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Zitatensammlung
Teil 3: Lexikon
Artemis
Ártemis Ἄρτεμις (lyd. Artímis) ist ursprünglich eine ionische Jagdgöttin, welche Funktionen anderer Gottheiten zugesprochen erhielt. Die Tochter des Ζεύς (Zeús) und der Λητώ (Letó) ist Κύνϑία (Kýnthia ~ die vom Berg Kynthos Kommende) und erscheint vorwiegend als jungfräuliche Jägerin, die mit den sie begleitenden Nymphen die Wälder durchstreift. Ähnlich ihrem Bruder Ἀπόλλων (Apóllon) bringen ihre Pfeile sanften Tod oder plötzliches Verderben. Schrecklich ist ihr Zorn; möglicherweise waren ihr anfänglich sogar Menschen geopfert worden. Die Frauengöttin herrscht über die Heiligkeit freien Lebens, welches wohl die Mutterschaft, nicht jedoch die Ehegebundenheit kennt. Bis in die minoische Zeit lässt sie sich als Βριτομάρτις (Britomártis ~ zarte Jungfrau) zurückverfolgen, Homer nennt sie Ἀγροϑήρα (Agrothéra ~ die der Tiere) oder ποτνία ϑήρον (potnía théron ~ Herrin der Tiere). Auf Delos wiederum brachten die Frauen ihr Haaropfer zum Zeichen der Hingabe an die Λοχεία (Locheía ~ Göttin der Niederkunft). In Arkadien auf dem Peloponnes huldigten die Frauen mit orgiastischen Tänzen der Ἄρτεμις Ἀλφαία (Ártemis Alphaía) als Vegetations- und Fruchtbarkeitsgöttin, während sie in Karien im Kult der Grossen Mutter Ártemis Diana von Ephesos aufgeht, wo einst möglicherweise die Amazonen ihren Tempel hüteten. Unter dem Namen Ὀρϑία (Orthía) von den Bäumen findet sie sich in Sparta, als Βραυρόνια (Braurónia) in Athen, wo ihre Priesterinnen als Bärinnen ἀρκτοί (arktoi) gekleidet waren, was eine alte Bärengottheit vermuten lässt. Später wurde Ártemis Beherrscherin der Σελήνη (Seléne) und damit des Mondes. Ihr war als Φωσφόρη (Phosphóre ~ Lichtträgerin) ein Tempel im Hafen von Athen geweiht. (siehe auch Artemispriesterin)
ABGEBILDET ist sie geflügelt sowie begleitet von Bären oder Löwen, Hirschen und Vögeln, in Ephesos mit dem vielbrüstigen Brustschild.
nach «Lexikon der Götter und Dämonen»
und «Geschichte der religiösen Ideen Bd.1»; S.257ff
Artemis In der westlichen Kunst wird Artemis als die jungfräuliche Mond- und Jagdgöttin dargestellt, die die Wälder durchstreift mit ihrer Nymphenschar, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Sie meidet die Männer und tötet jedes männliche Wesen, das Interesse an ihr bekundet. Aber diese Gestalt war nur eine der Erscheinungsformen, die diese vielschichtige griechische Göttin annahm; denn sie war auch die «Übermutter» Artemis von Ephesos, ein Symbol der Fruchtbarkeit, und die kriegerische Artemis, besonders verehrt von den → Amazonen. Es ist schwer zu sagen, ob sie ursprünglich eine für alle Bereiche des Lebens zuständige Göttin war, die später in verschiedene Individualitäten aufgespalten wurde, oder ob ihre Vielfalt darauf zurückzuführen ist, daß sie Eigenschaften anderer Göttinnen übernahm, als ihre Anhänger zur Herrschaft über ganz Griechenland gelangten. Sicher ist, daß Artemis - wie in Ägypten → Isis und im Vorderen Orient → Ishtar - die vielschichtigen und teilweise konträr wirkenden Kräfte des Weiblichen repräsentierte. Insofern war auch ihr Wirken widerspruchsvoll: Sie war die Jungfrau, die die Promiskuität förderte. Sie war die Jägerin, die die Tiere beschützte. Sie war ein Baum, der Bär, der Mond. Sie war die Verkörperung einer Frau, die ebenso souverän wie flexibel durch ihr Leben schreitet und dabei verschiedene Rollen zu verschiedenen Zeiten annimmt. Alles in allem: Artemis war die personifizierte Enzyklopädie aller Möglichkeiten des Weiblichen.
