung, die Merizzi mir jedes Jahr zu Lesen gab, wußte ich, daß ich besonders für das Operationsbüro empfohlen wie auch für den Posten eines Militärattachés sehr geeignet beschrieben war. Meine Dienstaltersklasse im Operationsbüro war bereits berücksichtigt worden, wobei ich wegen der Unabkömmlichkeit in Sarajevo ausgefallen war, und weder die Garnisonierung in Wien, noch der Aufgabenkreis des Etappenbüros erschienen mir bei aller seiner Bedeutung erstrebenswert. Also dankte ich für das Angebot und bat, mich noch ein Jahr in Sarajevo zu belassen: meine Aufmarsch- und Grenzschutzaufgaben, besonders die Aufstellung der Grenzjägertruppe wollte ich noch zu Ende bringen.
Die politischen Verhältnisse in Bosnien-Hercegovina verschlechterten sich immer mehr. Der Glaube, daß diese Länder dauernd bei der Monarchie bleiben könnten, wurde von den In- und Auslandsserben immer schärfer bekämpft. Die Abgeordneten des Landtages machten diesen arbeitsunfähig und insultierten sogar den Landeschef bei dessen Versuch, den Sabor (Landtag) arbeitsfähig zu machen.
FZM Potiorek sann nun nach Mitteln, um diese vergiftete Stimmung auszugleichen. Als solches vertrat er unter anderen auch die Meinung, daß ein Besuch des Thronfolgers in Bosnien, ähnlich wie kurz nach der Annexion der Besuch Kaiser Franz Josephs in Sarajevo, auf die Bevölkerung, besonders die Muslime, einen tiefen, die serbischen Losreißungsbestrebungen beeinträchtigenden Eindruck machen würde. Als ich das erstemal von dieser Idee hörte, war ich entsetzt, den Thronfolger in ein politisch so unruhig gewordenes Land zu rufen. Ob der Gedanke des Besuches vom Thronfolger selbst ausgegangen war und etwa gelegentlich einer Reise Potioreks nach Wien erörtert worden war, habe ich nicht erfahren. Jedenfalls ist im Laufe des Frühjahrs 1914 eine Reihe solcher Anträge vom Feldzeugmeister gestellt worden. Ich verfolgte diese meist von Potiorek oder Merizzi eigenhändig geschriebenen Konzepte mit Mißbehagen. Meine Bedenken wurden aber geringer, als ich in persönlichen Aussprachen mit den langjährigen Kennern der Verhältnisse, FML v.Appel und GM.Snjaric, hörte, daß auch diese den Besuch des Thronfolgers für notwendig hielten. Auch der von mir sehr geschätzte, meist skeptische Generalsstabschef des XV.Korps, Obst.Mihaljevic, war der Meinung, daß da, wo es sich um den Bestand der Monarchie handle, die Dynastie sich exponieren müsse.
Schließlich einigte man sich darauf, daß der Thronfolger als Generaltruppeninspektor einem Manöver beiwohnen und anschließend die ihm unbekannte Stadt Sarajevo besuchen sollte, nicht als Vertreter des Kaisers, sondern eben nur als höchster militärischer Funktionär.
Da der Erzherzog mit Gefolge in den schönen Hotels von Bad Ilidže, also außerhalb des Stadtgebietes, Wohnung nehmen sollte, war seine persönliche Sicherheit durch die ausgezeichnete bos-hcgov. Gendarmerie und die Truppen des Heeres gewährleistet. Der Erwägung, den Sicherheitsdienst auch in Sarajevo selbst dem Heer und der Gendarmerie zu übertragen, wurde nicht stattgegeben, um die Bevölkerung der autonomen Stadt mit eigener Polizei nicht zu verletzen.
Wie sich zeigte, war diese Rücksichtnahme des Landeschefs berechtigt; denn das unglückselige Attentat wurde nicht von Bewohnern der Stadt begangen oder gefördert. Die Mörder wurden von der militärpolitischen, geheimen Organisation der „Schwarzen Hand” ausgebildet und vom Königreiche Serbien mit Duldung durch den serbischen Ministerpräsidenten Pasic über die zu wenig bewachte Drina eingeschmuggelt. Hier rächte es sich eben, daß aus Geld- und Rekrutenmangel die Grenzjägertruppe anstatt Bataillonen nur Kompanien hatte. Diese Tatsache widerlegt auch den nachträglich behaupteten Unsinn, daß das Attentat wegen des Besuches Sarajevos am Vidov dan, dem großen serbischen Feiertag erfolgt sei, auf den man beim Armeeinspektor vergessen hätte. Der Zeitpunkt der Reise des Thronfolgers war im Einvernehmen mit dessen Militärkanzlei erfolgt. Der Besuch Sarajevos am serbischen Nationalfeiertag konnte auch als besondere Aufmerksamkeit für das Serbentum aufgefaßt werden, da ja von Erzh.Franz Ferdinand allgemein bekannt war, daß er für die südslavischen Völker besondere Sympathien hege. Das Attentat und dessen Vorgeschichte ist übrigens im Buch «Apis und Este» von Bruno Brehm so zutreffend geschildert, daß ich hier ausdrücklich darauf aufmerksam mache.
