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Gedichtsammlung |
Vater unser.¹ |
Fragment. |
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Hör' uns, Gott, wenn wir rufen! |
Wir alle deine Kinder! |
Eingehüllt im Mantel deiner Liebe, |
Hingelagert zu den Füßen deiner Macht, |
Angeschmiegt an deine Vaterbrust, |
Wir alle deine Kinder: |
Vater unser! |
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Ob wir gleich Staub sind und Spreu, |
Gestern geboren, morgen tot, |
Ein Nichts im All, das Nichts war, eh' du riefst; |
Ob unsre Erde gleich, die groß uns dünkt, |
Ein Sandkorn ist im Unermeßlichen |
Das du hinwegbläst, wenn's dir wohlgefällt, |
Wie man den Staub vom Tische bläst; |
Und du der Mächt'ge bist ob allen Mächt'gen, |
Und über den Gewalt'gen der Gewalt'ge, |
Der Herr der Herrn, so hoch ob aller Höhe, |
Daß der Gedanke selber, der dich sucht, |
Auf halbem Wege schwindelnd, rückwärts kehrt: |
Doch siehst du uns, doch hörst du uns, |
Von deiner Allmacht hochgestelltem Thron, |
Doch sorgst du, hilfst du, Großer, Mächt'ger,
Hoher, |
Der du bist im Himmel! |
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Wag' ich es, dich auszusprechen? |
Bin ich es wert, dich zu nennen? |
Das kleinste von den Werken deiner Hand? |
Hohes beuge sich und Höchstes; |
Ehre sei dir und nur dir allein, |
Allgütiger, Allweiser; |
Offenkund'ger, Geheimnisvoller, |
Uranfang, ohn' Ende, |
Schöpfer, Beschützer, Erhalter! |
In stumme Ehrfurcht |
Sinke hin der Erdkreis, |
Geheiliget werde dein Name! |
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Wohl hast du die Erde schön gemacht, |
Und ich danke dir drum, mein Herr und Vater. |
Blumen sind da und Früchte, Quellen und Bäume, |
Frühlingslust und Sommerfreude, alles aufs beste; |
Auch gute Menschen, die dir dienen und recht tun. |
Aber ich kenne doch was Schönres, mein Herr und
Vater, |
Und, als hätt' ich's gesehn einmal in früh'rer
Zeit, |
Schwebt es mir vor in meinen besten Tagen; |
Ein Land, wo dieser Körper nichts begehrt, |
Und wenn es nichts gewährt, auch nichts versagt; |
Wo der Gedanke Wille ist, |
Und Wille ist die Tat; |
Die Tat im Wollen und im Denken schon; |
Das Land, wo unsrer Sonne gleich das Recht, |
Und wie der Mond die Pflicht den Tag und Nächten
leuchtet; |
Wo das Gefühl nicht blind |
Und der Verstand nicht taub ist allzumal; |
Dort möcht' ich sein, mein Herr und Vater, |
Bei dir, in deiner Nähe; |
Und darum, Herr, o höre! |
Zu uns komme dein Reich! |
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Ich bin kurzsichtig und schwach, |
Kaum das Nächste erreicht mein Blick; |
Der Zukunft Ferne ist mir verschlossen: |
Was gut gemacht schien, zeigte sich schädlich, |
Und wo Gefahr ich sah, erschien mir Gutes. |
Auch hab' ich das Schlimme wohl gar gewollt, |
Ja, das Schlimme gewollt, mein Herr und Vater! |
Der mir der Nächste war, ich hab' ihn gekränkt, |
Bekümmert hab' ich, die mich liebten, |
Den Zorn ließ ich walten ob meinem Tun; |
Des Fremden Weh war nicht immer mein eignes. |
Hab' ich immer gelohnt dem, der Gutes mir tat? |
Immer getan, was als Bestes sich zeigte? |
Vater! wohl gar das Schlimme hab' ich getan, |
Kurzsichtig, wie ich war, und schwach; |
Daher walte du ob mir und meinem Tun, |
Führe mich, leite mich, |
Und nicht der meine, Herr, |
Dein Wille geschehe! |
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Wenn wir all' uns liebten hienieden, |
Wie du uns liebst, mein Herr und Vater, |
Wenn der Mensch den Menschen säh' im Freunde, |
Und auch in seinem Feinde nur den Menschen, |
Dann wäre nicht bloß oben dort dein Reich, |
Auch unter uns wär' es, auch hier, hienieden, |
Und der Liebe Machtgebot geschäh' |
Wie im Himmel, also auch auf Erden! |
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Franz Grillparzer (1821) |
¹ Als Text zu J. Führichs
Zeichnungen bestimmt. |
aus «Grillparzers
Werke 1»; S.42ff |
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revid.201501 |
https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00087.htm |