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Zitatensammlung
Teil 1
Zitate von Rudolf STEINER zum
SINN des LEIDENS
1a Leiden ist eine Begleiterscheinung der höheren Entwickelung. Es ist das, was man nicht entbehren kann zur Erkenntnis. Der Mensch wird sich einst sagen: Was mir die Welt an Freude gibt, dafür bin ich dankbar. Wenn ich aber vor die Wahl gestellt werde, ob ich meine Freuden oder meine Leiden behalten will, so werde ich die Leiden behalten wollen; ich kann sie nicht entbehren zur Erkenntnis. Jedes Leiden stellt sich nach einer gewissen Zeit so dar, daß man es nicht entbehren kann, denn wir haben es als etwas in der Entwickelung Enthaltenes aufzufassen. Es gibt keine Entwickelung ohne Leiden, wie es kein Dreieck ohne Winkel gibt. Wenn der Christus-Einklang erreicht sein wird, werden wir erkennen, daß zu diesem Einklang alle vorangegangenen Leiden notwendige Vorbedingung waren. Damit der Christus-Einklang da sein kann, muß das Leid da sein; es ist ein absoluter Faktor in der Entwickelung.
1b Dadurch, daß der Mensch die Egoität überwindet, kommt er über die Stimmung des Bedrückt- und Gelähmtseins hinweg. In diesem Phänomen kann man etwas sehen, was gut ist: Kraft aus der Unzulänglichkeit. Gott sei Dank, daß ich durch eine unzulängliche Tat, das heißt deren Mißerfolg, ermutigt werde, weiter zu handeln!
1c Das Menschenstreben ist kein unbestimmtes Glückslos. Unerlöst bleibt nur der, dessen freier Wille sich abwendet von der Bestimmung des Menschenwesens. In der Synthese des Weltenprozesses ist das Leid ein Faktor.
Düsseldorf, 21.Apr.1909 ☿ (aus «GA 110»; S.182f)
2a Warum brauchen wir Trost im Leben? Weil wir eben betrübt sein können über dieses oder jenes, weil wir leiden können, weil uns Schmerzen treffen können. Nun ist es natürlich, daß der Mensch dem Schmerze gegenüber sich fühlt, als ob sich irgend etwas in seinem Innern gegen diesen Schmerz so ablehnend verhalten müßte, daß er sich sagt: Warum muß ich Schmerzen ausstehen, warum trifft mich dieser Schmerz? Könnte denn das Leben für mich nicht auch so verrinnen, daß mich keine Schmerzen treffen, daß ich zufrieden bin? - Derjenige, der diese Frage so stellt, kann zu einer Antwort nur kommen, wenn er sich eine wirkliche Erkenntnis von der Natur unseres menschlichen Karma, des menschlichen Schicksals, verschafft. Warum leiden wir denn in der Welt? Und es sind damit die äußerlichen Leiden wie auch die innerlichen gemeint, die aus der inneren Organisation aufsteigen, daß wir uns nicht immer genug sind, daß wir nicht immer klar uns zurechtfinden können. Das ist jetzt gemeint. Warum treffen uns solche, uns unbefriedigt lassende Dinge im Leben?
