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oser la rose |
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Die Geheimnisse |
Ein Fragment |
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1 |
Ein wunderbares Lied ist euch bereitet: |
Vernehmt es gern und jeden ruft herbei! |
Durch Berg' und Täler ist der Weg geleitet; |
Hier ist der Blick beschränkt, dort wieder frei, |
Und wenn der Pfad sacht in die Büsche gleitet, |
So denket nicht, daß es ein Irrtum sei; |
Wir wollen doch, wenn wir genug geklommen, |
Zur rechten Zeit dem Ziele näherkommen. |
2 |
Doch glaube keiner, daß mit allem Sinnen |
Das ganze Lied er je enträtseln werde: |
Gar viele müssen vieles hier gewinnen, |
Gar manche Blüten bringt die Mutter Erde; |
Der eine flieht mit düsterm Blick von hinnen, |
Der andre weilt mit fröhlicher Gebärde: |
Ein jeder soll nach seiner Lust genießen, |
Für manchen Wandrer soll die Quelle fließen. |
3 |
Ermüdet von des Tages langer Reise, |
Die auf erhabnen Antrieb er getan, |
An einem Stab nach frommer Wandrer Weise |
Kam Bruder Markus, außer Steg und Bahn, |
Verlangend nach geringem Trank und Speise, |
In einem Tal am schönen Abend an, |
Voll Hoffnung, in den waldbewachsnen Gründen |
Ein gastfrei Dach für diese Nacht zu finden. |
4 |
Am steilen Berge, der nun vor ihm stehet, |
Glaubt er die Spuren eines Wegs zu sehn, |
Er folgt dem Pfade, der in Krümmen gehet, |
Und muß sich steigend um die Felsen drehn; |
Bald sieht er sich hoch über's Tal erhöhet, |
Die Sonne scheint ihm wieder freundlich schön, |
Und bald sieht er mit innigem Vergnügen |
Den Gipfel nah vor seinen Augen liegen. |
5 |
Und nebenhin die Sonne, die im Neigen |
Noch prachtvoll zwischen dunkeln Wolken thront; |
Er sammelt Kraft, die Höhe zu ersteigen, |
Dort hofft er seine Mühe bald belohnt. |
Nun, spricht er zu sich selbst, nun muß sich
zeigen, |
Ob etwas Menschlichs in der Nähe wohnt! |
Er steigt und horcht und ist wie neu geboren: |
Ein Glockenklang erschallt in seinen Ohren. |
6 |
Und wie er nun den Gipfel ganz erstiegen, |
Sieht er ein nahes, sanft geschwungnes Tal. |
Sein stilles Auge leuchtet von Vergnügen; |
Denn vor dem Walde sieht er auf einmal |
In grüner Au ein schön Gebäude liegen. |
So eben trifft's der letzte Sonnenstrahl: |
Er eilt durch Wiesen, die der Tau befeuchtet, |
Dem Kloster zu, das ihm entgegen leuchtet. |
7 |
Schon sieht er dicht sich vor dem stillen Orte, |
Der seinen Geist mit Ruh und Hoffnung füllt, |
Und auf dem Bogen der geschlossnen Pforte |
Erblickt er ein geheimnisvolles Bild. |
Er steht und sinnt und lispelt leise Worte |
Der Andacht, die in seinem Herzen quillt, |
Er steht und sinnt: Was hat das zu bedeuten? |
Die Sonne sinkt und es verklingt das Läuten. |
8 |
Das Zeichen sieht er prächtig aufgerichtet, |
Das aller Welt zu Trost und Hoffnung steht, |
Zu dem viel tausend Geister sich verpflichtet, |
Zu dem viel tausend Herzen warm gefleht, |
Das die Gewalt des bittern Tod vernichtet, |
Das in so mancher Siegesfahne weht: |
Ein Labequell durchdringt die matten Glieder, |
Er sieht das Kreuz, und schlägt die Augen nieder. |
9 |
Er fühlet neu, was dort für Heil entsprungen, |
Den Glauben fühlt er einer halben Welt; |
Doch von ganz neuem Sinn wird er durchdrungen, |
Wie sich das Bild ihm hier vor Augen stellt: |
Es steht das Kreuz mit Rosen dicht umschlungen. |
Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt? |
