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Gedichtsammlung |
Schwanenlied |
Wenn die Augen brechen, |
Wenn die Lippen nicht mehr sprechen, |
Wenn das pochende Herz sich stillet |
Und der warme Blutstrom nicht mehr quillet: |
O, dann sinkt der Traum zum Spiegel nieder, |
Und hör' der Engel Lieder wieder, |
Die das Leben mir vorübertrugen, |
Die so selig mit den Flügeln schlugen |
Aus Geläut' der keuschen Maiesglocken, |
Daß sie all' die Vöglein in den Tempel locken, |
Die so süße, wildentbrannte Psalmen sangen, |
Daß die Liebe und die Lust so brünstig rangen, |
Bis das Leben war gefangen und empfangen; |
Bis die Blumen blühten; |
Bis die Früchte glühten |
Und gereift zum Schoß der Erde fielen, |
Rund und bunt zum Spielen; |
Bis die goldnen Blätter an der Erde rauschten |
Und die Wintersterne sinnend lauschten, |
Wo der stürmende Sämann hin sie säet, |
Daß ein neuer Frühling schön erstehet. |
Stille wird's, es glänzt der Schnee am Hügel, |
Und ich kühl' im Silberreif den schwülen Flügel, |
Möcht' ihn hin nach neuem Frühling zücken, |
Da erstarret mich ein kalt Entzücken - |
Es erfriert mein Herz, ein See voll Wonne, |
Auf ihm gleitet still der Mond und sanft die Sonne, |
Unter den sinnenden, denkenden, klugen Sternen |
Schau' ich mein Sternbild an in Himmelsfernen; |
Alle Leiden sind Freuden, alle Schmerzen scherzen, |
Und das ganze Leben singt aus meinem Herzen: |
Süßer Tod, süßer Tod |
Zwischen dem Morgen- und Abendrot! |
Clemens Brentano |
aus «Brentanos Werke - Erster Band»; S.107f |
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revid.202210 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00174.htm |