![]() |
zur Übersicht |
Zitatensammlung Teil 2 |
Zitat von Jean GEBSER zur |
NEUEN ARCHITEKTUR |
1 Frank Lloyd Wright verweist darauf, daß in der neuen Architektur der Raum auf eine neue Art, nämlich durch die Zeit, gemessen werde. »Das neue Richtmaß für den Raum« besteht in dem »Messen des Raumes durch Einheiten der Zeit«.⁸° Besonders auch für die neue Siedlungs- und Städteplanung stellte er, indem er sich auf die Auswirkungen der Technisierung, vor allem des Automobilwesens, beruft, fest: »Es ist bemerkenswert, daß nicht nur Raumwerte sich völlig in Zeitwerte verwandelt haben, die einen neuen Maßstab bilden, sondern daß wir einen neuen Raumsinn besitzen«.⁸¹ Wie äußert sich das architektonisch? Indem die berühmt gewordene Maxime »Form follows function (Die Form folgt der Funktion)« weitgehend Gültigkeit erhielt und angewandt wurde. (Sie stammt übrigens nicht, wie allgemein angenommen wird, von Louis Sullivan, sondern, worauf Wright⁸² hinweist, von Sullivans Lehrer, Dankmar Adler, [...]) Übrigens ist das Funktionelle, das diese »f-f-f«-Formel zum Ausdruck bringen soll, oft mißverstanden worden, da es nicht dynamisch, sondern pragmatisch abgewandelt als zweckgerichtet interpretiert worden ist.⁸⁴ Da nun in der Architektur der Zeitaspekt sich nur als Dynamik und Bewegung äußern kann, ist es aufschlußreich zu wissen, daß ein bestimmter Bautyp auch in Amerika von nachhaltiger Wirkung gewesen ist, der mit der statischen, nur raumgebundenen Bauweise bisheriger Art brach. Es handelt sich um den deutschen Pavillon auf der Weltausstellung von Barcelona (1929), der von Mies van der Rohe erstellt wurde. Elizabeth Mock vom »Museum of Modern Art« in New York schreibt über dieses Bauwerk: »Er entwickelte dabei eine glänzende und durchaus originelle Manier, welche in den Vereinigten Staaten ... mit ungewöhnlicher Begeisterung aufgenommen wurde. Dach und Mauern, die ohne feste Beziehung zu dem regelmäßigen Muster der tragenden Säulen gestellt sind, werden somit zu unabhängigen, einander schneidenden Flächen, um ein beständiges Fließen des Raumes auszudrücken. Darin lag etwas von Wrights betontem Oberdach und einer lebhaften gegenseitigen Durchdringung des Raumes, aber auch eine Leichtigkeit, eine Ordnung und eine Unterscheidung zwischen Struktur und Wandfläche, die in engen Beziehungen zu LeCorbusier stand«.⁸⁵ |
![]() |
2 Diese Charakterisierung ist nun nicht etwa eine theoretische Deutung einer architektonischen Gegebenheit, sondern Ablesung ihres Wesens. Und es ist auffallend genug, daß diese Ablesung Elemente namhaft macht, die für die aperspektivische [a] Realisation symptomatisch sind. Die festen Beziehungen weichen flexibleren: die Berücksichtigung des Zeitelementes als Bewegung löst den starren Raum, lockert ihn, bringt ihn zum Fließen; eine Welt der Übergänge und der Zusammenhänge tritt an Stelle der durch bloße Wände abgekapselten Räume; statt einer Teilung (durchaus im Sinne des Rationalen) erfolgt eine Verschmelzung, und der abstrakte Raum wird zu einem konkreten Raum-Zeit-Kontinuum, das unverhaftet Leichtigkeit ausströmt; die trennenden und teilenden Wandflächen werden klar von der Struktur unterschieden; auf ihr, nicht auf den Wänden allein, liegt jetzt die Betonung. |
3 Die durch den Einbruch der Zeit bewirkte Auflockerung des Raumes springt vielleicht nirgends so deutlich ins Auge wie in den besten Schöpfungen der neuen Architektur, die in diesem Sinne durchaus vierdimensional, also aperspektivisch ist. Gewiß, auf den ersten Blick kann sich unser seit Jahrhunderten die erfrorenen »harmonischen« Proportionen gewöhnter Blick mit dieser neuen »funktionellen« (Sullivan/Adler), aber auch »organischen Architektur« (Wright) kaum befreunden. Sie ist so wenig harmonisch (im alten Sinn des Wortes), als die Musik etwa eines Schönberg »harmonisch« ist, der zu verstehen gab, daß Harmonie (im alten Sinne) Nebensache sei;⁸⁶ sie sind a-harmonisch (und nicht etwa (un-harmonisch!). Oder besser, nämlich in die architektonische Terminologie übertragen: die neue Architektur ist a-proportional. Das jedenfalls drückt Wright aus, wenn er, bezeichnenderweise, von den überalterten »Systemen [!] der Proportion« spricht und sagt: »Proportion selbst ist nichts. Sie ist eine Angelegenheit der Beziehung zur Umgebung, die sich immer durch jeden sowohl äußeren als inneren Grundzug verändert«.