Es schwillt der Kranz, um recht von allen Seiten |
Das schroffe Holz mit Weichheit zu begleiten. |
10 |
Und leichte Silber-Himmelswolken schweben, |
Mit Kreuz und Rosen sich empor zu schwingen. |
Und aus der Mitte quillt ein heilig Leben |
Dreifacher Strahlen, die aus einem Punkte dringen; |
Von keinen Worten ist das Bild umgeben, |
Die dem Geheimnis Sinn und Klarheit bringen. |
Im Dämmerschein, der immer tiefer grauet, |
Steht er und sinnt und fühlet sich erbauet. |
11 |
Er klopft zuletzt, als schon die hohen Sterne |
Ihr helles Auge zu ihm nieder wenden. |
Das Tor geht auf und man empfängt ihn gerne |
Mit offnen Armen, mit bereiten Händen. |
Er sagt, woher er sei, von welcher Ferne |
Ihn die Befehle höh'rer Wesen senden. |
Man horcht und staunt. Wie man den Unbekannten |
Als Gast geehrt, ehrt nun man den Gesandten. |
12 |
Ein jeder drängt sich zu, um auch zu hören, |
Und ist bewegt von heimlicher Gewalt, |
Kein Odem wagt den seltnen Gast zu stören, |
Da jedes Wort im Herzen widerhallt. |
Was er erzählet, wirkt wie tiefe Lehren |
Der Weisheit, die von Kinderlippen schallt: |
An Offenheit, an Unschuld der Gebärde |
Scheint er ein Mensch von einer andern Erde. |
13 |
Willkommen, ruft zuletzt ein Greis, willkommen, |
Wenn deine Sendung Trost und Hoffnung trägt! |
Du siehst uns an; wir alle stehn beklommen, |
Obgleich dein Anblick unsre Seele regt: |
Das schönste Glück, ach! wird uns weggenommen, |
Von Sorgen sind wir und von Furcht bewegt. |
Zur wicht'gen Stunde nehmen unsre Mauern |
Dich Fremden auf, um auch mit uns zu trauern: |
14 |
Denn, ach, der Mann, der alle hier verbündet, |
Den wir als Vater, Freund und Führer kennen, |
Der Licht und Mut dem Leben angezündet, |
In wenig Zeit wird er sich von uns trennen, |
Er hat es erst vor kurzem selbst verkündet; |
Doch will er weder Art noch Stunde nennen: |
Und so ist uns sein ganz gewisses Scheiden |
Geheimnisvoll und voller bittren Leiden. |
15 |
Du siehest alle hier mit grauen Haaren, |
Wie die Natur uns selbst zur Ruhe wies: |
Wir nahmen keinen auf, den, jung an Jahren, |
Sein Herz zu früh der Welt entsagen hieß. |
Nachdem wir Lebens Lust und Last erfahren, |
Der Wind nicht mehr in unsre Segel blies, |
War uns erlaubt, mit Ehren hier zu landen, |
Getrost, daß wir den sichern Hafen fanden. |
16 |
Dem edlen Manne, der uns hergeleitet, |
Wohnt Friede Gottes in der Brust; |
Ich hab' ihn auf des Lebens Pfad begleitet, |
Und bin mir alter Zeiten wohl bewußt; |
Die Stunden, da er einsam sich bereitet, |
Verkünden uns den nahenden Verlust. |
Was ist der Mensch, warum kann er sein Leben |
Umsonst, und nicht für einen Bessern geben? |
17 |
Dies wäre nun mein einziges Verlangen: |
Warum muß ich des Wunsches mich entschlagen? |
Wie viele sind schon vor mir hingegangen! |
Nur ihn muß ich am bittersten beklagen. |
Wie hätt' er sonst so freundlich dich empfangen! |
Allein er hat das Haus uns übertragen; |
Zwar keinen noch zum Folger sich ernennet, |
Doch lebt er schon im Geist von uns getrennet. |
18 |
Und kommt nur täglich eine kleine Stunde, |
Erzählet, und ist mehr als sonst gerührt: |
Wir hören dann aus seinem eignen Munde, |
Wie wunderbar die Vorsicht ihn geführt; |
Wir merken auf, damit die sichre Kunde |
Im kleinsten auch die Nachwelt nicht verliert; |
Auch sorgen wir, daß einer fleißig schreibe, |
Und sein Gedächtnis rein und wahrhaft bleibe. |
19 |
Zwar vieles wollt' ich lieber selbst erzählen, |
Als ich jetzt nur zu hören stille bin: |
