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| Gedichtsammlung |
| Von der Hochzeit zu Kana |
| Konnte sie denn anders, als auf ihn |
| stolz sein, der ihr Schlichtestes verschönte? |
| War nicht selbst die hohe, großgewöhnte |
| Nacht wie außer sich, da er erschien? |
| Ging nicht auch, daß er sich einst verloren, |
| unerhört zu seiner Glorie aus? |
| Hatten nicht die Weisesten die Ohren |
| mit dem Mund vertauscht? Und war das Haus |
| nicht wie neu von seiner Stimme? Ach |
| sicher hatte sie zu hundert Malen |
| ihre Freude an ihm auszustrahlen |
| sich verwehrt. Sie ging ihm staunend nach. |
| Aber da bei jenem Hochzeitsfeste, |
| als es unversehns an Wein gebrach - |
| sah sie hin und bat um eine Geste |
| und begriff nicht, daß er widersprach. |
| Und dann tat er's. Sie verstand es später, |
| wie sie ihn in seinen Weg gedrängt: |
| denn jetzt war er wirklich Wundertäter, |
| und das ganze Opfer war verhängt, |
| unaufhaltsam. Ja, es stand geschrieben. |
| Aber war es damals schon bereit? |
| Sie: sie hatte es herbeigetrieben |
| in der Blindheit ihrer Eitelkeit. |
| An dem Tisch voll Früchten und Gemüsen |
| freute sie sich mit und sah nicht ein, |
| daß das Wasser ihrer Tränendrüsen |
| Blut geworden war mit diesem Wein. |
| Rainer Maria Rilke |
| aus «Das Marien-Leben»; S.220f |
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| revid.201509 |
| https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00094.htm |