Mitte Januar 1914 reiste Potiorek im Rahmen eines Generalkriegsspieles, das in Sarajevo begonnen hatte, nach Ragusa. Da das Kriegsspiel (der technisch richtige, aber dem Laien nichts sagende tit dieser Tätigkeit lautete „Generalsreise”) auch in mein Ressort fiel, hatte ich ihn zu begleiten. Seine hohen geistig-militärischen Fähigkeiten wurden bei der Leitung und Schlußbesprechung sinnfällig wahrgenommen und allgemein anerkannt.
Nach Beendigung lud der Kommandant des XVI.Korps, FML Wenzel Wurm, alle Generäle und die Begleitung Potioreks, also auch mich, zu einem festlichen Abendessen, bei welchem die in Ragusa garnisonierenden Herren mit ihren Damen erschienen. Der Beginn verzögerte sich unangenehm lang; wir alle waren nach der harten Tagesarbeit müde und hungrig. Offenbar stimmte es in der Küche nicht, was aber Wurms verhältnismäßig junge Gemahlin nicht zu belasten schien. Sie hielt in bester Laune Cercle. Dagegen sah ich Potiorek schon von einem Bein aufs andere treten, und auch Wurm war sichtlich nervös geworden. Endlich, ich denke es wird schon nach 9h gewesen sein, wurden die Türen in den Speisesaal geöffnet und man nahm Platz. Und nun ereignete sich ein außerordentlich peinlicher Fall: Als der für die Bedienung der Tafelmitte bestimmte Diener mit einer riesigen Metallschüssel, auf der ein großer Fisch lag, in den Saal kam und in der rechten Hand eine Sauciere mit gelber Butter balancierte, rutschte er am festlich gebürsteten Parkett aus. Ohne daß er selbst gestürzt wäre, glitt ihm der große Fisch von der Platte und landete wie ein Torpedo zwischen Hausfrau und Potiorek. Beide blieben vollkommen ruhig, obwohl die Toillette der Hausfrau und die Hose Potioreks einiges abbekamen. Ein anderer Diener eilte vom Tafelende sofort zur Unglücksstelle, um mit seiner Platte, von der ich mir gerade einen guten Bissen genommen hatte, Ersatz anzubieten. Wir Jüngeren schmunzelten natürlich über den peinlichen Vorfall, von dem aber bei und nach der Tafel in wohlerzogener Beherrschtheit kein Wort gesprochen wurde. Die arme Hausfrau tat uns natürlich leid. Ihr Gemahl hingegen gewann bald seinen Humor wieder. - Er führte später sein Korps in Serbien und nachher am Isonzo mit großem Erfolg und beendete den Weltkrieg 1918 am südlichen Isonzo als Generaloberst. Leider verstarb GO.Wurm an Zungenkrebs, seine Frau erhängte sich.
Nach Sarajevo zurückgekehrt, lag das Schwergewicht meiner Arbeit in der ersten Hälfte des Jahres 1914 auf dem Entwurf und der Detailausarbeitung der Manöver, für die ja nur die mäßig verkarstete, mit Wald und Wiesen bestandene Gegend um den Ivan-Sattel in Frage kam. Für das Manöverhauptquartier bot sich der kleine Ort Tarcin an, in dem Holzbaracken aus bereitliegenden Fertigteilen rasch aufzustellen waren. Ich war nun wieder viel draußen, um sowohl das geplante Kampfgelände, als auch die Versorgungsmöglichkeit der großen Truppenzahl (4 Infanteriedivisionen) namentlich mit Wasser festzustellen. Alles andere bereitete keine Schwierigkeiten, da die über den wasserscheidenden Ivan-Sattel führende Bahnlinie den Nachschub sowohl von Sarajevo, wie von Mostar aus leicht ermöglichte.
Vom XV.Korps sollte aus Sicherheitsgründen die 11.Gebirgsbrigade an der unteren Drina stehen bleiben, so wie vom XVI.Korps die 14.Gebirgsbrigade in der Bocche die Cattaro.
Mit Frühjahrsbeginn erbat ich, daß Potiorek und Merizzi meine Entwürfe im Gelände überprüfen und endgültig billigen mögen. Dem wurde zugestimmt und wir fuhren an einem schönen Frühjahrstag mit Potioreks Auto hinaus. Die Automobile waren damals noch nicht so bequem gebaut wie heute. Neben dem Fahrer saß präpotent der Personaladjutant Ditfurth, im Fond des Wagens plazierten sich Potiorek und Merizzi. Ich mußte den Hilfssitz vor Merizzi benützen, was den Feldzeugmeister zur unwilligen Äußerung veranlaßte, man sei im Auto sehr gedrängt; sogleich fragte ich Potiorek, ob ich nicht besser die Bahn benützen sollte, die mich ja bis Mittag auf den Ivan-Sattel brächte; er verneinte mit dem Beifügen, so wäre sein Unwille über den engen Raum im Wagen nicht gemeint gewesen. Also fuhren wir los. Im Manövergelände dirigierte ich den Wagen, soweit es ohne Gefahr für diesen möglich war, auch abseits der Straße an die verschiedenen Aussichtspunkte und erläuterte den Anmarsch der Parteien und die zu erwartenden Kampfbilder, die sich am ersten und zweiten Manövertag ergeben würden. Hierzu nahm nur Merizzi ab und zu das Wort und verlangte die Vereinfachung der Aufträge für die beiden Parteien auf die lapidare Aufgabe für das XVI.Korps, einfach nach Sarajevo zu marschieren, wogegen das XV. Mostar zu erreichen hätte. Das konnte ohneweiteres geschehen. Potiorek sprach kein Wort, folgte aber meinen Ausführungen sehr aufmerksam und sah sich im Gelände gut um. Als ich gegen Mittag meldete, daß ich mit meinem Vortrag zu Ende sei, servierte uns Ditfurth aus dem Auto einen Imbiß, der schweigend verzehrt wurde. Erst knapp bevor wir zur Rückfahrt das Auto bestiegen, sagte Potiorek zu mir: „Ja, hier kann man raufen; es ist gut.” Das war alles.
