zum IMPRESSUM
Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Wolfgang SCHAD zur
NATURFORSCHUNG
1 Wer sich mit der Natur beschäftigt, so wie sie uns vor Augen und Ohren liegt, und zugleich die Naturwissenschaft mit ihrer Überfülle an Ergebnissen studiert, macht die Erfahrung durch: Es sind längst zwei verschiedene Tätigkeiten geworden, sich der unmittelbar gegebenen Natur zuzuwenden oder die geläufige Naturwissenschaft zu treiben. Diese Wissenschaft entstand, als mit dem Beginn der Neuzeit das Denken der Menschen einen engen Bezug zur sinnlich wahrnehmbaren Umwelt fand. Die ersten Naturforscher, man denke nur an einen Leonardo da Vinci, einen Leibniz, einen Linné, schulten dafür ihre Beobachtungsfähigkeit, die bald vom Mikroskop und Fernrohr unterstützt, heute bis zum Gesichtskreis des Elektronenmikroskops und Radioteleskops [a] erweitert worden ist. Daneben bildete man Denkverfahren aus, die die Denkinhalte auf Modelle, letztlich sogar ohne Vorstellungsbilder bis zur Begriffsstenographie von Rechenverfahren,[b] reduzierten. Eine Naturwissenschaft entstand, die die Natur nicht mehr direkt mit dem Auge besieht, sondern wahrnehmungssteigernde Sehhilfen dazwischenstellt, und die immer seltener die Erscheinungsfülle direkt im Anschauen überdenkt, sondern Korrelations-, Wahrscheinlichkeits- und Näherungsrechnung ansetzt, um zu ermitteln, ob das jeweilige Objekt überhaupt zu bedenken lohnt. Vor die Erscheinungswelt schoben sich die Sinnesapparaturen und vor die unmittelbare Urteilskraft ein ebenso hoch ausgebildetes Denkinstrumentarium. Die Vorteile, die damit erreicht werden, liegen auf der Hand: Der erforschte Weltbereich wird räumlich erweitert und ist zeitlich rationeller zu verarbeiten.
2 Was sind die Nachteile? Wer diese Sinnes- und Denktechnik nicht zur Verfügung hat, der findet zu den Ergebnissen immer weniger die nachvollziehbare Verständnismöglichkeit, Die Ergebnisse sind für die meisten Menschen zwar in ihren zivilisatorischen Folgen, aber nicht mehr bewußtseinsmäßig relevant. Was die heute bekannte Forschung gewonnen hat, erkaufte sie durch eine auffällige Isolation vom allgemein-öffentlichen Bewußtsein.
3 Noch merkwürdiger aber ist es, daß der heutige Spezialist auch Kontaktschwierigkeiten zu seinem eigentlichen Objekt, zur Natur selbst, bekommt. Je mehr sich die Sinnes- und Denkprothesen vervollkommneten, desto mehr geriet er in die Lage, nicht die Natur als solche, sondern nur noch den Teil von ihr, der im Sieb des dazwischengeschalteten Instrumentariums hängenbleibt, zu studieren (Bünning, Heisenberg). Er betreibt nicht eine Wissenschaft der Natur, sondern betrachtet nur den Anteil der Natur, der durch die eigene Methodik ausgesondert wird. Insoweit ist das Wort Naturwissenschaft unzutreffend geworden. Er treibt keine Wissenschaft von der Natur, sondern eine Wissenschaft von dem, was von der Natur im Sieb seines Methodenkonzeptes hängenbleibt.¹ [...]
[...]
4 Es ist merkwürdig, aber für das Ausgeführte bezeichnend, daß die lebendige Erscheinung dem forschenden Interesse noch weitgehend verschlossen blieb. Wir können heute freilich vieles über Erbinformation oder Atmungsphysiologie, über Gruppenverhalten und auslösbare Instinkte wissen, aber niemand sagt uns, wieso unter den Huftieren solch altbekannte Tiere wie Rind, Hirsch und Nashorn Kopfauswüchse haben, Pferd, Esel, der Tapir und die Kamele jedoch nicht. Die Molekularbiologie kennt ebensowenig wie die Verhaltensforschung [Ethologie] die Tiergestalt. Für die eine Forschungsrichtung ist sie lediglich die Summe aufgezwungener Anpassungserscheinungen, für die andere adressierte Reizauslösung. Aber das menschliche Bewußtsein wird den Verdacht nie loswerden, daß die Gestalt eines Lebewesens mehr darstellt, als was anthropomorph-technomorphe Deutungen ergeben. Ein Tier ist sichtbarer Stoff, lebendige Gestalt und seelisches Vermögen. Wie hängt das alles zusammen und wie ist es aus sich selbst verständlich? Das ist die fortwährende Frage, die sich im Anblick des Tieres immer stellen wird.
S.9f
1 Die kausalanalytisch vorgehende physiologische Forschung weiß, soweit sie über sich selbst reflektiert, daß sie das Leben als solches nicht zu erforschen in der Lage ist. Erwin Bünning ([Ein Blick in die Lebensforschung. Rektoratsrede in «Universität Tübingen», Nr. 41:33. Tübingen] 1952) führte dazu aus:
«Nachdem wir einmal erkannt haben, was wir unter Leben im physiologischen Sinne verstehen, wird umso klarer, daß jenes wahre Leben, welches schon vor der Zeit der biologischen Forschung bekannt war, von den Biologen überhaupt nicht gemeint ist.»
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das wäre erst anders, wenn Urzeugung technisch vorzeigbar wäre. Auch die Einschleusung künstlich hergestellter DNA anstelle der natürlichen DNA in das Bakterium Myxoplasma durch Craig Venter 2010 (s. Gibson [, D. G.] et al.[: Creation of a bacterial cell controlled by a chemically synthesized Genome. Science 329:52-56. 2.10.]2010) setzt das lebende Cytoplasma dieser Vorzelle voraus, sonst fände kein weiteres Wachstum und keine Fortpflanzung durch Zellteilung statt, wie Venter selbst weiß (Kastilan, [S.: Vier Flaschen für ein Heureka. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 116:33; 21.5.]2010).
So wird vielfach nur der durch quantifizierende Methoden abgesonderte Teil der Natur in Betracht gezogen. Dabei bedeutet die Methode selbst einen Eingriff in den zu erforschenden Zusammenhang.[c] Heisenberg ([, W.: Das Naturbild der heutigen Physik. Rowohlts deutsche Enzyklopädie Nr. 8:21. Reinbek] 1958⁶) formulierte diesen Sachverhalt allein schon innerhalb der Quantenphysik in seiner Konsequenz:
«Die wissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewußt, die ihr dadurch gesetzt sind, daß der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, daß sich die Methode also nicht vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein.»
Was jeweils als naturwissenschaftlicher Inhalt verhandelt wird, ist immer von dem Verhandler, von Menschen, mitbedingt und so auch vom historischen Wandel.
S.1161
aus «Säugetiere und Mensch»
a] sowie Weltraumsonden
b] vgl. Galilei zur Mathematik als Sprache der Natur
c] siehe F.Bacons Idola theatri
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit028010009.htm