Der kleinste Umstand sollte mir nicht fehlen, |
Noch hab' ich alles lebhaft in dem Sinn; |
Ich höre zu und kann es kaum verhehlen, |
Daß ich nicht stets damit zufrieden bin: |
Sprech' ich einmal von allen diesen Dingen, |
Sie sollen prächtiger aus meinem Munde klingen. |
20 |
Als dritter Mann erzählt' ich mehr und freier, |
Wie ihn ein Geist der Mutter früh verhieß, |
Und wie ein Stern bei seiner Taufe Feier |
Sich glänzender am Abendhimmel wies, |
Und wie mit weiten Fittichen ein Geier |
Im Hofe sich bei Tauben niederließ; |
Nicht grimmig stoßend und wie sonst zu schaden, |
Er schien sie sanft zur Einigkeit zu laden. |
21 |
Dann hat er uns bescheidentlich verschwiegen, |
Wie er als Kind die Otter überwand, |
Die er um seiner Schwester Arm sich schmiegen, |
Um die Entschlafne fest gewunden fand. |
Die Amme floh und ließ den Säugling liegen; |
Er drosselte den Wurm mit sichrer Hand: |
Die Mutter kam und sah mit Freudebeben |
Des Sohnes Taten und der Tochter Leben. |
22 |
Und so verschwieg er auch, daß eine Quelle |
Vor seinem Schwert aus trocknem Felsen sprang, |
Stark wie ein Bach, sich mit bewegter Welle |
Den Berg hinab bis in die Tiefe schlang: |
Noch quillt sie fort so rasch, so silberhelle, |
Als sie zuerst sich ihm entgegen drang, |
Und die Gefährten, die das Wunder schauten, |
Den heißen Durst zu stillen kaum getrauten. |
23 |
Wenn einen Menschen die Natur erhoben, |
Ist es kein Wunder, wenn ihm viel gelingt; |
Man muß in ihm die Macht des Schöpfers loben, |
Der schwachen Ton zu solcher Ehre bringt; |
Doch wenn ein Mann von allen Lebensproben |
Die sauerste besteht, sich selbst bezwingt, |
Dann kann man ihn mit Freuden andren zeigen |
Und sagen: Das ist er, das ist sein eigen! |
24 |
Denn alle Kraft dringt vorwärts in die Weite, |
Zu leben und zu wirken hier und dort; |
Dagegen engt und hemmt von jeder Seite |
Der Strom der Welt und reißt uns mit sich fort: |
In diesem innern Sturm und äußern Streite |
Vernimmt der Geist ein schwer verstanden Wort: |
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, |
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet. |
25 |
Wie frühe war es, daß sein Herz ihn lehrte, |
Was ich bei ihm kaum Tugend nennen darf; |
Daß er des Vaters strenges Wort verehrte, |
Und willig war, wenn jener rauh und scharf |
Der Jugend freie Zeit mit Dienst beschwerte, |
Dem sich der Sohn mit Freuden unterwarf, |
Wie, elternlos und irrend, wohl ein Knabe |
Aus Not es tut um eine kleine Gabe. |
26 |
Die Streiter mußt' er in das Feld begleiten, |
Zuerst zu Fuß bei Sturm und Sonnenschein, |
Die Pferde warten und den Tisch bereiten |
Und jedem alten Krieger dienstbar sein. |
Gern und geschwind lief er zu allen Zeiten |
Bei Tag und Nacht als Bote durch den Hain; |
Und so gewohnt für andre nur zu leben, |
Schien Mühe nur ihm Fröhlichkeit zu geben. |
27 |
Wie er im Streit mit kühnem muntern Wesen |
Die Pfeile las, die er am Boden fand, |
Eilt' er hernach die Kräuter selbst zu lesen, |
Mit denen er Verwundete verband: |
Was er berührte, mußte gleich genesen, |
Es freute sich der Kranke seiner Hand: |
Wer wollt' ihn nicht mit Fröhlichkeit betrachten! |
Und nur der Vater schien sein nicht zu achten. |
28 |
Leicht, wie ein segelnd Schiff, das keine Schwere |
Der Ladung fühlt und eilt von Port zu Port, |
Trug er die Last der elterlichen Lehre; |
Gehorsam war ihr erst- und letztes Wort; |
Und wie den Knaben Lust, den Jüngling Ehre, |