In den nächsten Tagen konnte ich nun die notwendigen Eisenbahntransporte mit dem Linienkommandanten durcharbeiten, die Entwürfe in Reinarbeit ausfertigen und an die Militärkanzlei des Thronfolgers, an jene des Kaisers, an den Chef des Generalstabes und das Kriegsministerium absenden lassen. Alle Papiere hatten die Unterschrift Potioreks glatt erhalten.
Die Sicherungsmaßnahmen für das erzherzogliche Quartier in Ilidže und die Absperrung des Manövergeländes gegen gefährliche Elemente übernahm die Gendarmerie auf Grund unserer Manöverentwürfe.
Eine sehr lästige Verhandlung ergab sich mit dem Reiseleiter, der, vom Hofstaat des Erzherzogs kommend, die Unterkünfte in Bad Ilidže besichtigte und einen Sack voll unerwarteter Wünsche äußerte, wie mehr Badezimmer für die Dienerschaft, da der Erzherzog sehr geruchsempfindlich sei und einen ungebadeten Diener nicht vertrage; besondere Belichtung und Verdunkelung für Toilette, Bade- und Schlafräume usw. Mit allen diesen Wünschen konnte ich ihn schließlich an die Baubehörden der Landesregierung weisen, die nach mehrfachen Rücksprachen großes Entgegenkommen zeigten, weil ja dadurch effektive Werte für die Hotelbetriebe geschaffen wurden.
Eine Forderung mußte ich allerdings selbst durchkämpfen; das war das Verlangen nach einer klaglosen Telephonverbindung von Ilidže nach Konopischt in Böhmen, weil die erzherzoglichen Eltern täglich zweimal mit ihren dort verbliebenen Kindern würden sprechen wollen. Das war eine schwer zu erfüllende Forderung, weil es damals in Bosnien und Österreich-Ungarn noch keine Kabel mit Verstärkerämtern gab und die Gespräche über die an Masten hoch geführten Leitungen erfolgen mußten. Schon bei Gesprächen mit Wien und Budapest war die Verständigung wegen Wetterstörungen und Induktionen oft sehr schwierig. Der Chef der bos-hcgov. Militärpost- und Telegraphenanstalt war zum Glück ein edler Pole, Hofrat Gaberle, mit großen technischen Kenntnissen und vielen guten Bekannten in der ungarischen und österreichischen Telegraphenverwaltung. Ich konnte wieder alle seine vom Militär geforderten Wünsche im Telegraphenbüro des Generalstabes durchdrücken. So brachte er das Unwahrscheinliche schließlich doch zustande, wofür er dann auch vom Erzherzog besonders bedankt und anerkannt wurde.
Bevor ich zum Sommer komme, sind noch zwei Geschehnisse erwähnenswert: Zum ersten das Eintreffen des Hauptmanns im Generalstab aus dem Operationsbüro Siegmund Knaus, der die Aufmarschanweisungen für den Balkan gültig ab 1.4.1914 brachte. Aufgrund der Bitte von Knaus wies mich Merizzi an, mit ihm auf die Romanja planina zu fahren und ihm das von Merizzi in Aussicht genommende Kampfgelände zu zeigen, in den wir den zu erwartenden Einbruch der Serben in einer Einkreisungsschlacht abzuwehren planten. Knaus war ein heller Kopf und erkannte die gute Planung Merizzis als richtig. Im späteren Leben war Knaus als Heeresinspektor mein Vorgesetzter, als ich Kommandant der Brigade Niederösterreich Nr.3 in St.Pölten war. Er hatte meine Führung auf der Romanja planina, die im Krieg wirklich ein bedeutendes Kampffeld wurde, nicht vergessen; wir kamen in unserer Unterhaltung wiederholt darauf zurück.