⁸⁷ Diese Architektur ist stil-frei in dem gleichen Maße, wie die neue Musik takt-frei ist, da ein Stil, wie Wright sagt, nichts anderes ist als: »irgendeine Form geistig-seelischer Verstopfung«.⁸⁸ Denn »Bei jeder richtigen Auffassung von organischer Architektur ist Stil der Ausdruck des Charakters. Es ist keine Rede mehr von Stilen«.⁸⁹ Jedoch: »Wahrer Stil kann immer in der Struktur und dem Zweck des Gebäudes gefunden werden ... Darum wird Stil erreicht, weil Charakter (das Geheimnis des Stils) Ausdruck ist des Prinzips, das von innen nach außen baut - ein Prinzip, das Gültigkeit hat für alle Architekten, die die Wirklichkeit mehr lieben als jedes noch so klassische Rezept«.⁹° Also Stil nicht als Schablone, als von außen aufgezwungene vorsätzliche Norm, sondern als Qualität innerer, charakterlicher Sicherheit. Auch das Auftauchen dieses qualitativen Elementes ist symptomatisch; es erinnert uns unmißverständlich an den qualitativen Charakter der »Zeit« als Urphänomen [b]. |
aus „Ursprung und Gegenwart - Zweiter Teil” in «Gesamtausgabe Band III»; S.620ff |
⁸° Frank Lloyd Wright, a.a.O. [When
Democracy Builds; University of Chicago Press, Chicago, ²1945. - Die
deutsche Ausgabe erschien zweisprachig unter dem Titel »Usonien«;
Mann, Berlin, 1950.], S. 96. ⁸¹ Frank Lloyd Wright, a.a.O., S. 61. - Die Hervorhebungen stammen von Frank Lloyd Wright. ⁸² Frank Lloyd Wright, On Architecture; Selected Writings; Duell, Sloane and Pearce, New York, ³1941; p. 200-201. ⁸⁴ Adolf Portmann, Die Gestalt - Das Geheimnis des Lebendigen; in: »Jahresring 1961/62«; Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1961; S. 13f.; verweist auf die hier angedeutete Fehlinterpretation und Fehlanwendung der »f-f-f-Formel« beispielsweise durch Henry van der Velde. Diese Formel wird von den späteren Architekten und auch von uns nicht mehr im Sinne des Galileischen Funktionalismus verstanden, also nicht »funktional«, sondern »funktionell« als Ausdruck für das Ausbrechen aus der Statik und für die den Linien als solche innewohnende Dynamik. Auf diesen Unterschied in der Bedeutung der Wörter »funktional« und »funktionell« mußte, um Mißverständnisse auszuschließen, hingewiesen werden. [...] ⁸⁵ Elizabeth Mock, Built in USA since 1932; The Museum of Modern Art, New York, distributed by Simon and Schuster, Inc., New York, 1945. - Wir zitieren im folgenden nach der deutschen Übersetzung, die in der Seitenzählung mit der amerikanischen Ausgabe übereinstimmt; sie erschien unter dem Titel: »In den USA erbaut 1932/1944« im Metopen-Verlag, Wiesbaden, 1948. Siehe dort S. 22. ⁸⁶ Siehe die diesbezüglichen Ausführungen bei Werner Kaß, a.a.O. [Die Tonsystematischen Grundlagen der akkordharmonischen Musik (Manuskript-Arbeitstitel), worin das Vorherrschen des (männlichen) Dur-Tongeschlechts, das ausgesprochenen „Richtcharakter” habe, für die klassische Musik nachgewiesen wird.]. ⁸⁷ Frank Lloyd Wright, a.a.O. (⁸²), p. 161. - Der Originaltext lautet: »Proportion is nothing in itself. It is a matter of relation to environment modified always by every feature, exterior as well as interior«. ⁸⁸ Frank Lloyd Wright, a.a.O. (⁸²), p. 161. - Der Originaltext lautet: »A style is some form of spiritual constipation«. ⁸⁹ Frank Lloyd Wright, a.a.O. (⁸°), p. 71. ⁹° Diese Aussage Frank Lloyd Wrights findet sich im Ausstellungskatalog (1952) des »Kunsthauses Zürich«: Frank Lloyd Wright; S. 14. |
in «Gesamtausgabe Band IV»; S.175f |
a] siehe ders. zum Perspektivenbegriff b] vgl. »TzN Feb.2007« |
nach oben oder zur Übersicht |
revid.202507 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit012280620.htm |