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Zitatensammlung
Teil 2
Zitat von Herman GRIMM zur
FORM der KRITIK
1 Ich sagte oben, Bücher bestehen, Kritiken vergehen; bei den Ausnahmen von dieser Regel hatte ich ein Verhältnis im Sinne, das, wo es sich um die augenblickliche Wirkung öffentlicher Besprechungen handelte, als nebensächlich nur angedeutet werden konnte. Ich sprach nur von den Kritiken, die den Werken gleichzeitig sind, von denen sie handeln; reichen Werke und Kritiken in spätere Generationen hinein, so kann allerdings der Fall eintreten, daß ohne die gedruckte Kritik an das Werk überhaupt nicht mehr gedacht werden würde. Die Kritik von Büchern und Kunstwerken hat eine literarische Form geschaffen, die von den vornehmsten Schriftstellern angewandt und ausgebildet worden ist. Hier wird der Gegenstand fast zur Nebensache. Eine unbedeutende, durch frisches Eintreten für den Moment aber zu Gedanken anreizende Arbeit liefert dem bedeutenden Geiste Stoff zu literarischer Produktion. Was man selbst über den Gegenstand an Gedanken in sich aufgespeichert trug, schießt nun zu einem Ganzen zusammen und rundet sich ab. Neue Gedanken treten hinzu. In der Frische des unmittelbaren Entstehens gehören solche Kritiken oft mit zum Wertvollsten, was ein Schriftsteller geschaffen hat. [...] In der Art, wie die Absicht eines Autors dargelegt und zugleich ein Urteil über seine gesamte Tätigkeit abgegeben wird, zeigt sich hier die Meisterschaft des Kritikers; bei Kunstwerken in der Fähigkeit, die Darstellung im Worte umzusetzen. Die Aufgabe, ein Kunstwerk so zu beschreiben, daß es sich vor den Augen dessen, der es gar nicht gesehen hat oder sich seiner nur dunkel erinnert, organisch aufbaut, gehört zu den schwierigsten der Schriftstellerei. Hier spielt seine persönliche Begabung eine bedeutende Rolle, und literarische Kultur ersetzt sie zuweilen nicht. [...] Der zweite Teil des Faust enthält eine Anzahl gleichsam abgeschlossener Gemälde, bei denen man die Schule unterscheiden möchte, aus der sie stammten: antik, italienisch, niederländisch, deutsch (im Sinne Dürers). Wie anschaulich und durchaus sachgemäß sind Goethes Berichte über die eine Zeit lang in Weimar eingerichteten Konkurrenzausstellungen. [...] Speziell Goethes einzelne Kunstkritiken sind von hohem Werte und lehrreich. Was ihre Form anlangt, steht Goethe über Lessing, dem das Leben die künstlerische Erziehung versagte, der den Dingen zu nahe rückt, während Goethe sie aus einiger Entfernung in behaglicher Sicherheit vornimmt. »Sicherheit« soll hier das Gefühl vollendeter Erziehung in künstlerischen Dingen ausdrücken, [...]
2 Goethe war nicht nur bei den Künstlern jedes Zeitalters, sondern auch bei den Schriftstellern in die Schule gegangen. Unter den antiken Autoren stehen in Beschreibung von Kunstwerken Lucian und Philostratus an vornehmster Stelle. Seltsam, jener, der bei weitem gewiegtere Autor, bringt es in seinen Darstellungen nicht zu rechter Farbe und Beleuchtung: Philostratus, mag gegen ihn gesagt werden was da will, beschreibt unübertrefflich gut. Sein Ton ist der des unschuldigen Erzählers, der zu Kindern redet. Die Anschauungen springen vor uns auf. Es ist ein Stück homerisches Talent in Philostrat. [...]
3 Die richtige Deutung eines Gemäldes und seine Beschreibung zeigen dem schaffenden Künstler sogleich, ob der Schriftsteller ihm ebenbürtig sei. Jedes Kunstwerk hat gewisse Stellen, in denen der Künstler sein Bestes gegeben zu haben glaubt: auf diese sofort hinzuzeigen und dem Künstler den Beweis zu führen, daß man verstanden habe, was er gewollt und erreicht oder auch nicht erreicht habe, erfüllt ihn mit Hochachtung vor dem Blicke dessen, der ihn beurteilt.
4 Es gibt eine Reife der Erfahrung, die einen gebildeten Mann befähigt, über geistige Produktionen jeder Art ein gehaltreiches und förderndes Urteil abzugeben. Er und seinesgleichen, mögen sie nun sich privatim aussprechen oder ihre Ansicht gedruckt zu erkennen geben, sind die [a], von denen die öffentliche Meinung getragen wird. Er wird, wenn er seiner Neigung nach sich zum Realismus in der Kunst bekennen sollte, ein in idealem Sinne geschaffenes Kunstwerk auf den geistigen Gehalt hin trotzdem wohl zu schätzen wissen, und wiederum, wenn er etwa auf Seiten der Idealisten steht, eine aus der realistischen Schule stammende Arbeit oder ein aus deren Anschauung heraus wirkendes großes Talent anerkennen, ohne darum seinen eigenen Standpunkt zu verleugnen.
in „Wert und Wirkung der Kunstkritik”
aus «Essays»; S.150ff
a] eher: sollten die sein
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWzit006090150.htm