Zum zweiten traf bei Merizzi eine Anfrage des Chefs des Präsidialbüros im Kriegsministerium, GenStabObst.Lehoczky, ein, ob ich die zuverlässige Eignung für große organisatorisch-dienstrechtliche Arbeiten hätte und selbständig, ohne Kontrolle auf diesem Gebiet arbeiten könne; zutreffendenfalls möchte er mich zu sich ins Präsidialbüro versetzen lassen, weil ich ja nach vier Jahren Bosnien für eine Verwendung in Wien in Aussicht stünde. Obst.Lehoczky kannte mich flüchtig aus seiner Dienstzeit beim Inf.Rgt.Nr.72 in Pressburg. Er war damals dort Generalstabshauptmann beim V.Korpskommando gewesen und hatte die Aufsicht bei der Klausur der Vorprüfung für die Kriegsschule geführt. Merizzi ließ mich diese Anfrage ebenso lesen wie seinen für mich sehr schmeichelhaften Antwortbrief; dazu meinte er, ich solle nicht zögern ins Ministerium zu gehen: da ich schon das Etappenbüro abgelehnt hätte, könne mir eine nochmalige Ablehnung schaden; ich sei von ihm übrigens auch auf Grund meiner Haltung und den erfolgreichen vielen kleinen Verhandlungen mit der Landesregierung als besonders geeignet für den Posten eines Militärattachés beschrieben worden. So war Merizzi: einerseits mußte man ihn lieben wegen seines Wohlwollens als Vorgesetzter und Kamerad, von dem man immer wieder lernen konnte, anderseits erschien er verächtlich wegen seines italienischen Intrigantentums gegen Menschen, die ihm gefährlich oder unbequem waren.
Der Nachrichtendienst aus Serbien brachte wohl dauernde Haßäußerungen gegen unsere Monarchie, jedoch keine bestimmten Nachrichten über Attentatspläne oder geplante Demonstrationen gegen den Thronfolgerbesuch. Es wäre jetzt auch von uns aus nichts mehr zu ändern gewesen. Änderungen oder Absagen konnten nur mehr von Wien, dh. vom Erzherzogspaar selbst kommen, die ja auch durch den öst-ung. diplomatischen, staatspolizeilichen, zentralmilitärischen und journalistischen Nachrichtendienst Informationen erhalten mußten. Darüber verlautete aber bei uns in Sarajevo nichts.
So kam ein schöner milder Sommer heran, und ich ging schon vor dem 20.Juni mit meinen Gehilfen, Hptm.Beran und dem zugeteilten Oblt.Glas, in den Manöverraum ab, wo für uns bei Tarcin eine Holzbaracke aufgestellt worden war. Ich wußte, daß der Erzherzog von Pola über Metkovic und Mostar, seine Gemahlin mit ihrem Hofstaat über Bosnisch Brod bis zum 25. nach Bad Ilidže gelangen mußten, weil an diesem Tag Beginn des Manövers durch Eintritt des kriegsmäßigen Verhältnisses zwischen dem XV. und XVI. Korps zu sein hatte. Potiorek und Merizzi waren natürlich durch den Empfang der hohen Gäste in Sarajevo festgehalten. In Tarcin konnten wir telephonisch die frohe Kunde registrieren, daß die Reisen ohne den geringsten Zwischenfall abgelaufen waren und das erzherzogliche Paar in Ilidže sehr zufrieden sei.
Zu meiner großen Freude hörte ich auch, daß der Chef des Generalstabes, der verehrte Baron Conrad mit Obst.Metzger, dem Chef des Operationsbüros, zum Manöver kommen werde. Allerdings werde er gleich nach dessen Ende noch am Vormittag des 27.Juni nach Kroatien zur Generalsreise weiterfahren.
Am 26.Juni vormittags kamen der Erzherzog und der Chef des Generalstabes erstmals ins Manövergelände. FZM Potiorek stellte mich beiden Herren vor; anschließend hatte ich die Ehre, das Gelände beschreiben und die eingetretene Lage beider Parteien auf Grund ihrer Dispositionen erläutern zu dürfen. Conrad forderte zur Prüfung der Generalstabstechnik sofort Einsicht in die von ihm allgemein vorgeschriebene „Evidenz”-Karte, in der durch Oblt.Glas die Parteien, die Bewegungslinien nach ihren Dispositionen und die jede Stunde von ihnen erreichten Marschstationen ersichtlich waren. Das vom Kampffeld weiter entfernte XV.Sarajevoer Korps hatte laut Annahme seine 10.Gebirgsbrigade unter dem Inspektor der Grenzjägertruppe, Obst.v.Droffa, auf den Ivan-Sattel vorgeschoben. Die Übung war so zusammengestellt, daß sich die 10.Gebirgsbrigade am ersten Manövertag in ihrem Raum zur Verteidigung gut einrichten konnte und nur von den vorgeschobenen Aufklärungskräften des XVI.Korps beunruhigt wurde. Die beiderseitigen Gros der Korps konnten erst nach starken Marschleistungen am Abend dieses ersten Manövertages die Räume von etwa je 10 km Entfernung vom Ivan-Sattel erreichen.
Der Erzherzog war allen Erklärungen aufmerksam gefolgt, sah sich die 10.Gebirgsbrigade genau an, verfolgte die ersten Scharmützel der Aufklärungstruppen, wobei ihn die kroatischen Ulanen auf ihren kleinen Gebirgspferden gegenüber den Dalmatiner Landesschützen in ihrer Wendigkeit sichtlich beeindruckten. Für den Erzherzog und sein Gefolge waren neben Autos des freiwilligen Automobilkorps auch Gebirgsreitpferde bereitgestellt.