Als Herrscherin über alle zu Lande lebenden → Nymphen regierte sie auch deren Reich, die Wälder und die Tierwelt darin. Sie lenkte die zum Dasein in freier Wildbahn notwendigen Instinkte, bestimmte als oberste Jagdherrin der Menschen den individuellen Tod der einzelnen Tiere und sicherte zugleich das Überleben der Art. Als unsichtbare, aber überall in der Natur präsente Wildhüterin tötete sie mit scharfen Pfeilen jeden, der ein trächtiges Tier oder Jungtiere jagte.
Artemis beaufsichtigte jedoch nicht nur die Fortpflanzung der Tiere, sondern auch die der Menschen, vom Geschlechtsakt bis zur Geburt. Selbst in späten Legenden, als ihre Herrschaft immer mehr von männlichen Göttern untergraben wurde, hieß es noch, Artemis, die Tochter des Zeus und der → Leto, sei als ältere Zwillingsschwester des Sonnengottes Apollon die Hebamme bei seiner Geburt gewesen. Deshalb riefen die griechischen Mütter sie zu Hilfe, wenn die Wehen begannen, und sie fanden Trost in dem Glauben, daß Artemis ihnen gewiß die gleiche Fürsorge zukommen lassen würde wie allen ihren geringeren Untertanen, den Tieren.
Der berühmteste Tempel mit der turmhohen Statue der vielbrüstigen «Mutter Artemis» stand in der Amazonen-Hauptstadt Ephesos und gilt als eines der sieben Weltwunder. Diese Artemis-Ephesia wirkte dermaßen gewaltig, daß man die Beschützende auch als eine Bedrohende anschauen konnte, und gerade auf diesem Gleichgewicht gründete sich ihre große Macht.
Die am meisten geliebte und meisten respektierte Göttin Griechenlands wurde in Ritualen geehrt, die ebenso volkstümlich wie ungezügelt waren, andererseits aber auch ebenso unterschiedlich wie die zahlreichen Ausprägungen der Göttin. In Ephesos dienten ihr jungfräuliche Priesterinnen, die → Melissae («Bienen») genannt wurden, und als Priester Eunuchen. In Sparta nannte man sie Karythalia, der mit orgiastischen Tänzen gehuldigt wurde. Die Amazonen ehrten sie als Kriegsgöttin Astateia in einem Kreistanz, begleitet vom Zusammenschlagen der Schilde und Schwerter und dem Stampfen der für die Schlacht mit Leder und Eisen umhüllten Beine. Doch offensichtlich waren die beliebtesten Feiern für Artemis jene, die in Vollmondnächten zelebriert wurden, wenn sich die Anbeter in den Wäldern der Göttin versammelten und sich ihrem Wohlwollen anvertrauten in ausgelassenen Feiern und wahllosen Vereinigungen. Die große Göttin der Griechen stellte zweifellos die Verkörperung des Naturgesetzes dar, das sich zu allen Zeiten ganz und gar unterschieden hat von den Gesetzen der Gesellschaft, sehr viel älter ist und viel dauerhafter.
aus «Lexikon der Göttinnen»; S.32f
Man erinnert sich wohl, daß die Große Mutter der Götter in Kleinasien, die neben ihrer Mütterlichkeit stark mannweiblich war, auch Große Artemis hieß. Unsere Artemis wird nie «Mutter» genannt, obwohl sie ihrer Mutter Leto ebenso nahe stand, wie dem Bruder Apollon. Sie war uns jungfräulich, aber in ihrer Strenge und Wildheit auch knabenhaft, wie eben jenes Mädchenalter ist, das sie beschützte. Es wurde erzählt⁴⁷°, sie habe vom Vater lauter neunjährige Gefährtinnen erbeten. In diesem Alter pflegten die Mädchen ihre Mutter zu verlassen und in den Dienst der Artemis zu treten, früher wohl alle, später nur einige dazu besonders bestimmte. Sie blieben im Dienst der Göttin, bis sie das bräutliche Alter erreichten. Die kleinen Dienerinnen der Artemis hießen in Athen arktoi, «Bärinnen». Artemis selbst muß irgendwann einmal als Bärin gegolten haben oder - einer älteren, südlicheren Tierwelt in Griechenland entsprechend - als Löwin.
