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| Gedichtsammlung |
| Morgenstunde |
| Grau und blau getürmtes Schattenland |
| Ruht mit zackigem Gebirgesrand |
| Dunkelhart vor lichtem Himmelsgrün, |
| Ruht so ernst, so würdig, ruht so kühn |
| Wie ein Krieger nach bestandener Schlacht. |
| Wald und Schluchten hangen tief voll Nacht, |
| Schläfrig dämmern Dörfer, niedrig, mager, |
| Schafen gleich auf harten Heide Lager, |
| Tausendjährig, greis, doch kinderjung |
| In des alten Bergs Erinnerung, |
| Der sie gestern erst erbaun gesehen, |
| Der sie sinken sehn wird und vergehen, |
| Er, den einst das wilde Erdenweib |
| Glühend stieß aus schmerzgekrümmtem Leib, |
| Ehe Wälder, Schluchten, Dörfer waren. |
| Alles weiß er, der so viel erfahren, |
| Listig blinzelt er aus scharfer Scharte, |
| Daß Vergehn und Tod auch ihn erwarte, |
| Das zu spüren noch nicht steif und kalt genug, |
| Das zu denken noch nicht reif und alt genug. |
| Gähnend reckt er sich dem Licht entgegen, |
| Das den Himmel satt und immer satter tränkt, |
| Tief in seinen Schattenklüften regen |
| Sich die Wasser, die er seewärts lenkt. |
| Gipfel trägt und Grat er schneebedeckt, |
| Doch von Felsenstürzen grau gefleckt, |
| Sie erwarten schweigend und getrosten |
| Mutes ihren Morgenruf aus Osten. |
| Und der Ruf erdröhnt: lautlos, nur Licht! |
| Auf der höchsten Firnenkante bricht |
| Feuerfarbene Glut aus wie von innen, |
| Es erglühn, erstrahlen alle Zinnen |
| Rot und golden, königlich entfacht. |
| Aufhorcht froh erschrocken und erwacht |
| Berg und Tal und See. Der Traum zerrinnt, |
| Der sie niederhielt. Der Tag beginnt. |
| Hermann Hesse, Feb.1959 |
| aus «Die späten Gedichte»; S.34f |
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| revid.202207 |
| https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00168.htm |