Am späteren Vormittag fuhren der Erzherzog und Conrad mit Potiorek und Merizzi zum XVI.Korps FML Wurm, am Nachmittag zum XV.Korps FML v.Appel in das wundervolle Praca-Tal und dann über die pittoreske Romanja planina durch Sarajevo nach Ilidže.
Ich mußte am Standort der Übungsleitung in Tarcin bleiben und hörte von allen Seiten telephonisch, daß der Erzherzog sich überall sehr lobend geäußert hatte. Die Truppen waren auch wirklich im Verhältnis zu jenen im Innern der Monarchie gefechtsmäßig glänzend durchgebildet und ihre Marschfähigkeit war im Steinmeer des Karstes ebenso prächtig wie in den dichten Wäldern, in denen die Truppenpioniere oft erst gefallene Baumriesen sprengen mußten, um die Marschbewegungen flott zu erhalten.
Die Herzogin v.Hohenberg hatte inzwischen mit ihrem von Frau v.Appel geführten Gefolge in der Stadt Sarajevo die dortige Teppichweberei, Kirchen und Geschäfte besucht. Sie war überall von herzlichen, spontanen Ovationen begrüßt worden. Nirgends gab es auch nur den geringsten Zwischenfall.
Im Manövergelände hatte die Gendarmerie 3 oder 4 Bosniaken aufgegriffen, die sich aber als unbewaffnete, harmlose Bummler erwiesen und freigelassen werden konnten. Auch in der Umgebung von Bad Ilidže wurden keinerlei verdächtige Wahrnehmungen gemacht.
So waren wir, der kleine Stab der Manöverleitung, bester Laune. Ich hatte vom Militärgeographischen Institut aus Wien eine Schnellpressengruppe erbeten, die während der Nacht die von beiden Parteien erreichten Gruppierungen in blauer und roter Farbe in die Manöverkarten druckte, die wir dann in ausreichender Zahl nach Ilidže sandten. Für den folgenden Tag hatte ich auf Grund aller Lagemeldungen das Erscheinen der Herrschaften schon für 8h am Ivan-Sattel erbeten.
Der 27.Juni war von herrlichem Wetter begünstigt und die Rundsicht vom Ivan-Sattel war prächtig. Ohne jeden Eingriff der Übungsleitung war auf Grund der Dispositionen der Parteikommandanten ab 9h ein wunderbar übersichtliches Manöverschaubild zu erwarten, das sich dann auch tatsächlich ergab.
Die Herrschaften erschienen pünktlich, und der Erzherzog war in strahlender Laune, ungewöhnlich leutselig und für jede Einzelheit interessiert. GdI.v.Conrad sprach sehr wenig, blieb während der ganzen Zeit sehr ernst; sein persönliches Verhältnis zum Erzherzog erschien ebenso kühl wie zu Potiorek, der vom Erzherzog andauernd durch Gespräche ausgezeichnet wurde. Merizzi hielt sich bescheiden im Hintergrund.
Das XVI.Korps schob auf den Ivan-Sattel, der gut eingegrabenen 10.Gebirgsbrigade gegenüber nur schwache Kräfte, entfaltete seine beiden Divisionen südlich des Ivan-Sattels in dem gut übersichtlichen Höhengelände und schwenkte ab 9h, mangels eines Feindes in der Front, gegen die Flanke und den Rücken der 10.Gebirgsbrigade ein.
Darauf hatte FML v.Appel, der seine beiden Divisionen gleichfalls südlich des Ivan-Sattels bereitgestellt hatte, gewartet. Ab 10h faßte er nun das ganze XVI.Korps in Flanke und Rücken, was für dieses eine so schwere Lage schuf, daß das Manöver um 11h als beendet gelten konnte und der Erzherzog durch die aus Wien mitgekommenen Trompeter der Leibgarde-Reitereskadron das Signal „Abblasen” geben ließ.
Gleich nach dem Signal meldete sich Gen.Conrad beim Erzherzog ab, reichte Potiorek verbindlich die Hand, nickte uns Generalstabsoffizieren zu und reiste nach Hochkroatien ab. Mir blieb der betrübliche Eindruck, daß das vor Jahren glänzende Verhältnis des Erzherzogs zu Conrad sich sehr abgekühlt haben mußte.
Die Besprechung selbst war kurz, der Erzherzog lobte alles sehr. Mir reichte er freundlich die Hand. Inzwischen hatten sich die dem Weg zur Eisenbahnstation Tarcin zunächst befindlichen Truppen so aufgestellt, daß der Erzherzog durch ein Spalier verschiedenster Bataillone, die er durchwegs durch Zuruf belobte, bis zum Bahnhof reiten konnte.
Ich atmete erleichtert auf: alles war glatt abgelaufen. Ich entließ meine Gehilfen, die am morgigen Tag in Sarajevo sein wollten und überwachte die tabellarisch vorbereiteten Eisenbahn- und Fußmarschtransporte der Truppen in ihre Garnisonen, zusammen mit den Eisenbahnlinienkommandanten, was uns bis in die späte Nacht beschäftigte.