So zog ihn nur der fremde Wille fort. |
Der Vater sann umsonst auf neue Proben, |
Und wenn er fordern wollte, mußt' er loben. |
29 |
Zuletzt gab sich auch dieser überwunden, |
Bekannte tätig seines Sohnes Wert; |
Die Rauhigkeit des Alten war verschwunden, |
Er schenkt' auf einmal ihm ein köstlich Pferd; |
Der Jüngling ward vom kleinen Dienst entbunden, |
Er führte statt des kurzen Dolchs ein Schwert: |
Und so trat er geprüft in einen Orden, |
Zu dem er durch Geburt berechtigt worden. |
30 |
So könnt' ich dir noch tagelang berichten, |
Was jeden Hörer in Erstaunen setzt; |
Sein Leben wird den köstlichsten Geschichten |
Gewiß dereinst von Enkeln gleichgesetzt; |
Was dem Gemüt in Fabeln und Gedichten |
Unglaublich scheint und es doch hoch ergötzt, |
Vernimmt es hier und mag sich gern bequemen, |
Zwiefach erfreut für wahr es anzunehmen. |
31 |
Und fragst du mich, wie der Erwählte heiße, |
Den sich das Aug' der Vorsicht ausersah? |
Den ich zwar oft, doch nie genugsam preise, |
An dem so viel Unglaubliches geschah? |
Humanus heißt der Heilige, der Weise, |
Der beste Mann, den ich mit Augen sah: |
Und sein Geschlecht, wie es die Fürsten nennen, |
Sollst du zugleich mit seinen Ahnen kennen. |
32 |
Der Alte sprach's und hätte mehr gesprochen, |
Denn er war ganz der Wunderdinge voll, |
Und wir ergötzen uns noch manche Wochen |
An allem, was er uns erzählen soll. |
Doch eben ward sein Reden unterbrochen, |
Als gegen seinen Gast das Herz am stärksten quoll. |
Die andern Brüder gingen bald und kamen, |
Bis sie das Wort ihm von dem Munde nahmen. |
33 |
Und da nun Markus nach genoßnem Mahle |
Dem Herrn und seinen Wirten sich geneigt, |
Erbat er sich noch eine reine Schale |
Voll Wasser, und auch die ward ihm gereicht. |
Dann führten sie ihn zu dem großen Saale, |
Worin sich ihm ein seltner Anblick zeigt. |
Was er dort sah, soll nicht verborgen bleiben, |
Ich will es euch gewissenhaft beschreiben. |
34 |
Kein Schmuck war hier, die Augen zu verblenden, |
Ein kühnes Kreuzgewölbe stieg empor, |
Und dreizehn Stühle sah er an den Wänden |
Umher geordnet, wie im frommen Chor, |
Gar zierlich ausgeschnitzt von klugen Händen; |
Es stand ein kleiner Pult an jedem vor. |
Man fühlte hier der Andacht sich ergeben |
Und Lebensruh und ein gesellig Leben. |
35 |
Zu Häupten sah er dreizehn Schilde hangen, |
Denn jedem Stuhl war eines zugezählt. |
Sie schienen hier nicht ahnenstolz zu prangen, |
Ein jedes schien bedeutend und gewählt. |
Und Bruder Markus brannte vor Verlangen |
Zu wissen, was so manches Bild verhehlt; |
Im mittelsten erblickt er jenes Zeichen |
Zum zweitenmal, ein Kreuz mit Rosenzweigen. |
36 |
Die Seele kann sich hier gar vieles bilden, |
Ein Gegenstand zieht von dem andren fort; |
Und Helme hängen über manchen Schilden, |
Auch Schwert und Lanze sieht man hier und dort; |
Die Waffen, wie man sie von Schlachtgefilden |
Auflesen kann, verzieren diesen Ort: |
Hier Fahnen und Gewehre fremder Lande, |
Und, seh' ich recht, auch Ketten dort und Bande! |
37 |
Ein jeder sinkt vor seinem Stuhle nieder, |
Schlägt auf die Brust in still Gebet gekehrt; |
Von ihren Lippen tönen kurze Lieder, |
In denen sich andächt'ge Freude nährt; |
Dann segnen sich die treu verbundnen Brüder |
Zum kurzen Schlaf, den Phantasie nicht stört: |
Nur Bruder Markus bleibt, indem die andren gehen, |
Mit einigen im Saale schauend stehen. |
38 |
So müd' er ist, wünscht er noch fort zu wachen, |