2b Wenn wir uns einlassen auf die Gesetze des Karma, so werden wir sehen, daß unseren Leiden etwas Ähnliches zugrunde liegt, wie dasjenige ist, was im gewöhnlichen Leben zwischen Geburt und Tod etwa mit folgendem Beispiele sich verdeutlichen läßt, es ist von mir oft schon erwähnt worden: Nehmen wir an, jemand hat bis zum achtzehnten Jahre gelebt aus der Tasche seines Vaters, er hat in Lust und Freude gelebt, er hat sich nichts entgehen lassen. Dann verliert der Vater das Vermögen, er macht Bankerott. Der Junge muß etwas Rechtes lernen, er muß sich anstrengen. Mit Schmerzen und Entbehrungen trifft ihn das Leben. Wir werden es begreiflich finden, daß dieser junge Mensch recht wenig sympathisch berührt ist von den Schmerzen, die er durchzumachen hat. Nehmen wir an, der betreffende Mensch erreicht sein fünfzigstes Lebensjahr. Dadurch, daß er damals etwas hat lernen müssen, ist er ein ordentlicher Mensch geworden. Er steht nun fest im Leben und kann sich sagen: So wie ich meine Leiden und Schmerzen damals beurteilt habe, war es im damaligen Zeitpunkte begreiflich; jetzt muß ich aber anders darüber denken, jetzt muß ich sagen, daß mich die Schmerzen nicht hätten treffen können, wenn ich dazumal schon alle Vollkommenheiten, wenn auch nur die beschränkten Vollkommenheiten eines achtzehnjährigen Menschen, gehabt hätte. Hätten mich aber die Schmerzen nicht getroffen, wäre ich ein Taugenichts geblieben. Der Schmerz war es, der die Unvollkommenheiten verwandelt hat in eine Vollkommenheit. Diesem Schmerz muß ich es verdanken, daß ich jetzt ein anderer Mensch bin als vor vierzig Jahren. Was hat sich denn dazumal eigentlich bei mir zusammengefunden? Es hat sich zusammengefunden meine Unvollkommenheit, in der ich damals war, und mein Schmerz. Und meine Unvollkommenheit hat gleichsam meinen Schmerz gesucht, damit sie vertrieben werden könnte, damit sie sich in Vollkommenheit verwandeln könne.
Wien, 8.Feb.1912 ♃ (aus «GA 130»; S.246f)
3 So müssen wir sagen: Alles, was uns entgegentritt in der Welt als von außen kommendes fortgesetztes menschliches Übel, als Krankheit und Tod, das ist da, damit wir Menschen an das Erdendasein so lange gefesselt bleiben, bis wir Gelegenheit haben zum Gutmachen, damit wir eine Erziehung haben, uns an unsere Organisation anzupassen. Wir leiden, damit wir aus unserem Leid heraus die Erfahrungen schöpfen, den Ausgleich zu finden für unser von Luzifer durchzogenes Ich und unsere göttlich durchzogene Organisation. Unsere Organisation entfällt uns so oft, bis wir uns ganz durchdrungen haben in unserem Ich von den Gesetzen der im göttlichen Sinne fortschreitenden Evolution. Jeder Tod ist damit der Ausgangspunkt für etwas anderes. Es kann der Mensch nicht sterben, ohne daß er mitnimmt das, was ihm die Möglichkeit gibt, einstmals den Tod zu überwinden in seinen fortlaufenden Inkarnationen. Alle Schmerzen sind da, damit wir aus den Leiden heraus die Erfahrungen schöpfen, wie wir uns unserer fortlaufenden göttlichen Organisation anzupassen haben. Diese Frage kann aber nicht ohne weiteres außer dem Zusammenhange mit der ganzen Evolution behandelt werden.
Stockholm, 17.Apr.1912 ☿ (aus «GA 143»; S.139)
4a Das andere aber ist, daß man nicht zu diesem intuitiven Erkennen, zu diesem Untertauchen in die äußeren Dinge kommen kann, ohne daß man durch ein gesteigertes Leiden durchgegangen ist, gesteigert gegenüber demjenigen Schmerz, den ich schon früher bei der imaginativen Erkenntnis charakterisieren mußte, indem ich sagte, daß man sich ja mit Mühe erst wiederum hineinfinden muß in seine Sympathien und Antipathien, was eigentlich immer, wenn es geschehen muß, schmerzt. Jetzt wird der Schmerz zu einem kosmischen Miterleben alles Leidens, das auf dem Grunde des Daseins liegt.