Allein in der Manöverbaracke überdachte ich nun meine ganze Dienstzeit in Bosnien, die praktisch mit diesem gelungenen Manöver endete, denn bald sollte ich ja ins Kriegsministerium nach Wien versetzt werden, was mich eigentlich garnicht reizte. Ich hatte gern in Bosnien gedient, trotzdem ich mich meinem Chef Merizzi gegenüber wie ein Magnetanker gefühlt hatte, der abwechselnd abgestoßen und angezogen wurde. Im Ganzen war es aber eine militärisch schöne, reiche Zeit gewesen.
Am Morgen des 28.Juni schwang ich mich in den Sattel meines schönen ungarischen Halbblutfuchsen Ada und ritt, vom Pferdewärter auf meinem Gebirgspferd Hlap begleitet, nach Sarajevo. Als ich an die Bahnkreuzung etwa 10 km westlich Sarajevo kam, ging gerade der Schranken nieder; es war 9h vorbei. Beim Warten dachte ich an nichts besonderes, sondern klopfte meinem Pferd den Hals, weil es Maschinen nicht liebte. Wie groß war mein Erstaunen, als plötzlich von Ilidže der Hofzug mit den schönen Salonwagen angerollt kam. In der Mitte des zweiten Wagens stand der Erzherzog am offenen Fenster. Ich salutierte auf versammeltem Pferde. Der Erzherzog erkannte mich sogleich und winkte mir freundlich und lange zu; darauf sah ich ihn noch nach hinten zu seiner Gemahlin etwas sagen; dann entschwand der Zug meinen Augen. Mein braver Pferdewärter Kern, ein Niederösterreicher aus der Gegend Ybbs-Jauerling, sagte etwa zu mir: „Na so a Glück; der hat Ihna erkannt, Herr Hauptmann; und wia freundlich er war!” Das war mein letztes, unvergessenes Bild vom Erzherzog.
Da wir bis zur Bahnübersetzung die 20 km von Tarcin her getrabt waren, ließ ich jetzt die Pferde im Schritt gehen; wir näherten uns langsam der Stadt. Um das wahrscheinliche Gedränge am Quai zu vermeiden, hatte ich die südliche, am Korpskommando vorbei führende Straße zur Stadt gewählt.
Vor dem Korpskommando sehe ich v.Appel stehen. Er läuft auf mich zu mit der Frage: „Wann kommen endlich die Truppen, es ist Aufstandsgefahr!” Ich mache einen Blick auf die Uhr, es war halb 12, und antworte: „Die 9.Gebirgsbrigade wird eben in ihr Lager einrücken, die 10. eine Stunde später hier sein. Was ist los, Exzellenz? Warum Aufstandsgefahr? Ich merkte am ganzen Wege keinerlei Anzeichen!” Darauf Appel: „Ja wissen Sie denn nicht, der Erzherzog ist erschossen!” Ich glaube, vor Schreck vom Pferd zu fallen. Dann gebe ich dem Gaul die Sporen und galoppiere an seinem Stall vorbei direkt in den Konak. Dort ist ein Menschenauflauf und eine große Absperrung; aber man kennt mich. Ich springe vom Gaul ins Haus, die Treppen hinauf, begegne Stabsarzt Arnstein und Dr.Hochmann. Letzterer sagt zu mir: „Alles umsonst, beide sind tot.” Ich frage: „Wo ist Merizzi?” „Verwundet im Garnisonsspital!”
Ich dränge in Potioreks Arbeitszimmer. Er sitzt am Schreibtisch und diktiert, neben ihm steht Mjr.Wachtel, der mir bedeutet hinauszugehen. Ich aber bleibe und sehe Potiorek an. Er ist unverändert und unverletzt, in gewohnter Ruhe. „Gut, daß Sie da sind,” sagt er zu mir: „Wann kommen die Truppen?” Ich ziehe die Marschübersicht aus meiner Kartentasche und melde. Potiorek: „Gehen Sie ins Kanzleigebäude und bleibt dort alle in Bereitschaft; sagen Sie der Landesregierung, sie kann jetzt nach Bedarf Militärassistenzen anfordern!”
Im Kanzleigebäude finde ich schon Beran, Bauer und Kautsky. Benda kommt kurz nach mir, und jetzt erst erfahre ich von ihnen das furchtbare Geschehen, das Bruno Brehm in seinem Buch fast authentisch dargestellt hat.
Natürlich begannen jetzt gleich die gescheiten Reden: jeder hatte das kommen gesehen, man durfte den Erzherzog nicht solcher Gefahr aussetzen usw. Ich rief die Landesregierung an und sprach mit Präsidialchef Baron Collas. Es sei überall vollkommene Ruhe, die Attentäter verhaftet, die ersten Aussagen deuten auf Anstiftung von Belgrad. Für Nachmittag seien Kundgebungen der patriotischen Bevölkerung angemeldet, für Militärassistenzen sei momentan noch keine Notwendigkeit.
Mich hatte das furchtbare Geschehen entsetzlich ergriffen; es brauchte eine gewisse Zeit, während der ich mich in mein Arbeitszimmer einsperrte, bis ich wieder ganz arbeitsfähig war.Mich hatte das furchtbare Geschehen entsetzlich ergriffen; es brauchte eine gewisse Zeit, während der ich mich in mein Arbeitszimmer einsperrte, bis ich wieder ganz arbeitsfähig war.