Denn kräftig reizt ihn manch und manches Bild: |
Hier sieht er einen feuerfarbnen Drachen, |
Der seinen Durst in wilden Flammen stillt; |
Hier einen Arm in eines Bären Rachen, |
Von dem das Blut in heißen Strömen quillt; |
Die beiden Schilder hingen, gleicher Weite, |
Beim Rosenkreuz zur recht' und linken Seite. |
39
[a] |
Wohin er auch die Blicke kehrt und wendet, |
Je mehr erstaunt er über Kunst und Pracht, |
Mit Vorsatz scheint der Reichtum hier verschwendet, |
Es scheint, als habe sich nur alles selbst gemacht. |
Soll er sich wundern, daß das Werk vollendet? |
Soll er sich wundern, daß es so erdacht? |
Ihn dünkt, als fang' er erst, mit himmlischem
Entzücken, |
Zu leben an in diesen Augenblicken. |
40 |
Du kommst hierher auf wunderbaren Pfaden, |
Spricht ihn der Alte wieder freundlich an; |
Laß diese Bilder dich zu bleiben laden, |
Bis du erfährst, was mancher Held getan; |
Was hier verborgen, ist nicht zu erraten, |
Man zeige denn es dir vertraulich an; |
Du ahnest wohl, wie manches hier gelitten, |
Gelebt, verloren ward, und was erstritten. |
41 |
Doch glaube nicht, daß nur von alten Zeiten |
Der Greis erzählt, hier geht noch manches vor; |
Das, was du siehst, will mehr und mehr bedeuten; |
Ein Teppich deckt es bald und bald ein Flor. |
Beliebt es dir, so magst du dich bereiten: |
Du kamst, o Freund, nur erst durch's erste Tor; |
Im Vorhof bist du freundlich aufgenommen, |
Und scheinst mir wert ins Innerste zu kommen. |
42 |
Nach kurzem Schlaf in einer stillen Zelle |
Weckt unsern Freund ein dumpfer Glockenton. |
Er rafft sich auf mit unverdroß'ner Schnelle, |
Dem Ruf der Andacht folgt der Himmelssohn. |
Geschwind bekleidet, eilt er nach der Schwelle, |
Es eilt sein Herz voraus zur Kirche schon |
Gehorsam, ruhig, durch Gebet beflügelt; |
Er klinkt am Schloß und findet es verriegelt. |
43 |
Und wie er horcht, so wird in gleichen Zeiten |
Dreimal ein Schlag auf hohles Erz erneut, |
Nicht Schlag der Uhr und auch nicht Glockenläuten, |
Ein Flötenton mischt sich von Zeit zu Zeit; |
Der Schall, der seltsam ist und schwer zu deuten, |
Bewegt sich so, daß er das Herz erfreut, |
Einladend ernst, als wenn sich mit Gesängen |
Zufriedne Paare durcheinander schlängen. |
44 |
Er eilt ans Fenster, dort vielleicht zu schauen, |
Was ihn verwirrt und wunderbar ergreift; |
Er sieht den Tag im fernen Osten grauen, |
Den Horizont mit leichtem Duft gestreift. |
Und - soll er wirklich seinen Augen trauen? - |
Ein seltsam Licht, das durch den Garten schweift: |
Drei Jünglinge mit Fackeln in den Händen |
Sieht er sich eilend durch die Gänge wenden. |
45 |
Er sieht genau die weißen Kleider glänzen, |
Die ihnen knapp und wohl am Leibe stehn, |
Ihr lockig Haar kann er mit Blumenkränzen, |
Mit Rosen ihren Gurt umwunden sehn; |
Es scheint, als kämen sie von nächt'gen Tänzen, |
Von froher Mühe recht erquickt und schön. |
Sie eilen nun und löschen, wie die Sterne, |
Die Fackeln aus und schwinden in die Ferne. |
|
Johann Wolfgang v.Goethe |
aus «Werke
Band 1»; S.359ff |
|
a] In den meisten Goethe-Ausgaben fehlt Strophe 39,
sodass nur 44 Strophen gezählt werden. Nach einer Goethe-Handschrift
war sie jedoch für dieses Gedicht in Aussicht genommen (siehe «Goethes
Werk, Weimarer Ausgabe, Bd.16»; S.436). |
Siehe zu allem auch Goethes eigene Ansicht zum Fragment |
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revid.201701 |
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