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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Günter RÖSCHERT zu
GEOMETRIE, ZAHL und BEGRIFF
1 Für die Anwendung der Zahl auf die Geometrie in breitem Stile ab dem 11. Jahrhundert war der Einfluss indisch-arabischer Kalkül- und Rechentechnik entscheidend. Die anschauliche Geometrie der Formen und Konfigurationen wurde in der Folge immer mehr durch die unanschauliche analytische Geometrie verdrängt. Als deren Begründer gilt René Descartes.²⁷ In der modernen Geometrie ist die Anschaulichkeit zwar nicht völlig verschwunden, jedoch an den Rand gedrängt. Die algebraische Geometrie steht im Mittelpunkt des Interesses.
2 Es ist für die Erkenntniskräfte des Menschen etwas völlig anderes, ob eine geometrische Kurve mit dem inneren Anschauungsvermögen verfolgt werden kann oder ob anstelle der Kurve eine Gleichung steht, die es ermöglicht, jeden Punkt der Kurve innerhalb eines Koordinatensystems zu berechnen.[a] Nicht etwa um den Unterschied zwischen primitiven quasisinnlichen Vorstellungen und dem reinen Denken handelt es sich. Die Grundelemente der Geometrie sind selbst übersinnlicher Art, ebenso wie sich Zahlen in der Sinneswelt zwar ausdrücken, aber als solche nicht erscheinen. Die Geometrie ist jedoch in einer qualitativ anderen Art im menschlichen Organismus verankert als das Zahlenreich. Die Arithmetisierung und Algebraisierung der Geometrie bedeutet den Ausschluss des Miterlebens mit den geometrischen Formverwandlungen.²⁸
3 Der Raum ist eine Idee, und seine Strukturelemente Punkt, Gerade, Ebene sind ebenfalls Ideen (Begriffe). Die Inhalte dieser Begriffe werden nicht durch Abstraktion aus der Stoffeswelt gewonnen, wie Aristoteles meinte, vielmehr ordnen sich die Gegenstände der Sinneswelt nach den im reinen Denken erfassten (inspirierten) Begriffen und Ideen. Begriffe und Ideen sind - soweit es sich nicht um bloße Nomina handelt - der Schatten der auf sich selbst beruhenden geistigen Wirkenswelt. Die geistige Natur der Begriffe ante rem (vor den Dingen) wird innerhalb der irdischen Welt bewusst durch das reine Denken post rem (nach den Dingen). Wird im Vordringen zur Erfahrung des Begriffs erkannt, dass in ihm die geistigen Formkräfte des Universums liegen, so kommuniziert der Erkennende mit den Begriffen in rebus (in den Dingen). Für die Grundbegriffe der Zahlentheorie gilt ebenso wie für die geometrischen Grundbegriffe - der Ideenrealismus. Werden geometrische Sachverhalte aber arithmetisch - durch Gleichungen - dargestellt, so hat dieser Reduktionsvorgang zur Folge, dass sowohl die Zahlenverhältnisse als auch die geometrischen Sachverhalte nur mehr nominalen Wert erhalten. Eine seelische Verbindung, wie sie für den Realismus charakteristisch ist, besteht nicht mehr.²⁹ ³°
4 Es geht in der Mathematik stets um das Entdecken objektiver geistiger Gesetze; um aber die Inspiration der Forscher festhalten zu können, müssen geeignete Formalismen erfunden werden.³¹ Wird das Erfinden absolut gesetzt, so geht die geistige Wirklichkeitswelt der Mathematik verloren und die Organeigenschaft des Denkens wird vergessen.³² Die großartigen Ergebnisse der formalistischen Mathematik sind als solche rückhaltlos anzuerkennen. In ihren Anwendungen sind sie aber ethisch nicht mehr indifferent, wie besonders die Entwicklung der Militärtechnik zeigt.³³ Die Mathematisierung unserer Welt³⁴ beschleunigt sich ständig und steigert damit die Macht des Nominalismus als Lebenshaltung. Dieser ist aber gerade durch die mathematische Grundlagenforschung prinzipiell widerlegt.³⁵
5 Vom Gesichtspunkt des Platonismus aus nimmt die Mathematik eine Mittelstellung zwischen der sinnlichen und der geistigen Welt ein. Das Denken der reinen Mathematik führt propädeutisch hinaus in die reine Ideenschau. Die formal-mathematische Beschreibung der Welterscheinungen führt dagegen hinunter in die technische Verfügbarkeit der Dinge und in deren Denaturalisierung. Der mathematischen Methode verfallen alle Bereiche, die eine hinreichend große Anzahl von Einzelobjekten enthalten, einschließlich der Logik. Damit ergreift die Welle der Mathematisierung auch Geisteswissenschaften: Kommunikationstheorie, Linguistik, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Psychologie, Ästhetik. Qualitative Merkmale treten zurück. Wahrheit wird zur Widerspruchsfreiheit formaler Zeichensysteme.