4b Man kann leicht fragen, warum die Götter oder Gott das Leiden schaffen. Das Leiden muß da sein, wenn sich die Welt in ihrer Schönheit erheben soll. Daß wir Augen haben - ich will mich populär ausdrücken -, das rührt nur davon her, daß zuerst in einem noch undifferenzierten Organismus gewissermaßen ausgegraben worden ist dasjenige an Organischem, was zur Sehkraft und dann umgewandelt zum Auge geführt hat. Würden wir heute noch die kleinen, unbedeutendsten Prozesse wahrnehmen, die in unserer Netzhaut beim Sehen vor sich gehen, so würden wir wahrnehmen, daß selbst das ein auf dem Grunde des Daseins ruhender Schmerz ist. Auf dem Grunde des Leidens ruht alle Schönheit. Schönheit kann sich nur aus dem Schmerz heraus entwickeln. Diesen Schmerz, dieses Leiden, man muß sie fühlen können. Nur dadurch kann man sich wirklich hineinfinden in die übersinnliche Welt, daß man durch Schmerz hindurchgeht. Das kann man schon in einem minderen Grade auf einer niederen Stufe der Erkenntnis sagen. Jeder, der sich ein wenig Erkenntnis erworben hat, wird Ihnen ein Geständnis machen können; er wird Ihnen sagen: Für das, was ich Glückliches, Erfreuliches im Leben gehabt habe, bin ich meinem Schicksal dankbar, meine Erkenntnisse aber habe ich nur durch meine Schmerzen, nur durch meine Leiden errungen.
4c Fühlt man das schon im Anfange niederer Erkenntnis gegenüber, so kann man es durchleben, indem man sich überwindet, indem man sich durch den Schmerz, der als kosmischer Schmerz gefühlt wird, hindurchwindet zum neutralen Erleben im geistigen Kosmos. [...]
Oxford, 20.Aug.1922 ☉ (aus «GA 214»; S.139f)
Ergänzung
5 To V. Subrahmanya Iyer¹
London
10. IX. 1937
Dear Sir,
Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß es ein edles Streben der Philosophie ist, nach einem Weg zum Glück für die ganze Menschheit zu suchen. Natürlich kann man dieses Ziel nicht erreichen, ohne das Leiden aus der Welt zu schaffen. Die Philosophie muß einen Weg finden, die Vernichtung des Leidens herbeizuführen, um den Glückszustand zu erreichen. Allerdings scheint es mir recht anspruchsvoll, das Leiden aus der Welt schaffen zu wollen, und ich bin nicht so optimistisch, an die Erfüllung einer solchen Aufgabe zu glauben. Im Gegenteil: ich glaube, daß Leiden ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens ist, ohne den wir niemals irgend etwas tun würden. Immer versuchen wir, dem Leiden auszuweichen. Wir tun das auf millionenfache Weise, aber nie gelingt es ganz. Deshalb bin ich zum Schluß gekommen, daß man tunlichst versuchen sollte, wenigstens einen Weg zu finden, der es den Menschen ermöglicht, das unausweichliche Leiden zu tragen, welches das Los einer jeden menschlichen Existenz ist. Wenn es jemand wenigstens erreicht, Leiden zu ertragen, hat er schon eine fast übermenschliche Aufgabe erfüllt. Das kann ihm ein gewisses Maß an Glück oder Befriedigung gewähren. Wenn Sie das als Glück bezeichnen, hätte ich nicht viel dagegen einzuwenden.
[...]
Yours faithfully,
C.G.Jung
¹ V. Subrahmanya Iyer war der Guru des Maharadscha von Mysore, bei dem Jung während seiner Indienreise im folgenden Jahr als Gast weilte. 1937 war Iyer Vertreter Indiens beim «Internationalen Philosophie-Kongreß» an der Sorbonne. Jung hatte ihn damals, zusammen mit Paul Brunton, dem englischen Autor zahlreicher Bücher über Yoga und indische Philosophie, nach Küsnacht eingeladen, wo es zu langen Gesprächen über Probleme der indischen Philosophie kam.
aus «100 Briefe»; S.50f
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit111000182.htm