Der Telegraph zwischen Sarajevo und Wien spielte fast ununterbrochen. Mjr.Wachtel, der Merizzi vertrat, machte den ganzen Nachrichtenverkehr mit Wien allein, so daß ich zu Merizzi ins Spital gehen konnte, ihn besuchen. Er hatte am Nacken eine kleine Verletzung von einem Bombensplitter abbekommen und stand jetzt in Behandlung mit Tetanusinjektionen gegen Wundstarrkrampf. Er erzählte mir, daß die ihn verletzende Bombe (eigentlich eine Handgranate) ins Auto des Erzherzogs gefallen, von diesem aber geistesgegenwärtig aus dem Auto geschleudert worden war. Da der Attentäter nach Aktivierung der Granate diese zu früh geworfen habe (Handgranaten sind mit der Zündung auf 4-5 Sekunden vom Abzug bis zur Detonation eingestellt), explodierte sie erst hinter dem Auto, in dem Merizzi dem Erzherzog unmittelbar folgte, auf der Straße, wobei der Splitter Merizzis Nacken von hinten traf. Dem ganzen Eindruck nach, den ich gewann, war Merizzi nur leicht verwundet und hätte das Spital schon am nächsten Tag verlassen können, spätestens aber nach zwei Tagen.
Auf dem Rückweg vom Spital durch die Stadt begegnete ich Demonstrationszügen zumeist muslimischer Bevölkerung gegen das geschehene Verbrechen. Es war interessant zu beobachten, wie genau die Bevölkerung die mit dem Königreich Serbien in Verbindung stehenden einheimischen Serben kannte. Vor deren Häusern kam es zu Rufen des Abscheus, aber es begannen Demonstranten auch in diese Häuser einzudringen und dort handgreiflich zu werden, worauf endlich Militärassistenz zur Verstärkung der Polizei angefordert wurde. Inzwischen waren Demonstranten aber schon in den Besitz des radikalen Serbenführes Jeftanovic eingedrungen und zerschlugen dort seine reichen Rennwagen-Remisen und alle seine Luxuswagen. Hier gewann ich den Eindruck, daß die Polizei schärfer hätte eingreifen können, stattdessen die Exzesse, die unter Absingen der Kaiserhymne erfolgten, toleriert wurden. Als dann die Militärassistenzen in geschlossenen Zügen anrückten, konnte ich selbst sehen, daß die Demonstranten beim Anblick des Militärs sich sammelten und dieses mit živio-Rufen und Kaiserhymne begrüßten, was den kommandierenden Offizier bewog, seine Abteilung halten und die Ehrenbezeigung leisten zu lassen. Doch bis zum Abend war die Ruhe wieder vollkommen hergestellt.
Von der Drina-Grenze kamen ebenfalls keine bedrohlichen Nachrichten über serbische Truppenzusammenziehungen.
Inzwischen waren aus Wien die Weisungen für die Überführung der beiden Opfer des Attentates über Mostar, Metkovic, mit der Jacht Dalmat nach Pola und dann wieder mit der Bahn nach Wien eingelangt. Sie waren inzwischen im Festsaal des Konaks einbalsamiert und prunkvoll aufgebahrt worden.
Am übernächsten Tag wurde im Dom ein feierliches Totenamt abgehalten, zu dem die ganze Garnison ausgerückt war. Die Truppen bildeten über Weisung des Korpskommandanten v.Appel ein dichtes Spalier, das eigenartigerweise mit den Gesichtern zur teilnehmenden Bevölkerung aufgestellt worden war. Durch dieses Spalier schritt der Armeeinspektor gefolgt von allen bei der Truppe nicht eingeteilten Offizieren und hohen Beamten vom Konak zum Dom und nach der Messe wieder zurück. Die Überführung der Leichname nach feierlicher Einsegnung vom Konak zum hochgelegenen Bahnhof Bistrica der bosnischen Ostbahn erfolgte unter ähnlichem militärischen Aufgebot.
Damit war für uns in Sarajevo die Tragödie abgeschlossen, und wir erwarteten stündlich den Mobilisierungsbefehl gegen Serbien, wo das Attentat in der Presse fast bejubelt wurde. Stattdessen trafen vom Ministerium des Äußeren der Gesandte Wiesner mit zwei bis drei Herren und vom Kriegsministerium der junge Militärauditor Albin Schager mit dem Auftrag ein, die schon während der ersten Einvernahmen nach Belgrad weisenden Fäden einer Verschwörung möglichst genau aufzuklären. Hptm.Broz stand diesen Untersuchungen mit seinem Nachrichtendienst ganz zur Verfügung. Aus eigenem Denken orientierte ich inzwischen den zum Armeegeneralstabschef designierten Kommandanten der 10.Gebirgsbrigade, GM.Böltz, über alle Einzelheiten des Aufmarsches für den Fall eines Krieges. Böltz kam dazu täglich für einige Stunden in meine Kanzlei, wo ihn auch Mobilisierungsreferent Hptm. Bauer über den Zeitablauf der Mobilisierung ins Bild setzte.