6 Trotz der enormen Überzeugungskraft mathematisierter Wissenschaft lebt auch der Mathematiker in nicht quantifizierbaren unmittelbaren Erlebnisformen seines Innern. Diese tagtäglichen Erfahrungen sind aber in der Regel psychischer, nicht geistiger Art. Der Geist wurde in die definiten Formeln der mathematisierten Wissenschaften hinein versiegelt.
7 Die in der Mathematik besonders deutliche Entwicklungstendenz ist auf allen Gebieten des westlichen Geisteslebens zu beobachten. Formales Denken greift um sich, übt auch in breitem Rahmen soziale und politische Wirkung aus.³⁶
S.79ff
27 Klaus Mainzer: Geschichte der Geometrie, Mannheim, Zürich, Wien 1980.
28 Vgl. den Vortragszyklus Rudolf Steiners: Naturbeobachtung, Mathematik, wissenschaftliches Experiment und Erkenntnisergebnisse vom Gesichtspunkt der Anthroposophie (GA 324).
29 Die Kontroverse zwischen Realismus und Nominalismus kann heute nur mehr durch Erfahrung von Fall zu Fall, nicht theoretisch [wie in der Scholastik] geführt werden.
30 Sophus Lie, der norwegische Gruppentheoretiker des 19. Jahrhunderts, schreibt in einer seiner Abhandlungen: »... bestimmen wir den Unterschied zwischen der analytischen und der synthetischen Methode dahin, dass der Synthetiker mit den Begriffen räsonniert, der Analytiker nach festen Regeln rechnet ...«
31 Louis Locher Ernst: »Entdecken oder Erfinden?« Elemente der Mathematik IX, Nr. 2, 1954.
32 Vgl. Rudolf Steiner: Einleitungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften (GA 1, Teil VI): »Das Denken hat den Ideen gegenüber dieselbe Bedeutung wie das Auge dem Licht, das Ohr dem Ton gegenüber. Es ist Organ der Auffassung«.
33 Moderne Raketensysteme bestehen aus einem Computer mit angehängter Abschussrampe. Die neusten Einsätze dieser und ähnlicher Waffensysteme fanden im unmittelbaren Ausstrahlungsbereich des alten, inzwischen versunkenen Gondischapur statt. Vgl. dazu Heten Wilkens in Die Drei, Heft 3/1991.
34 Gerhard Frey: Die Mathematisierung unserer Welt, Stuttgart 1967, Urban Tb 105.
35 Durch die Gödelschen Sätze. Vgl. Ernest Nagel, James R. Newman: Der Gödelsche Beweis, München, Oldenbourg 1964.
36 Die ethischen Quellen mathematischen Denkens sind in elementarer Art an Beispielen dargestellt in: G. Röschert: Ethik und Mathematik, Stuttgart 1985.
aus «Für die Sache Gottes»
a] vgl. zB. Cassini-Kurve
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit026940079.htm