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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Carl Jacob BURCKHARDT zum
CALVINISMUS
1a Calvin beruft sich wie Luther und Zwingli auf eine einzige Autorität, die älteste in der Geschichte des Christentums; er beruft sich auf die Heilige Schrift, er setzt sie absolut.[a] Geistiges Bemühen um menschliches Verhalten und Zusammenleben kann nach ihm nichts andres sein als Exegese des in der Schrift offenbarten Gesetzes. Gott ha[be], so lehrt Calvin, in seiner Güte den im Sündenstand verlorenen, um Kenntnis der Wahrheit und Urteil gekommenen Menschen das Gesetz belassen. Durch das ausschließliche Zurückgreifen auf die Schrift leugnet der Reformator jede Entwicklung, Vertiefung oder Erweiterung, die das Christentum seit fünfzehnhundert Jahren erfahren hat und weiterhin erfahren könnte. Das Wort der Schrift rag[e] als ein Stück Ewigkeit in die verderbte, vergängliche Welt hinein und überdauer[e] alle Erscheinung, es bleib[e] bestehen. Von diesem zentralen Standpunkt aus will Calvins entscheidende Tat nicht geschichtlich, das heißt, relativ zum Ablauf des Geschehens, gewertet werden, denn im Geiste ihres Vollbringers vollzieht sie sich außerhalb der Geschichte. Da Calvin aber ein Mensch mit menschlichen Gebrechen und das Kind seiner Zeit ist, trägt seine Auslegung und Anwendung der Bibel Züge, die individualpsychologisch und zeitgeschichtlich aufschlußreich sind. Sodann hat seine Wirkung Massen von Leidenschaften, Widerständen und Mißverständnissen in Bewegung gesetzt, die innerhalb der Zeitgeschichte fortwirkten.
1b Wenn man von Calvins Theokratie [eigentl. Priesterherrschaft] spricht, muß man die staatsrechtlichen Vorgänge, die sich zu Calvins Zeit, im Verlauf der Säkularisation, im Stadtstaat Genf abgespielt haben, und den ganz bestimmten Einfluß, den der Reformator auf diese Vorgänge ausübte, scharf auseinanderhalten.
1c Für Calvin ging es nie um die Herrschaft der Kirche über die weltliche Obrigkeit, sondern nur um deutliche Abgrenzung der Befugnisse zwischen Kirche und Staat. Es ist in der Tat der eigentümlichste Zug im politischen Erkennen dieses politisch so ungeheuer begabten Reformators, daß er, im Unterschied zu Luther und Zwingli, die Omnipotenz des Staates voraussah und ihr mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln als einer seiner Ansicht nach tödlichen Gefahr entgegenwirkte. Zweierlei hat Calvin bei seinen Lebzeiten bekämpft: einmal die Besitzergreifung der protestantischen Kirchen durch den Staat, sodann das dogmenfeindliche, das anarchische, das schweifende Element, das durch die Reformation erst völlig frei geworden, die Kirchen auflöste, den Protestantismus in Sekten zersplitterte oder auf dem Wege über Pantheismus und Deismus zur Agnostik führte. Alle Nöte, die den Protestantismus seit dem 16. Jahrhundert befielen, hat Calvin vorausgesehen und bis zur äußersten Härte bekämpft.
S.99f
2 Die Zeitgenossen, die sich um Calvin geschart haben, die seiner Lehre entsprachen, haben sich in der Folge in vielen Spielarten auseinanderentwickelt. Eines ist ihnen gemeinsam geblieben: der Glaube an das Widerstandsrecht. Widerstandsrecht im Namen von [jeweils selbst ausgelegtem] Gottes Gesetz, später vielfach im Namen jener einzigen menschlichen Eigenschaft, die Calvin als durch die Erbsünde nicht völlig ausgetilgt betrachtete: des Gewissens.
S.102
aus „Calvin und die theokratische Staatsform” in «Gesammelte Werke 2»
a] vgl. zur Ideologiekritik
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit028180099.htm