Böltz war zu dieser Zeit sichtlich froh, daß Merizzi nicht amtierte, sondern im Spital lag. Von ihm wußte er, daß dieser ihn vom Feldzeugmeister ebenso ferngehalten hatte, wie es jetzt Mjr.Wachtel tat.
Nach etwa acht Tagen wurde ich zu Potiorek gerufen. Er raunzte: „Ich habe mit Dr.Arnstein gesprochen, der sagt, Merizzi sei geheilt und dienstfähig. Gehen Sie zu Merizzi und sagen sie ihm, wenn er nicht sofort kommt und seinen Dienst antritt, dann will ich ihn überhaupt nicht mehr sehen!” Das war kein angenehmer Auftrag; den hätte er dem Merizzi im Rang viel näherstehenden Mjr.Wachtel geben können. Anscheinend mußte Merizzi sich Potiorek gegenüber über mich so geäußert haben, daß dieser annahm, wir ständen uns besonders nahe.
Der Befehl war gegeben, und so ging ich zu Merizzi ins Spital. Das Gespräch leitete ich mit den Nachrichten über die serbische Anstiftung des Attentates ein, über unsere stündliche Erwartung des Mobilisierungsbefehles, über das häßliche Verhalten des kaiserl.Obersthofmeisters Fürsten Montenuovo bei der Beisetzung des ermordeten Thronfolgers in Artstetten. Da Merizzi vollkommen angekleidet außer Bett war, fragte ich ihn schließlich, wann er denn wieder seinen Dienst anzutreten gedenke, da er dem Feldzeugmeister sehr fehle. Darauf lächelte Merizzi spöttisch und sagte ungefähr, daß er nicht mehr daran denke, in Sarajevo Dienst zu machen und mir rate, auch ehestens meinen neuen Posten im Kriegsministerium anzutreten. Da faßte mich wieder jene Empörung, die Merizzis Charakter in mir so oft gereizt hatte, und ich fuhr ihn scharf an, ob er denn jetzt, da Potiorek ihn am dringensten brauche, den Mann, den er durch Jahre von der Welt ganz abgeschlossen hatte und dem er so viel Dank schulde, im Stich lassen wolle? Darauf meinte Merizzi, ich solle mich nicht so aufregen; klug zu handeln sei vernünftiger.
Auf das hin nahm ich die vorgeschriebene militärische Haltung an und meldete ihm: „Herr Oberstleutnant, ich habe von FZM Potiorek persönlich den Auftrag erhalten, ihnen zu sagen, daß er von ärztlicher Seite über ihre Ausheilung orientiert wurde, und wenn sie nicht sofort ihren Dienst antreten, er sie überhaupt nicht mehr sehen wolle.” Darauf Merizzi: „Ich danke dir und bitte dich, dem Feldzeugmeister zu melden, daß ich mich gesundheitlich nicht stark genug fühle, um den Dienst wieder anzutreten.” Dies meldete ich am nächsten Morgen Potiorek; er zog eine verächtliche Grimasse und entließ mich mit einem Kopfnicken.
Die Persönlichkeit Merizzis habe ich deshalb so ausführlich beschrieben, weil ich auch heute noch in seiner schimpflichen Untreue zu Potiorek die Hauptursache dafür sehe, daß wir den ersten und zweiten Feldzug in Serbien verloren haben. Merizzi hatte durch Jahre Potiorek von allen militärischen Beratern systematisch abgesperrt und besonders das Verhältnis zwischen Potiorek und seinem für den Krieg bestimmten Armeegeneralstabschef planmäßig vergiftet, was zu jenen schrecklichen Verhältnissen im Armeekommando führte, die ich im nächsten Kapitel leider beschreiben muß.
Das Persönliche abschließend bleibt nur noch anzufügen, daß Merizzi, als am 25.Juli die Mobilisierung befohlen wurde, doch in den Kanzleien des Armeeinspektors erschien, von Potiorek jedoch nicht empfangen und nach zwei Tagen als Generalstabschef zu einer Landsturmbrigade ins Banat abgeschoben wurde. Mit dieser konnte er bei Semendria keine Ehren gewinnen. Ich bin Merizzi im Leben nicht mehr begegnet. Er war im Krieg durch Jahre Generalstabschef des IV.(Budapester) Korps und starb in Südtirol 1917 als Kommandant einer Artilleriegruppe nach einem beschwerlichen Aufstieg zu seinem Befehlsstand an einem Herzschlag - er war schon herzleidend nach Sarajevo gekommen. In seiner genialen Geistigkeit ist er der faszinierendste Mann gewesen, dem ich im Leben begegnet bin, charakterlich aber ein Machiavellist. Mir war er im Ganzen ein wohlwollender Vorgesetzter. Wenn sein so offen zur Schau gestellter Katholizismus echt war, dann wird er ja schließlich vor seinem Gott Gnade finden, was ich ihm von Herzen wünsche.
 
Am 4.Mai 2011 präsentierte der Böhlau Verlag in Wien
das umfangreiche, bebilderte, kommentierte und
mit einer Einführung versehene Buch:

P.BROUCEK (Herausgeber)
Ein österreichischer General gegen Hitler
Feldmarschalleutnant Alfred Jansa
Erinnerungen
Auslage in Wien I im Mai 2011 © 2011 by DMGG