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| Gedichtsammlung |
| Jud' und Christ |
| NATHAN. |
| Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun. |
| Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage |
| Zuvor, in Gath die Christen alle Juden |
| Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt |
| Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau |
| Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich |
| Befunden, die in meines Bruders Hause, |
| Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt |
| Verbrennen müssen. |
| KLOSTERBRUDER. |
| Allgerechter! |
| NATHAN. |
| Als |
| Ihr kamt, hatt' ich drey Tag'und Nächt' in Asch' |
| Und Staub vor Gott gelegen und geweint. - |
| Geweint? Beyher mit Gott auch wohl gerechtet, |
| Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; |
| Der Christenheit den unversöhnlichsten |
| Haß zugeschworen - |
| KLOSTERBRUDER. |
| Ach! Ich glaubs Euch wohl! |
| NATHAN. |
| Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. |
| Sie sprach mit sanfter Stimm': „und doch ist Gott! |
| Doch war auch Gottes Rathschluß das! Wohlan! |
| Komm! übe, was du längst begriffen hast; |
| Was sicherlich zu üben schwerer nicht, |
| Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. |
| Steh auf!” - Ich stand! und rief zu Gott: ich will! |
| Willst du nur, daß ich will! - Indem stiegt Ihr |
| Vom Pferd', und überreichtet mir das Kind |
| In Euern Mantel eingehüllt. - Was Ihr |
| Mir damals sagtet; was ich Euch: hab' ich |
| Vergessen. So viel weiß ich nur, ich nahm |
| Das Kind, trug's auf mein Lager, küßt' es, warf |
| Mich auf die Knie' und schluchzte: Gott! auf Sieben |
| Doch nun schon eines wieder! |
| KLOSTERBRUDER. |
| Nathan! Nathan! |
| Ihr seyd ein Christ! - Bey Gott, Ihr seyd ein Christ! |
| Ein beßrer Christ war nie! |
| NATHAN. |
| Wohl uns! Denn was |
| Mich Euch zum Christen macht, das macht Euch mir |
| Zum Juden! - [...] |
| Gotthold Ephraim Lessing |
| aus «Nathan der Weise»; S.202ff |
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| revid.201212 |
| https://wfgw.diemorgengab.at/zit/WfGWged00063.htm |