Man erzählte viel von ihr, der jungfräulichen Jägerin, und von den jungfräulichen Gefährtinnen, die sie begleiteten. Wehe dem Mann, der sie beim Baden in den wilden Bächen und stillen Teichen erblickte! So wurde der Kreter Siproites⁴⁷¹ in eine Frau verwandelt, weil er die badende Artemis sah. Berühmt ist die Geschichte⁴⁷² des Aktaion, des Sohnes von Aristaios und Autonoe, deren Schwester Semele war, die Mutter des Dyonisos. Diese Leidensgeschichte wurde auf verschiedene Weise erzählt. Die bekannteste Form lautet so, daß Aktaion, den Chiron zum Jäger erzogen hatte, Artemis beim Baden überraschte. Die Göttin verwandelte ihn zur Strafe in einen Hirschen, sonst ihr Lieblingstier, diesmal ihr Opfer. Die fünfzig Hunde des Aktaion zerrissen ihren verwandelten Herrn, und Autonoe hatte schmerzliche Mühe, die Gebeine ihres Sohnes zusammenzusuchen [vgl. Isis]. Älter muß jene Erzählung gewesen sein, in der Aktaion, in Hirschfell verkleidet, sich der Artemis näherte. Sie wurde später so erzählt, daß der wilde Jäger der Artemis Gewalt antun wollte, oder daß er Semele begehrte, die von Zeus geliebt wurde, und daß es Artemis war, die ihm das Fell eines Hirschen um die Schultern warf. Zerrissen wurde er in allen Erzählungen.
Eine andere Begebenheit im Kreise der Artemis hatte zur leidenden Heldin eine der Gefährtinnen, namens Kallisto. So lautet als Eigenname das Wort Kalliste, die «Schönste», wie Artemis selbst hieß. Man erzählte⁴⁷³, Kallisto sei eine Nymphe gewesen, aus der Gefolgschaft der Artemis, eine Jägerin, die in der gleichen Tracht ging wie die Göttin. Sie hatte geschworen, jungfräulich zu bleiben. Verschiedene Erzähler gaben ihr verschiedene Väter: Nykteus, den «Mann der Nacht», Keteus, den «Mann der Ungeheuer», oder Lykaon, den «Wölfischen»; ja sie selbst trug verschiedene Namen wie Megisto⁴⁷⁴, die «Größte», oder Themisto⁴⁷⁵, eine Form von Themis. Zeus hatte sie verführt, nach einem Komödiendichter in der Gestalt der Artemis selbst⁴⁷⁶. In alten Geschichten hatte ja Artemis noch die Gestalt der Bärin gehabt, und Zeus vereinigte sich als Bär mit Kallisto. Ursprünglich war es eine Tierhochzeit. So wurde sie auch geschildert⁴⁷⁷: In Tiergestalt bestieg Kallisto das Bett des Zeus. Nach den späteren Versionen entdeckte Artemis beim Baden die Schwangerschaft der Gefährtin und verwandelte sie aus Zorn in eine Bärin. Die Göttin soll die Sünderin auch getötet haben. Doch gelangte Kallisto schließlich als «Großer Bär» an den Himmel⁴⁷⁸, nachdem sie Zeus einen Sohn geboren hatte, der zum Stammvater der Bewohner von Arkadien werden sollte. Sein Name, Arkas, hängt mit Bär, arktos, zusammen. Es hieß auch⁴⁷⁹, daß Kallisto Zwillinge auf die Welt brachte: Arkas und Pan, den bocksfüßigen Gott derselben Landschaft, zu deren Wildheit und dem altertümlichen Charakter ihrer Bewohner solche Götter und solche Ahnen paßten.
S.143f
470 Callimachus: Hymnus in Dianam 14
471 Antoninus Liberalis Mythographus 17.5
472 Callimachus: Lavacrum Palladis 110; Ovidius: Metamorphoses 3.143; Hygini Fabulae 180; Apollodorus Mythographus 3.4.4; Pausanias: Periegeta 9.2.3
473 Apollodorus Mythographus 3.8.2
474 Hygini Astronomica 2.1
475 Stephanus Byzantius Lexicographus: 'Arkas'
476 Ovidius: Metamorphoses 2.409; Fasti 2.155
477 Euripides: Hecuba 375
478 Eratosthenes: Catasterismi 1
479 scholium in Euripides: Rhesus 36
S.276
aus KERÉNYI, K.: «Die Mythologie der Griechen»
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWlex004130042b.htm