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| Gedichtsammlung |
| Marienlieder |
| I |
| Wer einmal, Mutter, dich erblickt, |
| Wird vom Verderben nie bestrickt. |
| Trennung von dir muß ihn betrüben, |
| Ewig wird er dich brünstig lieben, |
| Und deiner Huld Erinnerung |
| Bleibt fortan seines Geistes höchster Schwung. |
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| Ich mein es herzlich gut mit dir. |
| Was mir gebricht, siehst du in mir. |
| Laß, süße Mutter, dich erweichen, |
| Einmal gib mir frohes Zeichen. |
| Mein ganzes Dasein ruht in dir, |
| Nur einen Augenblick sei du bei mir. |
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| Oft, wenn ich träumte, sah ich dich, |
| So schön, so herzensinniglich. |
| Der kleine Gott auf deinen Armen |
| Wollt des Gespielen sich erbarmen; |
| Du aber hobst den hehren Blick |
| Und gingst in tiefe Wolkenpracht zurück. |
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| Was hab ich, Armer, dir getan? |
| Noch bet ich dich voll Sehnsucht an. |
| Sind deine heiligen Kapellen |
| Nicht meines Lebens Ruhestellen? |
| Gebenedeite Königin, |
| Nimm dieses Herz mit diesem Leben hin. |
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| Du weißt, geliebte Königin, |
| Wie ich so ganz dein eigen bin. |
| Hab ich nicht schon seit langen Jahren |
| Im stillen seine Huld erfahren? |
| Als ich kaum meiner noch bewußt, |
| Sog ich schon Milch aus deiner selgen Brust. |
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| Unzähligmal standst du bei mir, |
| Mit Kindeslust sah ich nach dir, |
| Dein Kindlein gab mir seine Hände, |
| Daß es dereinst mich wiederfände; |
| Du lächeltest voll Zärtlichkeit |
| Und küßtest mich, o himmelsüße
Zeit! |
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| Fern steht nun diese selge Welt, |
| Gram hat sich längst zu mir gesellt, |
| Betrübt bin ich umhergegangen, |
| Hab ich mich denn so schwer vergangen? |
| Kindlich berühr ich deinen Saum, |
| Erwecke mich aus diesem schweren Traum. |
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| Darf nur ein Kind dein Antlitz schaun |
| Und deinem Beistand fest vertraun, |
| So löse doch des Alters Binde |
| Und mach mich zu deinem Kinde. |
| Die Kindeslieb und Kindestreu |
| Wohnt mir von jener goldnen Zeit noch bei. |
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| II |
| Ich sehe dich in tausend Bildern, |
| Maria, lieblich ausgedrückt, |
| Doch keins von allen kann dich schildern, |
| Wie meine Seele dich erblickt. |
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| Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel |
| Seitdem mir wie ein Traum verweht |
| Und ein unnennbar süßer Himmel |
| Mir ewig im Gemüte steht. |
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| Novalis |
| aus «Gesammelte
Werke - Erster Band»; S.50ff |
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| revid.202206 |
| https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00165.htm |